Sozialistische Partei
Auf halbem Wege
24. September 2024
Was wird aus der Sozialistischen Partei? Über diese Frage wurde bei dem „Sommeruniversität“-Treffen der PS im ländlichen Blois (27.-29. August) intensiv diskutiert. Nun hat sich François Hollande ebenfalls dazu positioniert. Der ehemalige Staatspräsident bleibt allerdings auf halbem Wege stehen.
Im Nachwort seines am 5. September veröffentlichten Buches (Le défi de gouverner: La Gauche et le pouvoir depuis l’affaire Dreyfus) distanziert sich François Hollande nicht nur von der Neuen Volksfront (NVP), sondern auch von der Linie, die die Parti socialiste (PS) seit 2022 verfolgt: „Die Gründung der Neuen ökologischen und sozialen Union“, schreibt er, „war eine Art Gnadenbrot von La France Insoumise (LFI), das die überlebenden Abgeordneten um den Preis der Demütigung und Auslöschung des französischen Sozialismus retten sollte.“ Die Position, „die Umsetzung des ganzen Programms und nichts als des ganzen Programms der Neuen Volksfront zu fordern, verringert die Chancen auf einen möglichen Kompromiss.“ Hollande lobt dagegen ausdrücklich den Europawahlkampf Raphaël Glucksmanns, dessen Ergebnis – fast 14% – „die Neubildung einer parteipolitischen Familie ermögliche, mit der man (…) in die Präsidentschaftswahlen ziehen könnte“. Gleichzeitig kritisiert er die Parteiführung von Olivier Faure: „Innerhalb weniger Jahre hatte die Sozialistische Partei ihre Führungsposition (…) aufgegeben und sich ideologisch so weit zurückgenommen, dass sie darauf verzichtete, sich zu ihrer sozialdemokratischen Identität und ihrem europäischen Engagement zu bekennen. Sie litt unter den Übertreibungen und Exzessen der radikalen Linken. Die Partei versuchte, sich bei jeder Polemik von jener zu distanzieren, ohne dass es ihr gelang, mit ihr zu brechen.“
Nach vorne und zurück
In seinem Interview vom 9. September mit Le Point rudert Hollande allerdings zurück. Auf die Frage von Franz-Olivier Giesbert: „Ist eine Regierungskoalition mit LFI möglich?“, antwortet der ehemalige Präsident: Man müsse „mit allen Elementen der Linken regieren“ und die Einheit der Linken „auf Dauer wiederherstellen“. Die PS könne sich dieser Herausforderung stellen. Somit greift Hollande auf die „Software“ von François Mitterrand zurück: „Warum hat sich François Mitterrand 1972 mit der Kommunistischen Partei verbündet? Das gemeinsame Programm war die Voraussetzung für den Machtwechsel. Mehr denn je ist die Union ein Kampf“. „Da gibt es keine andere Option. Was wäre denn sonst die Perspektive? Ich glaube nicht an ein Bündnis mit dem Zentrum. Das gibt es nicht und wenn es das gäbe, dann wäre das die Rechte, die man sieben lange Jahre mit Macron erleben durfte.“ Außerhalb der Linksunion gebe es für die PS also kein Heil. Daher ihre Zurückhaltung bezüglich der Ernennung von Bernard Cazeneuve zum Premierminister. Der ehemalige Präsident verteidigte sich im Nachhinein und meinte, dass es für ihn nicht entscheidend gewesen sei, dessen Ernennung öffentlich zu unterstützen: „Hätte ich denn ausdrücklich sagen müssen, dass Bernard Cazeneuve, mein Freund, meine Unterstützung hatte? Es war offensichtlich, dass er sie unter bestimmten Bedingungen hatte“, sagte er, aber: „Bedingungen, die von der Sozialistischen Partei gestellt werden konnten und gestellt wurden. Die Bedingung nämlich, dass seine Regierung sich (…) an die großen Linien oder zumindest die Richtungen, die das Programm der Neuen Volksfront vorgab, halten würde.“
Die Wende
