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Régionales 2021

Quo vadis, Frankreich?

Martin Vogler

Staatspräsident Emmanuel Macron bei der Stimmabgabe am 27. Juni 2021 in Le Touquet, © picture alliance/dpa/MAXPPP | Johan Ben Azzouz

28. Juni 2021

Nach den Regionalwahlen im Juni 2021 herrscht in Frankreich Ratlosigkeit. Der erwartete Fingerzeig für die Präsidentschaftswahl blieb aus, das Wahlergebnis sorgte eher für Verwirrung. Das Volk schien schlicht keine Lust zum Wählen zu haben. Oder wollte es „der Politik“ einen Denkzettel verpassen?

Nach dem ersten Wahlgang am 20. Juni 2021 mit seiner historisch niedrigen Wahlbeteiligung von nur rund einem Drittel der Wahlberechtigten – vor sechs Jahren war immerhin noch die Hälfte wählen gegangen – hatten fast alle Parteien für den zweiten Durchgang am 27. Juni auf eine deutliche Steigerung gehofft. Doch die blieb minimal. Die Gründe klingen beliebig: Strahlendes Sommerwetter im Süden, der wegen Corona ungewöhnliche Termin kurz vor den Sommerferien, die Beschränkungen wegen der Pandemie … Hinzu kommt, dass es in Frankreich keine Briefwahl wie in Deutschland gibt: Sie wurde in den 1970er Jahren nach wiederholten Unregelmäßigkeiten abgeschafft.

Die Crux der Regionen

Entscheidend jedoch dürften die in Frankreich ausgeprägte Politikmüdigkeit sowie der geringe Stellenwert der Regionen im nationalen öffentlichen Bewusstsein und deren geringer politischer Gestaltungsraum im zentralistischen Frankreich sein – allen Reformen der vergangenen Jahre zum Trotz: Die Bedeutung der Regionalräte ist nicht mit den Landtagen in Deutschland zu vergleichen; die Gremien dürfen keine Gesetze erlassen oder ohne die Zustimmung der Pariser Zentralregierung öffentliche Gelder ausgeben. Bei Infrastrukturprojekten, Bildung, Wissenschaft und Kultur aber haben sie durchaus Einfluss.

Vielen auch ist die Bedeutung der Regionalräte in den 13 französischen Regionen in Europa – und fünf in Übersee – schlicht nicht bewusst. Erschwerend hinzu kommt, dass das Wahlrecht, im Prinzip ein Verhältniswahlrecht, recht komplex und damit etwas unübersichtlich ist: Mehrheitsprämie bzw. Bonus für die stärkste Liste, die Zehn-Prozent-Hürde für die Teilnahme am zweiten Wahlgang usw.

Kein Stimmungsbild vor der Präsidentschaftswahl

Die Regionalwahlen sollten ein Stimmungstest für die Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2022 sein. Doch in dieser Hinsicht wurden sie zu einem Desaster: Mit lächerlichen sieben Prozent insgesamt schnitt die Partei La Republique en Marche (LREM) des amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron ab, die in den Regionen nicht verwurzelt ist – die Rolle als Splitterpartei schmerzt dennoch.

Die Chance für eine zweite Amtszeit Emmanuel Macrons ist damit gesunken. Die bürgerlichen Republikaner, die zusammen mit Parteien der gemäßigten Rechten im zweiten Wahlgang 38,9 Prozent der Stimmen erhielten, haben nun Hoffnung, unerwartet doch einen aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten aufstellen zu können – auch wenn die Personalie offen ist. Die besten Chancen hat derzeit Xavier Bertrand, der als Spitzenkandidat mit 52,37 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang in der Region Hauts-de-France im Norden des Landes überzeugte.

