Im Gespräch
Europäische Souveränität, mehr als eine „Illusion“?
23. Juli 2023
dokdoc: Der geopolitische Stress der letzten Monate hat die Bruchlinien zwischen Deutschland und Frankreich stärker hervortreten lassen. Wo stehen heute beide Länder und wie ist es um ihre Beziehungen bestellt?
Ulrike Franke: Ich bin überrascht, wie problematisch die deutsch-französischen Beziehungen aktuell sind. Und dass in einer Situation, in der wir auf beiden Seiten Regierungen haben, die dem Nachbarland und Europa generell sehr positiv gesonnen sind. Und trotzdem: Wir sind bei den Hauptproblemen nicht viel weitergekommen. Macron und Scholz schaffen es irgendwie nicht so richtig, zusammenkommen.
Pierre Haroche: Ich denke, dass bei Verteidigungsfragen, insbesondere dem von Berlin initiierten Projekt eines Raketenabwehrschildes, der European Sky Shield Initiative, die Schwierigkeit darin besteht, dass beide die Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Das ist nicht einfach böser Wille, sondern es zeigt auch das ganze Ausmaß der auf europäischer Ebene noch zu leistenden Arbeit. Man kommt um diese Debatten nicht mehr herum, die zuvor als zweitrangig angesehen wurden. Danach gibt es auch einen industriellen Aspekt, der auf französischer Seite viel Kritik hervorruft, insbesondere wenn es um den Raketenabwehrschild geht. Die Deutschen wollen mit amerikanischen und israelischen Komponenten arbeiten. Es ist offensichtlich, dass man mehr nach europäischen Lösungen hätte suchen sollen. Wenn ich ein wenig selbstkritisch sein möchte, würde ich sagen, dass Frankreich sich auch nicht wirklich am Projekt beteiligen wollte. Von Anfang an hat es vielmehr seine abweichende Position zum Ausdruck gebracht und sich distanziert. All diese Anliegen sind letztlich legitim: Schnell handeln, denn schließlich befinden wir uns in einer Epoche des Kriegs; In die Zukunft investieren, denn manchmal, das wissen auch die Deutschen, haben wir unter kurzfristigen Entscheidungen gelitten, ohne unbedingt die Zukunft vorwegzunehmen.
dokdoc: Die Taiwan-Äußerungen des französischen Präsidenten haben in Deutschland hohe Wellen geschlagen. Der Außenpolitiker Norbert Röttgen warf ihm vor, die EU zu schwächen. „Das Reden von Europäischer Souveränität hat keine Beziehung zur Realität“, sagte Röttgen in einem Interview für den Deutschlandfunk. Wie stehen Sie dazu?
Ulrike Franke: Ich schätze Norbert Röttgen sehr, aber ich finde, dass diese Aussage falsch ist. Man soll nicht tun, als ob Macron sich Europäische Souveränität einfach so ausgedacht hätte. Europäische Souveränität kam schon 2016 in der Globalen Strategie der EU vor, und ist das erklärte Ziel vieler Europäer – im Übrigen auch der Bundesregierung, die Europäische Souveränität in ihrem Koalitionsvertrag mehrfach erwähnt. Natürlich sollten die Europäer in der Lage sein, mehr alleine zu machen. Nicht, weil man die Amerikaner nicht mag, sondern weil es möglich und durchaus wahrscheinlich ist, dass sie sich mittel- wenn nicht kurzfristig weniger für Europa interessieren. Und ganz grundsätzlich: 500 Millionen Europäer sollten schon in der Lage sein, ihre Interessen weitestgehend selbst zu verteidigen. Wir sollten nicht für immer auf 350 Millionen Amerikaner angewiesen sein. Insofern halte ich die Diskussion zur europäischen Souveränität für sehr wichtig. Das ist kein Hirngespinst! Die Frage ist eher, über welchen Zeitraum wir reden und was das für unsere Beziehungen zu den USA bedeutet.