Hollandes Auftritt vor der Grand Jury (RTL) am 15. September markiert eine Wende. Hollande schlägt die Neugründung der PS vor, wie sie François Mitterrand 1971 vollzogen hat. Er ruft zu einem neuen Épinay auf, bei dem alle sozialistischen Parteiflügel und Persönlichkeiten zusammenkommen sollen: darunter Raphaël Glucksmann und Bernard Cazeneuve. Er stellt zudem die reformistische Linke klar der radikalen Linken gegenüber („unversöhnlich“ sagt er allerdings nicht), verurteilt Jean-Luc Mélenchon wegen seines Abdriftens, lehnt die Idee einer einheitlichen Kandidatur der Linken 2027 ab und appelliert an die reformistische Linke, ihre Autonomie zu behaupten. Von der NVP ist nicht mehr die Rede. Hollande spricht sich für ein glaubwürdiges Programm aus und fordert dessen Erweiterung. Er plädiert auch für ein umfassendes Verhältniswahlrecht, das „Koalitionsverträge“ ermöglicht und nennt die Ampelkoalition als Beispiel. Er hält es für notwendig, Kompromisse mit anderen einzugehen, wenn es keine linke Mehrheit gibt und verurteilt das Alles-oder-Nichts-Prinzip. Darüber hinaus lehnt er eine Auflösung der Nationalversammlung vor den nächsten Präsidentschaftswahlen ab und kritisiert aufs Schärfste das Amtsenthebungsverfahren gegen den Staatspräsidenten. Hollande bedauert schließlich die Entscheidung von Olivier Faure, ein Treffen mit Emmanuel Macron abgelehnt zu haben. Damit stellt er die NVP selbst in Frage, ein Bündnis, auf welches er sich doch in seiner Kandidatur für die Parlamentswahlen berufen hatte.
Eine veraltete „Software“
Hollande bleibt allerdings auf halbem Wege stehen, und zwar vor allem deshalb, weil er der Vision eines durch den Links-Rechts-Gegensatz strukturierten Parteiensystems treu bleibt. So verharrt er weiter in der Vergangenheit. Indem er das Ziel einer Mehrheitslinken anstrebt, unterschätzt er sowohl ihre Schwäche als auch ihre Spaltung. Unser Parteiensystem ist aber nicht länger bipolar. Nach 1974 stand die Linke in diesem System für fast die Hälfte aller Stimmen; ab 1978 war die PS führend. Bei den jüngsten Parlamentswahlen erhielt die vereinigte Linke allerdings nur 28 % der Stimmen.
Laut einer vor kurzem durchgeführten IFOP-Umfrage würden die linken Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen zusammen 26% der Stimmen erhalten. Jean-Luc Mélenchon läge mit 9% zwar an der Spitze, aber weit entfernt von dem Ergebnis, welches er 2022 erzielte (21,95%). Olivier Faure käme auf 4% und François Hollande auf 8%.
François Hollande ist der Ansicht, dass die Mitte nichts anderes als eine Rechte ist und dass diese Rechte an die extreme Rechte angedockt ist: Dabei vergisst er, dass 2017 die Hälfte seiner Wähler für Emmanuel Macron stimmte (das Ergebnis der PS fiel allerdings auf 6% ab). Er meint, die Beziehung zwischen dem Zentrum und den Konservativen entspräche dem früheren Bündnis UDF-RPR, was eigentlich nicht stimmt. Dieses Argument hat den Vorteil, dass es alle „Rechten“ in einen Topf wirft. Es insinuiert zudem, die vereinigte Linke könne ihr im Zuge eines Machtwechsels mit der Rückkehr der Bipolarisierung nachfolgen. So befürwortet Hollande weiter eine Linksunion. Dabei vergisst er, dass die Sympathisanten der PS LFI feindlich gegenüberstehen. Vor allem aber vertritt er eine widersprüchliche Position, indem er einerseits für die Linksunion plädiert, andererseits aber anerkennt, dass sich die Linke öffnen und Kompromisse eingehen muss. Aber mit wem sollen diese Kompromisse geschlossen werden? Und schließlich: Wie lassen sich die Neugründung einer um Glucksmann und Cazeneuve erweiterten PS und das Bündnis mit LFI miteinander vereinbaren? Müsste Hollande nicht klar sagen, dass die von ihm vorgeschlagene Strategie ein Bündnis mit LFI ausschließt?
Hollande irrt
Diese Fehlanalyse führt dazu, dass François Hollande sich auch hinsichtlich der Entwicklung des politischen Systems irrt. Die meisten Politiker denken nach wie vor in den Begriffen der präsidialen V. Republik: Die Macht wird durch einen Sieg des Präsidenten erlangt, der dann auch automatisch zu einem Sieg in der Nationalversammlung führt. In diesem System strebt jede erstrangige (und sogar zweitrangige!) Führungspersönlichkeit zunächst die Kandidatur bei der Präsidentenwahl an. Seit der Parlamentsauflösung im Juni ist jedoch klar, dass die Macht bei den Parteien liegt. Das Spiel wird nun in der Assemblée ausgetragen.