Schlechtes Omen für Marine Le Pen

Eine ziemliche Enttäuschung, allerdings nicht so deutlich wie die des Staatspräsidenten, ist der zweite Wahlgang für Marine Le Pen und ihre rechtspopulistische Partei Rassemblement National (RN). Schuld daran ist sie selbst. Denn sie hatte angekündigt, die Regionalwahlen seien ihr erster Schritt zur Eroberung des Élysée-Palastes. Die landesweiten 19.1 Prozent im zweiten Wahlgang (8,4 Prozentpunkte weniger als 2015) sind jedoch alles andere als das von ihr prophezeite „gute Omen“.

Offiziell sucht Marine Le Pen allerdings die Schuld nicht bei sich, sondern beklagt, dass sich Konservative und Linke immer wieder „auf widernatürliche Art“ verbünden, um einen Sieg des früheren Front National (FN) um jeden Preis zu verhindern. Auch die geringe Wahlbeteiligung habe ihrer Partei geschadet – was Wahlforschungsinstitute bestätigen: Der RN hat es noch weniger als die politische Konkurrenz geschafft, seine Anhänger im zweiten Wahlgang zu mobilisieren.

Auch das erklärte Ziel, erstmals in einer Region zu siegen, wurde verfehlt. Umfragen hatten für den RN zuvor Chancen in bis zu sechs Regionen ergeben. Doch die Aufteilung folgte letztendlich der von 2015: In sieben Regionen liegen die Konservativen vorn, in fünf Regionen Sozialisten mit grüner Unterstützung. In der dreizehnten europäischen Region, Korsika, sind wie schon immer Regionalparteien stark.

Augenmerk auf einzelne Regionen

Die meiste Aufmerksamkeit bei den Régionales 2021 galt der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur (PACA), einer Hochburg des RN. Dort toben in Hafenstädten wie Marseille oder Toulon seit Jahren heftige soziale Konflikte. Die Region ist auch bei bürgerlichen Wohlhabenden sehr beliebt, von denen viele hier ihren Alterssitz haben. Erst im zweiten Durchgang wurde der RN mit seinem Spitzenkandidaten Thierry Mariani klar vom konservativen Amtsinhaber Renaud Muselier (57,3 Prozent) geschlagen. Die anderen Parteien hatten sich dafür für Muselier zusammengeschlossen und ihre Listen, teils unter starkem Druck der Pariser Parteizentralen, zurückgezogen – diesmal nur in PACA, in anderen Regionen nicht.

Für den RN ebenfalls enttäuschend sieht es in der Ile-de-France aus: Dort trat Jordan Bardella als Spitzenkandidat an, ein medial stark beachteter 25-Jähriger und bereits seit zwei Jahren Stellvertreter Marine Le Pens. Bardella passt zum angestrebten neuen Image einer nicht mehr stramm rechten, sondern sich bürgerlich gebender Partei. Der Spiegel brachte es einen Tag vor der Stichwahl auf den Punkt: „Bardella ist die Inkarnation der sauberen, entteufelten Partei. Ein Gesicht, das definitiv nichts mehr mit den alten Haudegen aus der Zeit von Jean-Marie Le Pen zu tun hat.“ Doch Bardella, Sohn italienischer Einwanderer, bekam lediglich 11,8 Prozent. Der Plan Marine Le Pens, sich klar von der Politik ihres Vaters abzuheben und zu distanzieren und sich ein neues Image zu geben, scheint zumindest diesmal nicht zu verfangen.

Renaissance der Altparteien?

Für beide, Marine Le Pen und Emmanuel Macron, sind die Chancen auf die nächste Präsidentschaft gesunken. Neben den wiedererstarkten Rechten um die Republikaner und ihren 38,9 Prozent im zweiten Wahlgang (29,5 im ersten) sind auch die Linken im Aufwind.