Ein letzter Satz noch zu Macrons Äußerungen. Meines Erachtens hat er etwas Richtiges gesagt, als er betont hat, dass Europa eine eigene Position entwickeln sollte, was China und Taiwan angeht. Der Fehler war aber, dass er suggeriert hat, es könnte sich hier um Probleme handeln, die uns nichts angehen. Und der andere Fehler, den er gemacht hat, ist nicht zu sagen, dass die europäische Position sehr nah an der amerikanischen ist. Das heißt nicht, dass sie dieselbe ist – und das finde ich richtig. Aber es fehlte der zweite Halbsatz, der sagt: Zwischen der chinesischen und der amerikanischen Position sind wir natürlich bei der amerikanischen. Ich bin der festen Überzeugung, dass er das auch so sieht. Aber er hat es nicht gesagt, und das war ein Fehler.
dokdoc: Herr Haroche, wie wurden die Äußerungen des Präsidenten in Frankreich aufgenommen?
Pierre Haroche: Wenn man unter strategischer Autonomie nur versteht, sich von den USA zu distanzieren, dann ist das eine schlechte Sache. Die ganze Arbeit, auch der französischen Diplomatie, bestand darin, zu versuchen, die gegenteilige Idee zu verteidigen und zu sagen, dass dies zum burden sharing und zu einem besseren Zusammenhalt unter den Verbündeten beitragen würde. Ich bin nicht der Sprecher von Präsident Macron, aber ich stelle fest, dass er mehrfach und auf unterschiedliche Weise erklärte, strategische Autonomie bedeute für ihn die Berücksichtigung der Tatsache, dass die Vereinigten Staaten nicht alles tun können und auch andere Prioritäten haben. Im Grunde genommen ist dies ein Problem, das alle betrifft. Ich habe in Großbritannien Überlegungen gehört wie: Wie können wir uns auf die Möglichkeit vorbereiten, dass die USA im Rahmen zunehmender Spannungen zwischen China und den USA weniger in Europa präsent sein werden?
dokdoc: Frau Franke, die Frage, die sich stellt, ist nicht neu. Sie begleitet uns seit mehr als 60 Jahren. Schließt Europäische Souveränität eine enge Kooperation mit den USA aus und wie könnte Europa seine Sicherheit gewährleisten, wenn sich die USA aus Europa zurückzöge? Mit anderen Worten: Haben wir einen Plan B?
Ulrike Franke: Europäische Souveränität bedeutet absolut nicht, dass Europa nicht mehr mit den USA kooperiert! Aber wenn die USA sich zurückziehen brauchen wir einen Plan B. Ich würde sagen, der Plan B sind eben genau diese Verteidigungsanstrengungen, die zum einen auf dem nationalen und zum anderen auf dem EU-Level derzeit gemacht werden. Also die Tatsache, dass Verteidigungsbudgets in Europa eigentlich schon seit 2014 hochgehen, ist eine Reaktion auf die Möglichkeit, dass die USA sich zurückziehen könnten. Aber das ist noch kein Plan, auf den ich mich verlassen will. Aber es ist nicht so, als wäre den Entscheidungsträgern in ganz Europa nicht bewusst, dass es diese Gefahr gibt.
Pierre Haroche: Es reicht nicht zu sagen, dass wir mehr strategische Autonomie brauchen. Man muss auch davon überzeugen, dass diese Lösung auch eine Art Rückversicherung für andere ist, dass man glaubwürdig ist, und diese Verpflichtung hat auch Frankreich.
dokdoc: Auf dem Globsec-Forum in Bratislava (31.05.2023) hat Emmanuel Macron erkannt, dass Frankreich im Umgang mit Ost- und Mitteleuropa Fehler gemacht hatte. Bundeskanzler Scholz hat dies in seiner Europa-Rede in Prag (29.08.2023) ebenfalls zugegeben. Wo könnte man jetzt ansetzen und welche Rolle sollte Polen dabei spielen?
Ulrike Franke: Es ist auf jeden Fall wichtig, dass Deutschland, Frankreich und viele andere erkannt haben, dass man den Osteuropäern nicht ausreichend zugehört hat. Hat sich jetzt etwas geändert? Meines Erachtens sind es aktuell eher die baltischen Länder, die einen größeren Einfluss haben. Wenn Polen eine andere Regierung hätte, könnte es viel stärker von der Situation „profitieren“. Aktuell ist es aber eher so, dass die Punkte, wo die Polen Recht haben, teilweise untergehen.
