Template: single.php

Regierungsbildung in Frankreich

Die drei Missverständnisse des PS

Alain Bergounioux & Gérard Grunberg

Lucie Castets, Olivier Faure und Manuel Bompard im Park des Elysee-Palastes, 23. August 2024 (Copyright: Imago)

30. August 2024

Zu Beginn der Woche lehnte Emmanuel Macron Lucie Castets als Premierministerin ab und schloss im gleichen Atemzug die Regierungsbildung mit La France insoumise definitiv aus. Als Reaktion kündigte LFI an, einen Antrag auf Amtsenthebung des Staatspräsidenten vorlegen und einen Misstrauensantrag gegen jede neue Regierung stellen zu wollen, die nicht von ihrer Kandidatin angeführt würde. Diese Entscheidung bringt die Sozialistische Partei in Bedrängnis.

Soll die Sozialisitische Partei (PS) die Strategie der totalen Konfrontation des Jean-Luc Mélenchon mittragen und damit dessen Führung akzeptieren? Oder soll sie versuchen, sich in der Situation, die sich aus den Ergebnissen der Parlamentswahlen ergeben hat, als selbständige Partei zu positionieren? Diese „Optionen“ resultieren aus drei mehr oder weniger selbst verschuldeten Missverständnissen, deren Hauptopfer die Partei selbst ist. Das erste liegt im Charakter des Nouveau Front Populaire (NFP), das zweite in der Natur von LFI und das dritte im Missverständnis dessen, was eine Reparlamentarisierung der V. Republik bedeutet.

Wahlvereinbarung oder Regierungsabkommen?

Der Schachzug von Jean-Luc Mélenchon, unmittelbar nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse (7. Juli) festzustellen, die NFP habe die Wahlen gewonnen und müsse nun an die Macht, lief zunächst einmal darauf hinaus, die Wahlrealität zu leugnen. Das insinuiert nämlich, es gebe eine Linke innerhalb einer Republikanischen Front, die über die Wählerschaft der linken Parteien hinausgeht. Zugleich zwang er seinen „Partnern“ Unmögliches auf: Er brachte sie dazu, den Buchstaben eines Programms zu akzeptieren, das jede Erweiterung einer relativen Mehrheit verhinderte und daher nicht umgesetzt werden konnte. Der Fehler von Olivier Faure bestand darin, das als gegeben hinzunehmen. Somit wurde er gewissermaßen Opfer eines „Einheitsfetischismus“. Dagegen vorzugehen, um eine politische Wahrheit – die Bedingungen für eine dauerhafte Regierung – wiederherzustellen, konnte daher nur als „Verrat“ gebrandmarkt werden. Eine alte Debatte in der Linken!

Jean-Luc Mélenchon (Copyright: Depositphotos)

Sicher war die Bildung eines Wahlkartells mit defensivem Charakter gerechtfertigt angesichts eines Rassemblement National (RN), dem alle Umfrageinstitute eine absolute oder zumindest stark relative Mehrheit zutrauten, und eines Mehrheitswahlrechts, das 12,5 % der Wähler erfordert, um überhaupt den zweiten Wahlgang zu erreichen. Doch war es irreführend, diese Wahlvereinbarung als ein echtes Regierungsabkommen zu präsentieren. LFI konnte am Ende den Großteil ihres Programms von 2022 durchsetzen. Den Sozialisten und Grünen hat sie lediglich Änderungen zum terroristischen Charakter der Hamas und zu einer stärkeren Unterstützung für die Ukraine zugestanden. Wenn nun aber unmittelbare soziale Maßnahmen notwendig sind, kann die Frage der mit der Situation von 1981 nicht vergleichbaren Staatsverschuldung nicht verschwiegen werden. Es muss mit steigenden Zinssätzen gerechnet werden; das schwächt die Beschäftigung und geht zu Lasten der Arbeitnehmer. Dies umso mehr, wenn man sich die Haushaltslage des Landes vor Augen führt! LFI hat kein Regierungsprogramm vorgelegt. Der Partei ging es einzig und allein um Meinungsbildung, weshalb sie das Bedauern darüber nährt, was alles hätte getan werden können und nicht getan wurde.