Im ersten Wahlgang waren sie mit 30,7 Prozent frankreichweit gar die stärkste Gruppierung; im zweiten Wahlgang schrumpfte ihr Ergebnis jedoch auf 24,1 Prozent: Viele Anhänger der Linken wählten beim zweiten Mal rechts-konservativ, um den RN zu verhindern – in Frankreich nichts Ungewöhnliches: 1995 wählten sogar Kommunisten Jacques Chirac zum Staatspräsidenten. Ihr Argument damals: „Wenn das Haus brennt, fragt man nicht, ob das Löschwasser schmutzig ist!“

Immerhin eroberte die Linke neben fünf Regionen in Europa, die sozialistisch blieben, drei Übersee-Gebiete: Französisch-Guayana, Martinique und Réunion. Bedeutungslos blieben mit 8,4 im ersten und 11,3 Prozent im zweiten Wahlgang die Grünen, obwohl ihnen nach den Erfolgen bei den Kommunalwahlen 2020 eine (sehr) große Zukunft vorhergesagt worden war.

Viele Beobachter werten das gute Abschneiden der Konservativen und der Linken – so denn die Ergebnisse bei der geringen Wahlbeteiligung überhaupt aussagekräftig sind – als Renaissance des alten Parteiensystems in Frankreich, das in den vergangenen Jahren durch den kometenhaften Aufstiegs Macrons und des LREM ausgehebelt wurde, auch wenn die einst staatstragenden Parteien nur in der Provinz weiterhin tief verwurzelt sind.

Erste Diener des Staates

Kommentar

Sie haben nichts gelernt. Nach beiden Durchgängen der Regionalwahlen deuteten viele Parteien ihr Ergebnis als Sieg ihrer Politik. Was bestenfalls ansatzweise stimmt. Denn vor allem ist die Wahlbeteiligung von knapp 35 Prozent im zweiten Durchgang eine Warnung: Die Bevölkerung steht kaum mehr hinter den traditionellen Parteien. Eine kleine Rechnung beweist: Sogar wenn ein Kandidat, bzw. seine Liste, „beeindruckende“ 60 Prozent der Stimmen erhält, haben ihn bei einer solch niedrigen Wahlbeteiligung nur 20 Prozent tatsächlich gewählt. Bleibt die Frage: Was wollen die anderen 80 Prozent? Ist ihnen alles egal? Eine Protestwahl? Und: von den 18- bis 24-Jährigen beteiligte sich 2021 mit 15 Prozent sogar weniger als ein Sechstel an den Régionales.

Dabei hatte vor fünf Jahren Emmanuel Macron noch Kapital aus dem Überdruss mit dem Polit-Establishment gezogen. Er lieferte damals den perfekten Gegenentwurf zur Pariser Elite. Seine neu gegründete Partei LREM gerierte sich mit beeindruckendem Erfolg als Anti-Parteien-Bewegung und Macron wurde Präsident. Doch bereits heute überzeugt er die meisten nicht mehr; Macron zählt für sie nun ebenfalls zum Establishment. Bei den Regionalwahlen rächte es sich zudem bitter, dass er es nicht schaffte – was er aus seiner Pariser Warte vielleicht gar nicht wollte – den LREM in den Regionen zu verankern. Somit fehlt ihm der Draht zum Großteil der Bevölkerung, die eben keine Elite-Universitäten besucht haben und nicht in der Hauptstadt leben.

Die zügige Entzauberung Macrons und seiner Partei zeigt, wie schwer sich Politiker tun, Stimmungen aufzunehmen und im Sinne von Wählerinnen und Wählern zu handeln, die selbstbewusster als früher sind, die sich in rasch gegründeten Internetforen verständigen und organisieren und die ihre Wünsche mit gelben Westen oder ohne gleich auf der Straße artikulieren bzw. versuchen durchzusetzen. Das alles beweist, dass viele weder unpolitisch noch politikmüde oder -überdrüssig sind, ihre Denkweisen sich aber zunehmend nicht mehr mit denen der etablierten Parteien und ihrer Repräsentanten decken. Politiker sollten das verstehen, es sehr ernst nehmen und ihre Grundeinstellung radikal ändern: weg vom Machtstreben, hin zu einer nicht nur den Worten nach (staats)dienenden Rolle. Was übrigens nicht nur für Frankreich gilt.

Martin Vogler

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