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Vive le Hinterland

Die Renaissance des Limousin

Hilke Maunder

In der Haute-Vienne (Copyrigjht: Hilke Maunder)

5. September 2024

Das Limousin, einst ein fast vergessenes Fleckchen Erde im Herzen Frankreichs und heute aufgeteilt auf die drei Départements Creuse, Corrèze und Haute-Vienne, erlebt eine erstaunliche Renaissance.

Der Boom des Internets und die Folgen von Pandemie und Migration haben in Frankreich eine Stadtflucht und abgelegenen Regionen eine neue Attraktivität beschert – besonders für jene, die fernab des Trubels Authentizität und nachhaltige Erlebnisse suchen. Genau das bietet das Limousin in Hülle und Fülle: grüne Landschaften, unberührte Natur und charmante Dörfer, die Beschaulichkeit und Beständigkeit verströmen – Zeitlosigkeit und Verwurzelung auf dem Lande statt Hektik und Anonymität.  

Zuletzt erlebte das Limousin eine wahre Tourismuswelle. Allein im Département Creuse schnellten die Zahlen ausländischer Urlauber von 1,17 Millionen (2022) auf 1,35 Millionen Übernachtungen im Jahr 2023 hoch. Die meisten dieser Gäste kamen aus Großbritannien, gefolgt von den Niederlanden und Belgien. Dass besonders die Briten stark vertreten sind, liegt an den traditionell engen Beziehungen. Im Mittelalter stand das Limousin lange Zeit unter der Kontrolle des Hauses Anjou-Plantagenet, das sowohl über England als auch Teile Frankreichs herrschte. 1199 starb der englische König Richard Löwenherz bei der Belagerung der Burg Châlus-Chabrol im Limousin; im Hundertjährigen Krieg (1337-1453) war die frühere Region Schauplatz vieler Kämpfe zwischen England und Frankreich. Im 17. Jahrhundert fanden Hugenotten aus dem Limousin Zuflucht vor religiöser Verfolgung in England, was die historischen Verbindungen neu belebte – wie die Aktivitäten der Résistance in Limoges, die de Gaulle von London aus steuerte. Nicht erst seit dem Brexit locken die günstigen Immobilienpreise im Limousin.

Wer kommt, campt: Plus 32 Prozent meldeten die Freiluftanlagen im Jahr 2023, während die Hotels im Département ein Minus von 4,9 Prozent hinnehmen mussten.

Im Limousin hat der „grüne Tourismus“ eine neue Hochburg gefunden. Nicht nur im Auto, Motorrad, Camper oder Womo werden die Naturperlen entdeckt, sondern auch in Reisebussen voller naturhungriger Besucher aus Europa – und Asien.

Doch keine Angst: Auf Menschenmassen trifft man dennoch nicht in dieser Region, die zu den am dünnsten besiedelten Landstrichen Frankreichs gehört. Zwei Menschen pro Quadratkilometer leben statistisch auf dem Plateau de Millevaches, 27.004 drängen sich auf der gleichen Fläche im Westend von Wiesbaden, 39.317 Einwohnern im 11. Arrondissement von Paris.

Nachhaltigkeit im Fokus

Das Limousin steht exemplarisch für die neue Lust nach langsamen, bewussten Reisen. Nachhaltigkeit ist hier kein Modewort, sondern gelebte Praxis. Viele der lokalen Betriebe setzen auf umweltschonende Methoden und legen Wert auf regionale Produkte. Ein Beispiel ist die Ferme des Ânes de Vassivière (Haute-Vienne), wo Bio-Landwirtschaft und sanfter Tourismus Hand in Hand gehen – mit Seifen aus Eselsmilch und einstündigen Eselswanderungen.

