Städtepartnerschaften
Wo Freundschaft wächst, sind Frieden und Freiheit zuhause
29. September 2024
Zwischen den ziemlich besten Freunden im westlichen Europa herrscht politisch eine immer deutlicher werdende Distanz. Dabei bräuchten wir, bräuchte Europa viel mehr vom Gegenteil: Nähe, Verständnis, Kooperation, Freundschaft. Da kann „die Politik“ von „der Basis“ eine Menge lernen.
Europa aktuell: Die frisch gewählte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, einst von Präsident Emmanuel Macron ins Amt befördert, „mobbt“ den noch im Juni 2024 erneut von Macron vorgeschlagenen Industriekommissar Thierry Breton aus ihrem nächsten „Europa-Kabinett“ – aus welchen Gründen auch immer, aber auch, weil er ein Mann ist. Und was macht Macron? Er beruft wieder einen Mann: den noch amtierenden Außenminister Frankreichs Stéphane Séjourné. Der politische Laie staunt, der Profi schüttelt den Kopf.
Deutsch-französische „entente cordiale“?
Wer sich noch daran erinnert, wie Präsident Emmanuel Macron bei seinem Besuch in Hamburg im Oktober 2023 öffentlich in ein Fischbrötchen beißen musste, weil das dem Hamburger Olaf Scholz als Bundeskanzler so gut schmeckt, der weiß, dass es diese beiden Männer, trotz physischer Augenhöhe, nicht leicht miteinander haben. Auch wenn sie bei fast jeder Gelegenheit das Gegenteil beteuern, die deutsch-französische Kooperation wird derzeit auch durch viele Welt- und Kriegsereignisse, und die teilweise durchaus unterschiedlichen Einschätzungen dazu, besonders hart geprägt. Hinzu kommen starke Divergenzen in Bezug auf die gemeinsame verteidigungspolitische Stärkung Europas, die Frage nach der wirtschaftlichen Entwicklung Europas in Konkurrenz zu China und den USA, sowie die völlig gegenläufige Sicht auf die künftige Energieversorgung in Frankreich und Deutschland, die nur einen gemeinsamen Nenner kennt: den weiteren Ausbau der sogenannten Erneuerbaren Energien.
Das alles sind deutliche Anzeichen dafür, dass das deutsch-französische Verhältnis stark „abgekühlt“ ist und, so heißt es immer wieder in den Medien und in Insider-Gesprächen, seit ein paar Jahren vor allem „sachlich“ funktioniere. Viel Empathie klingt da nicht heraus. Und vielen Menschen wird immer klarer: „die da oben“ kriegen es nicht mehr „in unserem Sinne“ hin.
Natürlich gibt es auch immer wieder politische Lichtblicke: Präsident Macron, ein eloquenter Redner, hat am 27. Mai 2024 in Dresden nicht nur die über 10 000 Gäste auf dem Neumarkt, dem Platz vor der wiederaufgebauten „Frauenkirche“, begeistert, sondern mit seinem Kernsatz, „Europa ist nicht Ziel, sondern Kompass“, einen durchaus wichtigen Hinweis mit Blick auf gemeinsame Aufgaben in einem vereinten souveränen Europa gegeben. Ähnlich wie 2017 in seiner berühmten „Sorbonne-Rede“, auf die „aus Berlin“ viel zu lange keinerlei handfeste Reaktion erfolgte, die aber dann doch immerhin in den neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag von Aachen 2019 mündete.
Diesem Vertrag verdanken wir, als einem der wenigen wirklich konkreten Ergebnisse, seit April 2020 den Deutsch-französischen Bürgerfonds, der in 2023 rund 930 vielfältige bürgerschaftliche Projekte zwischen Deutschen und Franzosen mit insgesamt gut vier Millionen Euro förderte. Allerdings gibt es weitaus mehr Anträge als Mittel zur Verfügung stehen. Der Grund ist einfach: Während „die Politik“ kaum noch Greifbares zustande bringt, wächst das zivilgesellschaftliche Engagement, auch zwischen Deutschen und Franzosen, deutlich an und braucht jedes Jahr mehr Unterstützung, als der „Bürgerfonds“ derzeit ermöglicht. Dessen Budget müsste dringend jährlich angepasst werden. Zweifellos ist dieser Fonds eine der besten deutschen-französisch Ideen der letzten 50 Jahre!
Freundschaft und Verständnis entstehen an den Tischen
Die Deutschen lieben das Reiseland Frankreich. Und die Franzosen schätzen das Bodenständige der deutschen Kultur, die kulturelle Vielfalt von Hamburg bis München und natürlich das Reinheitsgebot des deutschen Bieres von 1516.
In den rund 2.200 deutsch-französischen Städtepartnerschaften spielt immer wieder auch die Kulinarik eine herausgehobene Rolle. Und was einen schönen langen Abend an einer gemeinsamen Tafel ausmacht, da lernen die Deutschen gerne und viel von ihren französischen Freunden. An den Tischen ent- und besteht Freundschaft, das gesellige Miteinander der Menschen prägt ein vielfältigeres Verständnis voneinander, als es touristische Reisen alleine oder aber nur offizielle Delegationskontakte überhaupt ermöglichen.