Die Vergangenheit als Kompass?

Dies führt zum zweiten Missverständnis: Sich auf die Vergangenheit berufen zu wollen, auf 1936 und andere Daten, ist ja nur eingeschränkt möglich. LFI ist zwar links, je nach Kommentator sogar linksextrem, aber ihre politische Logik hat nichts mehr mit der Tradition der Linken gemein.

Mélenchon und die führenden Köpfe seiner Partei haben nach der Erfahrung des Parti de Gauche einen bedeutsamen Wandel vollzogen und sich der Konzeption und den Handlungsoptionen eines „Linkspopulismus“ verschrieben. Man weiß, wie wichtig für sie die in Südamerika verwurzelten Arbeiten von Ernest Laclau und Chantal Mouffe sind. LFI argumentiert nicht länger mit dem Gegensatz zwischen links und rechts, sondern mit dem zwischen dem „Volk“ und den „Eliten“. Aus diesem Grund passen ihre „Partner“ nicht zu dieser Vorstellung. Das jüngste Interview von Jean-Luc Mélenchon mit der Tageszeitung La Repubblica lässt keinen Zweifel offen. Ziel ist es, die Unterschiede in der französischen Gesellschaft anzuprangern und die eigene Radikalität gegenüber der eines rechtsextremen RN zu stärken.

Es ist verständlich, dass die Sozialisten an die Jahre erinnern, als sie an der Macht waren, nicht nur an die fünfjährige Amtszeit von François Hollande, sondern an alles, was seit 1981 geschah. Dabei dürfen sie die eigene Tradition nicht ausblenden. Die Wahlergebnisse der von Raphaël Glucksmann angeführten Liste zeigen, dass es durchaus eine Wählerbasis gibt, die sich darin wiedererkennt. Die Einheit hat ihren Preis, der nicht im Verzicht auf die Vergangenheit bestehen kann.

Dem Jakobinismus treu geblieben

Das dritte und wichtigste Missverständnis betrifft die Frage des politischen Systems. Die Linken haben die Verfassungsänderung von 1962 und die präsidiale Fünfte Republik nie vollständig akzeptiert. Aus der Opposition heraus forderten sie eine parlamentarische Sechste Republik. Nun, da der Zeitpunkt für die Stärkung der Rolle der Nationalversammlung gekommen zu sein scheint, erschweren die antiparlamentarischen Positionen von LFI und die Ambivalenz der Sozialisten genau diese „Reparlamentarisierung“.

Maximilien de Robespierre (Copyright: Wikimedia Commons)

Mélenchon, der Bewunderer Robespierres, und generell die extreme Linke sind der jakobinischen Tradition treu geblieben: in deren Zentrum stehen das Volk und dessen Souveränität. Für Robespierre kann „das Wort ‚Vertreter‘ auf keinen Mandatsträger angewandt werden, denn der souveräne Wille kann sich nicht vertreten lassen. Nur das Volk selbst und nicht die Nationalversammlung ist legitimiert, seinen Willen zum Ausdruck zu bringen.“ So behauptet Mélenchon trotz der 10 % seiner Partei bei den Europawahlen, er allein verkörpere das „wahre“ Volk. Auf dieser Basis mobilisiert er seine Anhänger. Das ist Ochlologie, die Theorie von der Herrschaft der Massen. In der Nationalversammlung hat die von ihrem Vorsitzenden gegängelte LFI-Fraktion – wie einst die Jakobiner – die wichtige Funktion, zu dieser außerparlamentarischen Mobilisierung aufzurufen. Sie hat keinen Respekt vor den anderen Parlamentariern, auch nicht vor den Sozialisten. So hörte man Sophia Chikirou erklären, „der ‚Hollandismus‘ sei wie Bettwanzen: Du hast sie unter großem Einsatz bekämpft, eine Zeit lang geglaubt, sie seien verschwunden, hast ein gesundes (linkes) Leben wieder aufgenommen, aber in ein paar Wochen fängt’s wieder an zu jucken, und sie kommen aus allen Ecken wieder hervor … Und man fängt von vorne an!“ Eine seltsame Art, mit den Abgeordneten einer Partei umzugehen, mit der man regieren will! In Wirklichkeit will Mélenchon gerade nicht mit den Sozialisten regieren. Deshalb ist er bei seinem Programm auch zu keinem Kompromiss bereit: „Wenn die anderen Abgeordneten nicht wollen, dass wir unser Programm umsetzen, sollen sie uns im Parlament stellen. Wir dürfen nicht in die alten Methoden zurückfallen: ‚Lügen, verraten, den Willen des Volkes verleugnen‘.“

