Rassismus-Debatte
Postkolonialer Bildersturm
Nach antirassistischen Protesten hat die Zerstörung und Beschädigung von Denkmälern und Statuen aus der Kolonialzeit die Diskussionen über eine angemessene Erinnerungskultur neu entfacht – gerade auch in Frankreich.
Die Frage stellt sich nicht erst seit dem gewaltsamen Tod von George Floyd Ende Mai 2020 in Minneapolis, und nicht nur in den USA: Wie soll man mit Zeugnissen der Geschichte der Sklaverei und des Kolonialismus umgehen, die von der französischen Regierung 2001 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt wurden?
Soll man Statuen, die an Gouverneure, Minister oder Entscheidungsträger aus der Kolonialzeit erinnern, einfach vom Sockel stoßen? Sie beschmieren? Sie verhüllen? Nach dem Fall der Mauer geschah dies in Ostdeutschland und -europa mit vielen Lenin- und Stalin-Denkmälern. In Frankreich gab es zuletzt während der großen revolutionären Umwälzungen im 18. und 19. Jahrhundert ein größeres Ausmaß an historischer Bilderstürmerei – bis die Debatte nun wieder neu aufflammte.
General Joseph Gallieni
Als Gouverneur von Madagaskar (1896–1905) hatte General Joseph Gallieni auf Zwangsarbeit, Abschaffung der Monarchie, willkürliche Hinrichtungen und brutales Vorgehen gegen die als Guerilla organisierte antikoloniale Menalamba-Widerstandsbewegung gesetzt, um Frankreich diese neue Kolonie zu sichern. Verstärkt durch Seuchen, soll die Niederschlagung des Aufstands unter der einheimischen Bevölkerung zwischen 50.000 und 100.000 Tote gefordert haben.
Zugleich trieb Gallieni aber auch den Ausbau der Infrastruktur (Eisenbahn, Schulen) auf der Insel voran und ist in Frankreich bis heute wegen seiner erfolgreichen Verteidigung von Paris gegen die Deutschen im Ersten Weltkrieg (1915) hoch angesehen. Am 16. Juni 2020 wurde der Sockel der Gallieni-Statue an der Pariser Place Vauban mit Parolen wie „Ab ins Museum!“, „Verantwortung des Staates“, „Demontieren wir den offiziellen Geschichtsdiskurs!“ besprüht. Die Pariser „Gallieni“-Metrostation war von Aktivisten umbenannt worden.
Premierminister Jean-Baptiste Colbert
Dem Denkmal von Jean-Baptiste Colbert vor der Pariser Nationalversammlung, Premierminister (1661–1683) unter Ludwig XIV., widerfuhr am 23. Juni das gleiche Schicksal. Négrophobie d’Etat (Negerfeindlichkeit von Staats wegen) stand darauf in knallroten Lettern zu lesen. Colbert war der eigentliche Begründer der französischen Seemacht, unverzichtbar beim Ausbau des künftigen Kolonialreiches, und gilt zudem als Autor des Code Noir (1685) zur Regelung des Umgangs mit schwarzen Sklaven. Er zog zwar juristisch der Willkür der Sklavenbesitzer gewisse Grenzen, bezeichnete aber die Sklaven zugleich ausdrücklich als rechtlos und ahndete wiederholte Fluchtversuche mit Verstümmelung oder der Todesstrafe.
Victor Schoelcher
Bereits am 22. Mai 2020 waren auf der Antilleninsel Martinique zwei Statuen von Victor Schoelcher umgestürzt worden. Ließen sich die Aktionen gegen die Denkmäler Gallienis und Colberts noch nachvollziehen, ergibt die Demontage der Schoelcher-Statuen keinen Sinn. Von Beginn an ein überzeugter Gegner der Sklaverei, hatte Schoelcher 1833 ein engagiertes programmatisches Buch dagegen veröffentlicht und schließlich im Revolutionsjahr 1848 als Kolonial-Staatssekretär für das Dekret zur Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien verantwortlich gezeichnet. Dennoch heißt es in einem anonymen Bekennerschreiben: „Schoelcher war nicht unser Befreier!“
Unkenntnis historischer Fakten
Am 14. Juni 2020 hatte Präsident Macron in seiner vierten TV-Ansprache während der Corona-Krise zwar auch energische Maßnahmen gegen jede Form von Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung angekündigt. Seine lapidare, zentrale Aussage zu diesem Thema allerdings löste ein sehr kontroverses Echo sowohl unter Historikern und Schriftstellern als auch in der Zivilgesellschaft aus. „(Frankreich) wird keine Spur, kein Kunstwerk und keinen Namen aus seiner Geschichte tilgen. Es wird keinerlei Statuen demontieren“, erklärte der Staatschef. Verschandelungen wurden stets schnellstmöglich rückgängig gemacht.