Das Innere des Cabanon perché des Château de Memanat (Copyright: Hilke Maunder)

Ruhe finden, sich wieder neu mit der Natur verbinden: Mit seinen weiten, ursprünglichen Naturräumen stillt das Limousin die Sehnsucht nach Wurzeln, die tiefer gehen als Zeitgeist-Moden. Zwei Naturparks schützen sie. Weitläufige Moore, dichte Wälder und kristallklare Bäche prägen die urwüchsige Landschaft des 314.000 Hektar großen Parc Naturel Régional de Millevaches.

Hier haben Natalie und Andy Solomon vom Château de Memanat zwei Baumhäuser an den Waldrand im Tal des Thaurion gestellt und laden zur luxuriösen Auszeit inmitten der Natur. Unter der Terrasse wiehern Pferde. Am hohen Himmel lässt sich nachts die Milchstraße mit bloßem Auge beobachten. Zur Zeit der Plejaden im August fallen unzählige Sternschnuppen nieder, und das ganze Jahre hindurch holte das private Planetarium, das die jungen Briten in ihre Uferwiesen gestellt haben, die Wunder des Firmaments in diesem Dark Sky-Reservat Frankreichs ganz nah vors Auge.

Im 1.800 Quadratkilometer großen Parc Naturel Régional Périgord-Limousin treffen die karge Schönheit der Limousin-Hochebene und die Wälder des Périgord aufeinander. Die Réserve Naturelle Nationale de la Tourbière des Dauges in Haute-Vienne schützt eines der letzten großen Hochmoore im Limousin. Die Hügelkette der Monts de la Marche zwischen den Tälern der Gartempe und der Creuse bedecken die Eichen und Buchen der Forêt de Chabrières. In der Corrèze verwandelten sich die einstigen Kiesgruben von Argentat in einen Espace naturel sensible.

Moutier-d’Ahun: Blick über die Brücke auf das Dorf (Copyright: Hilke Maunder)

Der „sanfte“ Outdoor-Tourismus hat das grüne Herzland von Nouvelle-Aquitaine im Sturm erobert. Aktivitäten wie Wandern, Radfahren und Kanufahren stehen hoch im Kurs. Seit Juli 2024 vollendet ist die Radwanderroute Vélidéale, die auf 665 Kilometern Länge das Limousin mit der Atlantikküste verbindet, vorbei an gewellten Weiden, auf denen die goldbraunen Limousin-Rinder weiden, und entlang des Laufes der Vienne, deren Ufer das Erbe von Mühlen, Papier- und Lederfabriken prägt.

Ursprüngliche Orte und Dörfer

Große Städte sind rar im Limousin. Selbst seine historische Hauptstadt Limoges hat ein menschliches Maß bewahrt. Landflucht und Abwanderung prägten den Landstrich, bis vor vier Jahrzehnten ein Bürgermeister eine Initiative begann, die Frankreich heute ein Netzwerk von 178 schönsten Dörfern in 70 Départements beschert. Charles Ceyrac dirigierte damals Collonges-la-Rouge mit seinen roten Sandsteinhäusern in verwinkelten Gassen – und blickte auf einen sterbenden Ort. Zufällig entdeckte er eines Tages eine Reader‘s Digest-Ausgabe mit dem Titel „Les Plus Beaux Villages de France“. Er schrieb daraufhin sämtliche Bürgermeister der 100 vorgestellten Dörfer an und schlug ihnen vor, ein Netzwerk mit demselben Namen zu gründen. 66 von ihnen unterzeichneten am 6. März 1982 in Salers die Gründungsurkunde der Plus Beaux Villages de France. Neun so ausgezeichnete Dörfer birgt heute das Limousin: sechs in Corrèze (Collonges-la-Rouge, Curemonte, Ségur-le-Château, Turenne, Saint-Robert, Beaulieu-sur-Dordogne), eines in Haute-Vienne (Mortemart), aber kein einziges in der Creuse. Es ist vielleicht gut so, dass die Bilderbuchorte der Creuse, die diese Auszeichnung verdient hätte, nicht klassifiziert sind. So sind unberührt und integer geblieben – wie Masgot mit den Granitfiguren aus der Fantasie des Briefträgers François Michaud, Sous-Parsat mit seinen leuchtenden Fresken und Moutier-d’Ahun, ein Kleinod am Ufer der Creuse mit einer erstaunlichen Abteikirche.