Pierre Haroche: Es ist wichtig, mit den Ländern an der Ostflanke zu sprechen: Europäische Verteidigung ist ohne sie undenkbar. Sie haben eine zentrale Rolle zu spielen, auch aufgrund ihrer Expertise über Russland. Ich teile auch Ulrikes Meinung zu den baltischen Staaten. Ich denke dabei vor allem an Kaja Kallas und ihre Munitionsoffensive im Februar. Und wir dürfen Polen nicht übergehen. Polen ist ein großes Land, das stark aufrüstet. Die polnischen Entscheidungen sind daher strukturbildend für die Zukunft der europäischen Verteidigung.
dokdoc: Emmanuel Macron hat bis zum Ausbruch des Krieges in der Ukraine immer wieder betont, Russland sei eine „geographische Tatsache“, mit der man umzugehen hat. Wie und wo sehen Sie die Zukunft Russlands?
Pierre Haroche: Ich misstraue einer Perspektive, die zu sehr versucht, Etappen einfach zu überspringen. Ich denke, die Franzosen sollten sich davor hüten, denn wir wissen, dass die Vorschläge von Präsident Macron nicht immer gut ankamen. Wir sollten also nicht das Risiko eingehen, die aktuelle Botschaft zu trüben und über abstrakte Dinge zu sprechen, von denen wir nicht wissen, ob und wie sie jemals geschehen werden. Das Wichtigste ist, Europa zusammenzuschweißen.
Ulrike Franke: Ich würde mindestens jedem Politiker empfehlen, sich von dieser Frage fernzuhalten, weil alles, was man zum Thema sagen kann, läuft Gefahr, ein falsches Signal zu senden. Und genau in diese Falle tappt ja auch eben Macron. Natürlich ist Russland eine geographische Realität. Natürlich wird man irgendwie, irgendwann einen Modus Vivendi mit Russland finden müssen. Aber das heute zu sagen, während Russland auf brutalste Art seinen Nachbarn überfällt, ist problematisch. Der Krieg muss erstmal aufhören.
dokdoc: Im Zuge des Krieges in der Ukraine wurde die historisch gewachsene Rolle Deutschlands und Frankreichs als Motor der EU immer wieder hinterfragt. Können beide Länder heute noch die notwendigen Impulse geben?
Ulrike Franke: Wir haben im Zuge des Ukrainekonfliktes gesehen, dass auch andere Länder gerade in Osteuropa wichtiger werden. Das ist alles gut und richtig. Aber wenn man sich die EU und Europa anschaut, sieht man, dass man die zwei größten Länder schon irgendwie braucht und dass es meistens nur dann vorangeht, wenn diese beiden Länder sich einigen.
Pierre Haroche: Frankreich und Deutschland spielen eine komplementäre und strukturierende Rolle. Im Bereich der Verteidigung gibt es meiner Meinung nach viel zu tun, was die gemeinsame Finanzierung angeht. Aber auch auf der Ebene der Rüstungsindustrie. All dies wird die Glaubwürdigkeit unserer Verteidigung in der Zukunft bestimmen. Wenn Frankreich und Deutschland bei den Projekten, die sie sich vorgenommen haben, nicht erfolgreich sind, wie sollen wir es dann mit 27 EU-Mitgliedsstaaten schaffen? Oder unter allen europäischen NATO-Verbündeten?
dokdoc: Frau Franke, Herr Haroche, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview führte Landry Charrier
Übersetzung: Norbert Heikamp
Unsere Gäste
Dr. Ulrike Franke ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations Paris. Sie arbeitet zu Fragen der deutschen und europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, und dem Einfluss neuer Technologien auf die Kriegsführung. Sie ist Teil des Teams, das den „Sicherheitshalber“ Podcast produziert, der deutschsprachige Podcast zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Dr. Pierre Haroche ist Dozent für Internationale Sicherheit an der Queen Mary University in London. Zuvor war er am Institut de recherche stratégique de l’École militaire (IRSEM) und am King’s College in London tätig. Pierre Haroche ist Spezialist für europäische Sicherheit und die Sicherheitspolitik der EU.