Dass der lebendige Austausch der „Menschen an der Basis“ einer der größten Erfolge des Friedens- und Aussöhnungsprojektes zwischen Frankreich und Deutschland und damit für uns alle nach dem Zweiten Weltkrieg von zentraler Bedeutung ist, bestreitet heute niemand mehr, der auf dieses Europa im Jahre 2024 schaut.
Für eine neue, friedliche Zukunft müssten also alle Verantwortlichen noch einmal darauf zurückblicken, wie insbesondere Frankreich, verkörpert durch Persönlichkeiten wie Robert Schuman, Jean Monnet, Charles De Gaulle, auf die Deutschen nach 1945 zuging, um ein neues Europa aus den Trümmern zu heben. Mit den Deutschen, nicht gegen sie.
Wo bleibt das Positive?
Doch trotz der aktuellen Irrungen und Wirrungen gibt es immer wieder auch erfreuliche Nachrichten. So registrierte der deutsche Produzent Mathias Lösel von der Firma „filmpool fiction“, der alljährlich in der Bretagne in enger deutsch-französischer Zusammenarbeit – und damit ganz im Sinne des Roman-Erfinders, Jean-Luc Bannalec, alias Jörg Bong – diese deutsche ARD-Produktion organisiert, mit großer Freude, dass der 11. Film mit Kommissar Dupin, „Bretonische Nächte“, zum Ende der Sommerferien in Frankreich am letzten Sonntag im August 2024, auf France 3 mit knapp drei Millionen Zuschauern der „Tagessieger“ im Quotenvergleich der französischen TV-Sender wurde. Auch ein schönes Beispiel deutsch-französischer Kooperation, welches sogar der französische Botschafter, François Delattre, bei einem Besuch des Filmteams in der Berliner Botschaft als besonders eindrucksvoll hervorhob.
Neue beste Freunde
Als die letzte öffentlich bekannt gewordene Gründung einer Städtepartnerschaft gilt die neue Freundschaft zwischen Husum in Schleswig-Holstein und Douarnenez im Finistère. Was auch hier einmal mehr durch private Kontakte im Sommer 2021 (während der Corona-Pandemie!) begann, entwickelte sich schon 2022 zu einem Schulaustausch mit dem St. Blaise-Gymnasium und so überzeugten die inzwischen hochaktiven ehrenamtlichen Partnerschaftskomitees auf beiden Seiten schnell die beiden Stadtspitzen: schon im Oktober 2023 besiegelten die beiden Küstenstädte ihre „Jumelage“ offiziell. Seitdem ist die Begeisterung auf beiden Seiten groß.
Groß sind auch die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Hafenstädten. Douarnenez hat seinen „Bolomig“, ein bronzener kleiner Junge in ägyptischer Anmutung, einer Mode des 19. Jahrhunderts folgend – das Wahrzeichen von Douarnenez. Und Husum hat die „Tine“, die Bronzestatue einer jungen Fischerin: Klassische Lieblinge der Einwohner und ihrer Gäste. Die neue Freundschaft wird auf allen Ebenen munter gepflegt.
Begegnung mit dem deutschen Botschafter
Claude Rossignol, der die Poesie liebt und besonders deutsche Dichter, berichtete engagiert von dieser neuen Freundschaft anlässlich eines eindrucksvollen Treffens im April 2024 in Brest. In der „Maison d’Allemagne – Maison de l’Europe“ tagten, auf Einladung der beiden Vorsitzenden Armelle Maltey und Vincent Lavalle, Delegationen von 12 verschiedenen „Jumelages“ aus dem gesamten Finistère.
Sie präsentierten dort ihre deutsch-französischen Freundschaften dem hohen Gast aus Paris, Stephan Steinlein, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, der auch gekommen war, um Armelle Maltey zur neuen Honorarkonsulin in Brest zu berufen. Der Botschafter ließ sich viel Zeit, erkundigte sich bei den einzelnen Berichterstattern und so war es ein wirklich spannender deutsch-französischer Austausch über die vielfältigen freundschaftlichen Verbindungen.
Für die seit 1967 bestehende Städtepartnerschaft Fouesnant-Meerbusch berichtete der „Président du comitée de jumelage“ Éric Ligen von den vielen verschiedenen Aktivitäten des Austauschs. Diese Jumelage entstand ebenfalls aus privatem Engagement: Rolf Cornelißen, Grundschulleiter in Meerbusch-Strümp, hatte 1962 De Gaulle in Düsseldorf vor dem Rathaus live erlebt und war begeistert. Als einige Jahre später eine Anzeige in der Tageszeitung erschien, dass eine kleine Gemeinde am Atlantik eine Städtepartnerschaft in Deutschland sucht, fuhr Cornelißen mit seinem VW-Bus und drei Nachbarn am nächsten Morgen los und besuchte den völlig überraschten Bürgermeister von Fouesnant Louis Le Calvez in seiner Mairie. Inzwischen besteht diese Freundschaft auf allen Ebenen seit 1967, also seit 57 Jahren!