„Meistens führt Unkenntnis der historischen Fakten zur Demontage oder Verschandelung von historischen Statuen. Man sollte sie nicht zerstören, aber auch nicht ohne weitere Erklärung des historischen Kontexts einfach unkommentiert stehen lassen“, sagte der Schriftsteller Enis Rockel, Autor mehrerer historischer Romane über die Kolonialzeit, Anfang Juli in den TV-Abendnachrichten daraufhin auf La Réunion.
Hier war bereits im Mai 2015 vor der Präfektur in der Inselhauptstadt St-Denis der Kopf der Statue des Gouverneurs François Mahé de La Bourdonnais (1735–1746) mit einem weißen Tuch verhüllt worden und ihr Schilder mit der Aufschrift „Ich bin ein Befürworter der Sklavenhaltergesellschaft“ sowie „Ich bin Rassist“ umgehängt worden. De La Bourdonnais hatte die Insel wirtschaftlich durch die Einführung des frühindustriellen Zuckerrohranbaus zwar deutlich vorangebracht, andererseits aber auch tatkräftig die erbarmungslose Verfolgung flüchtiger Sklaven ins unwegsame Inselinnere gefördert.
Eine Facebook-Nutzerin äußerte sich dazu online Anfang Juni im Anschluss an ein TV-Interview mit dem reunionesischen Lokalhistoriker Raoul Lucas: „Wir leben nicht mehr in derselben Epoche. (…) Wenn man etwas zerstört, lernt man nichts hinzu. Man sollte die nachwachsenden Generationen dazu bringen, sich die Geschichte anzueignen, um in der Zukunft nicht mehr die gleichen Fehler zu begehen. Das ist die einzige Lektion, die daraus zu ziehen ist.“
Hybride Foren
Der Sorbonne-Historiker Nicolas Offenstadt, einer der anerkanntesten Spezialisten für Fragen des öffentlichen Gedenkens in Frankreich, plädiert dafür zu unterscheiden, warum, von wem und in welchem Kontext einerseits eine Statue ursprünglich errichtet worden ist und was sie auf der anderen Seite beispielsweise heute für diejenigen darstellt, für die „die Sklaverei etwas sehr Persönliches und eng mit der eigenen Erinnerung verwoben ist, eine Empfindsamkeit also, die andere Menschen nicht haben.“
Für ihn ist ein Gradmesser für die demokratische Vitalität einer Gesellschaft, auf welche Weise sie kollektiv darüber entscheidet, was sie von der Vergangenheit zurückbehalten und fördern möchte. Zwecks dieser nötigen Debatte spricht er sich für „hybride Foren“ aus, „Orte, wo der Historiker die nötigen Kenntnisse zur Verfügung stellt und der Bürger sodann seinen Standpunkt zum Ausdruck bringen kann.“
Offenstadt bringt alternative Lösungen ins Gespräch, damit Geschichte nicht umgeschrieben oder gar neu erfunden wird. Sie bestehen zum Beispiel darin, Erklärungstafeln anzubringen, künstlerische Darstellungen der historischen Zusammenhänge wie etwa Gegendenkmäler zuzulassen oder auch Statuen, die der öffentlichen Meinung nicht mehr haltbar erscheinen, in Museen unterzubringen, wo die Begleitumstände sowohl ihrer Errichtung als auch ihrer Demontage vom Besucher digital und interaktiv abgefragt werden können. Es müsse verhindert werden, historisches Faktenwissen und die Emotionen durcheinanderzubringen, die durch das heutige Empfinden der Vergangenheit und die emotionsgeladenen Gegensätze ausgelöst werden, die bei der Interpretation von Denkmälern legitimerweise und unvermeidbar aufeinanderprallen.
Daher sei es unumgänglich, die Zivilgesellschaft an der Entscheidung zu beteiligen, welche historischen Ereignisse oder Persönlichkeiten im öffentlichen Raum unter welchen Kriterien in Szene gesetzt werden sollen, denn „man muss Geschichte im Kopf der Zeitgenossen arbeiten lassen, um ihr Erstarren zu verhindern.“