Dies ist geradezu die Antithese zu einem System, in dem die Nationalversammlung der Ort ist, wo Kompromisse geschlossen werden und Regierungskoalitionen überhaupt erst möglich werden können. Mélenchon kann nicht akzeptieren, dass die Nationalversammlung in ihrer Gesamtheit legitimiert ist, Gesetze zu erlassen, und nicht nur ein Teil ihrer Abgeordneten. Damit ist er de facto ein Antiparlamentarier. Sozialisten und Insoumis können nicht zusammen regieren, wie die aktuelle Krise es gezeigt hat. Mélenchon bleibt ein Anhänger der präsidialen V. Republik. Er hält an seinem ultimativen Ziel, den nächsten Präsidentschaftswahlen, fest und erklärt: „Die finale Wahl Frankreichs wird zwischen mir und der Faschistin Le Pen stattfinden“. Da ist es nur konsequent, Emmanuel Macron zum Rücktritt aufzufordern. Dieser Antiparlamentarismus erklärt seine Weigerung als Abgeordneter für das Parlament zu kandidieren und Fraktionsführer seiner eigenen Partei zu werden. Er sieht sich selbst als „Mann der Vorsehung“ (homme providentiel).

Die Sozialisten teilen im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen in der EU nicht das zentrale Konzept der Sozialdemokratie, das auf Kompromissen und der Bildung von Regierungskoalitionen beruht. Trotz der Sackgasse, in der sich die NFP befindet, scheint Olivier Faure nicht zu verstehen, dass die PS, will sie die Erneuerung des Parlamentarismus, ihre Autonomie zurückerlangen muss. Dabei muss sie auch berücksichtigen, dass es eine sozialistische Wählerschaft gibt – wie wir anhand der Ergebnisse von Raphaël Glucksmann sehen konnten –, die auf eine eigene Orientierung wartet und sich nicht nur als Reaktion auf die Anweisungen von LFI definiert.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version eines Beitrags, der auf der Online-Plattform unseres Partners Telos unter dem TitelLes trois méprises du Parti socialiste“ veröffentlicht wurde.

Übersetzung: Norbert Heikamp

Die Autoren

Alain Bergounioux (Copyright: Telos)

Alain Bergounioux ist Historiker. Zwischen 1988 und 1991 war er Sozialberater des Premierministers Michel Rocard von 1988 bis 1991. Derzeit ist er Vorsitzender des Office Universitaire de Recherche Socialiste. Alain Bergounioux ist Autor mehrerer Bücher über die Geschichte des Gewerkschaftswesens und des Sozialismus.

.

.

.

Gérard Grunberg (Copyright: Telos)

Gérard Grunberg ist emeritierter Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique. Als Politologe hat er sich auf die Untersuchung von Wahlen, politischen Systemen und Parteien spezialisiert. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel veröffentlicht, insbesondere über die Sozialistische Partei und die europäische Sozialdemokratie. Von 1988 bis 1991 war er Mitglied des Kabinetts von Premierminister Michel Rocard. Derzeit ist er Direktor der Website Telos.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Social media & sharing icons powered by UltimatelySocial