Dieser „Reparlamentarisierungsprozess“ sollte die politische Klasse dazu veranlassen, stärker in Koalitionen zu denken – und solche auch anzustreben. Wenn die Linke also behauptet, sie habe die Parlamentswahlen gewonnen, hat sie die Logik völlig missverstanden. Gewonnen hat die Koalition, die nicht an einem Misstrauensvotum scheitert, und nicht etwa die Koalition, die bei der Anzahl der Sitze die Nase vorn hat. Jede Partei, die eine Regierungsbeteiligung anstrebt, muss sich daher in diese Logik einfügen. Dies tut im Übrigen auch François Hollande, wenn er sich für das umfassende Verhältniswahlrecht ausspricht und die Ampelkoalition als Beispiel anführt.
Was tun?
Die PS müsste anerkennen – was sie seit Beginn der V. Republik nie getan hat –, dass autonom zu sein vor allem eins bedeutet: Kompromisse oder gar Bündnisse mit Parteien rechts von ihr nicht von vornherein abzulehnen. Dies ist der einzig mögliche Weg. Der ehemalige Präsident ist ihn allerdings noch nicht gegangen. Eine Partei wie die PS oder LR muss den Parlamentswahlen und ihrer Beteiligung an mehrheitsfähigen Koalitionen Vorrang einräumen, anstatt um jeden Preis einen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, der dann mit großer Wahrscheinlichkeit vernichtend geschlagen wird. Das scheinen die Konservativen nun begriffen zu haben, im Gegensatz zur PS. In der aktuellen Situation, in der nur eine breite Koalition der nicht extremen Parteien verhindern kann, dass Marine Le Pen an die Macht kommt, würde die weitere Ablehnung eines Bündnisses mit der Mitte den eigenen Niedergang besiegeln.
Wenn Hollande jetzt meint, Regierungskoalitionen mit dem Zentrum hätten niemals eine Zukunft gehabt, so sei daran erinnert, dass Regierungskoalitionen mit der extremen Linken immer gescheitert sind: zwei Jahre Volksfront, ein Jahr 1947 mit einem Dreiparteiensystem, drei Jahre von 1981 bis 1984. Und schließlich fünf Jahre von 1997 bis 2002. Hollande mag ja Recht haben, wenn er denkt, die Wähler der Linken wollten die Union. Dann muss er ihnen aber auch erklären, warum diese sie nur in eine dauerhafte Sackgasse führen kann. Er erklärte, er werde für das Misstrauensvotum gegen die Regierung Barnier stimmen, weil „der RN Barnier seine Unterstützung zugesagt hat“. Abgesehen davon, dass diese Zustimmung recht wackelig ist: Wie hätte man eine solche Situation vermeiden können, da die PS zusammen mit ihren Partnern beschlossen hatte, jeder Regierung, die nicht von Lucie Castets geleitet wird, das Misstrauen auszusprechen? Zumal eine linke Regierung, wie François Hollande selbst sagt, sofort an einem Misstrauensvotum gescheitert wäre. Der ehemalige Präsident, der gerade den Kampf gegen die Führung der eigenen Partei eröffnet hat, kann nicht länger auf halbem Wege stehen bleiben. Er muss jetzt den gordischen Knoten durchschlagen.
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version eines Beitrags, der auf der Online-Plattform unseres Partners Telos unter dem Titel „François Hollande, encore un effort“ veröffentlicht wurde.
Übersetzung: Norbert Heikamp
Die Autoren
Alain Bergounioux ist Historiker. Zwischen 1988 und 1991 war er Sozialberater des Premierministers Michel Rocard von 1988 bis 1991. Derzeit ist er Vorsitzender des Office Universitaire de Recherche Socialiste. Alain Bergounioux ist Autor mehrerer Bücher über die Geschichte des Gewerkschaftswesens und des Sozialismus.
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Gérard Grunberg ist emeritierter Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique. Als Politologe hat er sich auf die Untersuchung von Wahlen, politischen Systemen und Parteien spezialisiert. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel veröffentlicht, insbesondere über die Sozialistische Partei und die europäische Sozialdemokratie. Von 1988 bis 1991 war er Mitglied des Kabinetts von Premierminister Michel Rocard. Derzeit ist er Direktor der Website Telos.
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