Ob Feuerwehrleute, Polizeibeamte, Bäckermeister oder Sportradfahrer, ob Musikschulen und Künstlergruppen, Schüler- oder Sportleraustausch: neben den offiziellen Kontakten zwischen den Bürgermeistereien und den Stadträten, spielt die eigentliche Musik vor allem an der bürgerschaftlichen Basis. Wo aus solchen ersten Kontakten über lange Jahre und Jahrzehnte enge freundschaftliche Bande wachsen, da ist Europa in Frieden und Freiheit zuhause!
Und so wussten alle dort Anwesenden Entsprechendes aus ihren Jumelages anschaulich zu berichten. Natürlich gab es auch Kritik: so beklagten fast alle Ehrenamtler übereinstimmend, dass es mehr Budgets für mehr Austausch geben müsste. Auch über die allgemein sehr langsam mahlenden Mühlen der Bürokratie wurde gesprochen. Die Schulen und die Jugend insgesamt müssten noch stärker angesprochen und eingebunden werden. Einig waren sich alle darin, dass die Kontakte, je früher sie stattfinden, um so intensiver gepflegt werden. Und dass regelmäßige Treffen mehr binden, als sporadische. Logischerweise. Deshalb gibt es z.B. in vielen französischen Partnerstädten regelmäßige Treffen, öfter auch „Le Stammtisch“ genannt, wo sich Deutschland-Freunde in geselliger Runde über die bilateralen Beziehungen austauschen und gemeinsam die Sprachkenntnisse auffrischen und vertiefen.
Das Geheimnis – und was bleibt
Concarneau mit Bielefeld, Remscheid mit Quimper, Landerneau mit Hünfeld oder eben auch Pont-Croix, ganz im Westen des Finistère, mit Selfkant, der westlichsten Kommune des Landes Nordrhein-Westfalen, die erst im Jahre 2022 ihre neue Freundschaft begründeten, nachdem es durch private Reisen erste Freundschaftskontakte gab und die – wie so viele andere auch – vor allem dem einen sehr wichtigen Rat folgen, nämlich die jeweiligen Gäste in Gastfamilien unterzubringen – nicht in Hotels oder Herbergen. Das ist das Geheimnis. Zuhause, gemeinsam am Esstisch, entstehen, auch ohne fortgeschrittene Sprachkenntnisse, Verständnis und Gemeinschaft, manchmal sogar Zuneigungen und Freundschaften.
Da funktioniert Europa: Die Menschen organisieren sich mit großem Engagement und vielen Ideen, wenn die Politik den Rahmen dafür schafft: „Bürgerfonds“ weiter ausbauen und verstärken, freie Grenzen bewahren, Erasmus-Förderungen aufstocken und weiterentwickeln, die gemeinsame Währung und den sozialen Zusammenhalt stark halten, mehr kluge Mobilitätsangebote für ganz Europa (Interrail, Nachtzüge, Autozüge!), weniger Bürokratie und Vorschriften, Geld für Austausch statt für Waffen! Lyrik statt Kriegsrhetorik.
Claude Rossignol, der Lyrik-Fan aus Douarnenez, veranstaltete mit seinen Husumer Freunden bereits einen „Lyrik-Austausch“. Sehr ungewöhnlich und sehr erfolgreich. Er liebt Rainer Maria Rilke, der auch in französischer Sprache Gedichte schrieb. Wer, wie Rilke, schon mit zwanzig Jahren (und bis zum Ende seines Lebens) derart weltumfassend dichtet, der bleibt für alle Zeit.
Dem überall auf der Welt verbreiteten politischen Irrsinn, Entscheidungen mit Gewalt statt mit Gesprächen herbeizuführen, setzen viele Menschen mit ihren grenzüberschreitenden Freundschafts- und Friedensgesten, mit ihrem langjährigen und grundlegenden Engagement für ein engeres europäisches Miteinander die deutlichsten Zeichen entgegen, um den Frieden zu gewinnen und die Freiheit zu wahren.
Das ist auch für uns heute eine der schwierigsten Aufgaben: Die Freundschaften sollen und wollen die multiplen Krisen überdauern. So wie die Kunst, die Claude Rossignol und seine deutschen Freunde lieben, die Zeiten überdauert, wenn sie gültig ist und bleibt.
Der Autor
Oliver Keymis war Abgeordneter des Landtags Nordrhein-Westfalen von 2000 bis 2022 und dessen Vizepräsident von 2006 bis 2022. 2010 gründete er die deutsch-französische Parlamentariergruppe im Landtag NRW. Er leitete sie bis 2022. Seit 45 Jahren ist Oliver Keymis regelmäßig in der Bretagne und in Frankreich unterwegs. Heute lebt er zeitweise im südlichen Finistère und im Rheinland.