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Fernunterricht

Ein Quantensprung

Ortwin Ziemer

© Shutterstock

27. März 2020

Das digitale Klassenzimmer ist nicht neu, aber für die meisten Lehrenden und Lernenden  immer noch „Neuland“. In Zeiten von Corona macht die Methode nolens volens einen Quantensprung.

Die Verbesserung der Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden und die Möglichkeit deutlich kreativerer Gruppenarbeit sind zwei der grundlegenden Vorzüge digitaler Klassenzimmer. Die ersten Eindrücke seit der abrupten Schließung aller Schulen aufgrund der Corona-Pandemie in Deutschland und Frankreich bestätigen das. Denn die damit verbundene, nahezu flächendeckende Einführung des Fernunterrichts hat schnell zu neuartigen Formen von Lehr- und Lernverhalten geführt. Fernunterricht, zumal online, ist heutzutage ohne Digitalisierung undenkbar. Dennoch bedarf es des Brückenschlags zwischen digitaler und analoger Welt.

Videokonferenzen

Eine Videokonferenz mit Chat-Funktion etwa erlaubt es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, kleine Täfelchen mit verschiedenen Aufschriften hochzuhalten bzw. direkt in den begleitenden Chat einzutippen („Wie bitte?“, „Bin anderer Meinung!“, „Möchte reagieren!“ etc.) und sich auf diese Weise, auch wenn das eigene Mikrofon gerade vom Moderator abgeschaltet worden ist, wieder in die Diskussion einzubringen. So werden bekannte analoge Unterrichtsmuster im Online-Fernunterricht gewinnbringend eingesetzt, auch das Einblenden einzelner Bildschirminhalte wie Videos oder Screenshots.

Videokonferenzen kamen im schulischen Bereich bereits in der Vergangenheit zum Einsatz – etwa bei der Kontaktaufnahme und Projektvorbereitung beim Schüleraustausch. Sie ermöglichen den regelmäßigen, kollektiven Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden.

Während zumindest von manchen deutschen digitalen Pilotschulen gerade noch rechtzeitig entsprechende Fortbildungen angeboten wurden – das italienische Corona-Menetekel wohl bereits vor Augen – müssen sich französische Lehrerinnen und Lehrer meistens zu Hause mit relativ komplizierten Tutorials auseinandersetzen. Dies hat zur Folge, dass sie die Videokonferenzen mit ihren Schülern oft auf informelle Art über WhatsApp-Gruppen, per Skype oder Zoom organisieren.

Unterricht im eigentlichen Sinne findet dabei selten statt, eher eine Art Coaching, das es den Schülerinnen und Schülern erlaubt, zu den per Schulserver (der in Frankreich zentral vom nationalen – und in der Krise technisch häufig überforderten – Fernunterrichtsinstitut CNED gestellt wird), über Clouds oder eben doch klassisch per Mail übermittelten Aufgaben und Unterrichtsinhalten Fragen zu stellen.

Gruppenreferate bereiten die Schülerinnen und Schüler z. B. über WhatsApp gemeinsam vor und präsentieren sie anschließend per Videokonferenz der ganzen Klasse. In meiner 11. AbiBac-Klasse in Geschichte wurden dadurch vergleichende Analysen zu den verschiedenen TV-Ansprachen Merkels, Steinmeiers und Macrons zur Corona-Krise bzw. in Geografie zur immer noch sehr ungleichen Wirtschaftsentwicklung in Ost- und Westdeutschland möglich.

Schulradios

Schulradios, zumal mit eigener Sendefrequenz im unmittelbaren geografischen Umfeld der Schule, sind in beiden Ländern die Ausnahme. Vereinzelte, bemerkenswerte Initiativen belegen jedoch, wie sich die Übertragung von Unterrichtsstunden anhören kann. Das Schulradio ACB (Animation Collège du Bernica, St-Paul, La Réunion) spielt hierbei momentan im Fach Geschichte eine echte Pionierrolle.

Ein Kollege berichtet, dass seine Schülerinnen und Schüler bei dieser Form von télé-enseignement deutlich aufmerksamer gewesen seien als bei Videokonferenzen. Jedenfalls habe das die ebenfalls auf Distanz organisierte Leistungskontrolle ergeben. Als Leistungskontrolle deponierte er anschließend im Intranet-Cloud der Schule einen interaktiven Geschichtstest zum Ersten Weltkrieg mit der Möglichkeit zur Selbstkorrektur und weiterführenden Übungen.

Nachteile

Aber es gibt auch Nachteile des digitalen Unterrichts. Neue Unterrichtsinhalte, vor allem komplexer Art, effizient einzuführen, wie z. B. die Anfänge der Europäischen Union im Fach Geschichte, ist im Online-Fernunterricht kaum möglich – allenfalls die Vertiefung bzw. Wiederholung von bereits Gelerntem. Oft auch sind Videokonferenzen mitunter schwer zu terminieren, weil die Schülerinnen und Schüler in meiner Schule auf La Réunion in einem Fach aus verschiedenen Ursprungsklassen kommen und mehrere Sitzungen sich überschneiden.

Digitaler Fernunterricht mit seinen vielfältigen Möglichkeiten ist für alle Beteiligten gewöhnungsbedürftig und sehr zeitaufwendig, jedenfalls sehr viel zeitaufwändiger als klassischer Präsenzunterricht, insbesondere bei Nachfragen zu Korrekturen, die individuell beantwortet werden müssen. Bei kollektiven Videokonferenzen würde das den Rahmen sprengen. Auch die stundenlange Beschäftigung mit Unterrichtsinhalten vor dem Bildschirm ist weder für Lehrende noch für Lernende ideal. Zudem ist der fehlende soziale, direkte Kontakt für alle deutlich spürbar.

Benotung und Kontrolle

Benotung und Kontrolle der regelmäßigen Teilnahme sind (zumindest noch) weitere Schwachpunkte des Online-Unterrichts. Derzeit werden in Frankreich die ggf. während der Ausgangssperre erteilten Noten immerhin nicht fürs nächste Zeugnis gewertet, auch nicht fürs Baccalauréat. Die Möglichkeit der gegenseitigen Beurteilung seitens der Schülerinnen und Schüler führt indes zu deutlich mehr Kreativität, Eigeninitiative und -verantwortung als im herkömmlichen Unterricht. So waren gegenseitige Anregungen für Verbesserungen oderRückfragen nach Referaten auch im Präsenzunterricht bereits erwünscht, aber noch selten so lebhaft wie derzeit per Videokonferenz, etwa sich hin und wieder vom Text zu lösen und Blickkontakt zu suchen – eine Ermahnung, die sonst fast immer nur vom Lehrer kommt – oder die Frage, warum Angela Merkel zu Beginn ihrer TV-Rede lediglich „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!“ als Anrede wählt, Emmanuel Macron hingegen „Françaises, Français, mes chers compatriotes! “

Sicher ist: Unterricht wird in Frankreich und Deutschland nie wieder so sein wie in der Zeit vor Corona.

Ortwin Ziemer unterrichtet an einem französischen Gymnasium auf La Réunion.

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