Grüne Wälder und stille Seen

Neben den Dörfern sind es vor allem die weitläufigen Wälder und stillen Seen, die das Limousin ausmachen. Zu den größten künstlichen Seen Frankreichs gehört der 1000 Hektar große Lac de Vassivière, in dessen Mitte sich als Leuchtturm aktueller Kunst das Centre International d’Art et du Paysage erhebt. Nur ein Drittel so groß ist der Natursee Lac de Saint-Pardoux mit seinen drei Stränden. Hier lässt sich ein Tag beim Paddeln, Schwimmen oder Picknicken am Ufer verbringen. 

Les Pierres Jaumâtres (Copyright: Hilke Maunder)

Holzbohlenwege, Waldpfade, GRP und PR genannte Lokalrouten und die Weitwanderstrecken der Grandes Randonnées (GR) durchziehen das Gebiet. Auf der GR 4 könnte man von der Atlantikküste quer durch den Limousin zum Mittelmeer wandern oder auf der GR 654 den Spuren der Jakobspilger folgen. Zu den schönsten Wanderzielen für Familientouren gehört der Aufstieg zu den Pierres Jaumâtres nahe dem Château de Boussac, dem Refugium von Georges Sand in der Creuse. Im Felsenmeer, das die Wollsackverwitterung widerspiegelt, stapeln sich riesige Granitblöcke, Jahrtausende hindurch von Wind und Wetter geformt. Die bizarren Felsformationen scheinen oft instabil und erwecken den Eindruck, als könnten sie jeden Moment kippen.

Vor etwa 206,9 Millionen Jahren schlug bei Rochechouart ein Asteroid im Limousin ein, verwüstete alles im Umkreis von 100 Kilometern und hinterließ einen fast 25 Kilometer großen Krater, den heute die Réserve Naturelle Nationale de l’Astroblème de Rochechouart-Chassenon schützt. Die Wucht des Aufpralls presste bis zu fünf Kilometer tief im Erdreich die Gesteine zusammen und bescherte der Region ihr typisches Baumaterial: Impaktit-Brekziet, ein Mix aus Quarz und anderen Mineralien.

Beim Wandern oder Radeln vorbei an romanischen Kirchen und entlang idyllischer Flusstäler überrascht das Limousin an jeder Biegung und weckt die Sinne mit dem Duft seiner Wälder, dem Rauschen der Bäche und dem Wechsel von Licht und Jahreszeiten, der das Land verzaubert.

Ein Paradies für Entdecker

Das Limousin präsentiert sich heute als grünes Paradies für alle, die die Natur in ihrer ursprünglichsten Form erleben möchten. Dabei gelingt der Spagat zwischen dem Schutz der Umwelt und der Förderung des Tourismus. Die Region setzt auf Qualität statt Quantität, auf nachhaltige Erlebnisse statt Massentourismus. Die Renaissance des Limousin ist ein Zeichen dafür, dass auch abgelegene Regionen eine Zukunft haben. Vive le Hinterland, vive le Limousin!

Die Autorin

Hilke Maunder (Copyright: Lara Maunder)

Hilke Maunder, 1961 in Hamburg geboren, kam nach ihrem Anglistikstudium und Volontariat 1989 als Redakteurin zu den Lübecker Nachrichten in Mecklenburg, ging als Korrespondentin nach China, Vietnam, ins Baltikum und nach Australien und berichtet seit 2010 aus Frankreich. 2014 wurde sie für ihre Arbeit und ihren Blog „Mein Frankreich“ mit der Médaille de Tourisme ausgezeichnet, 2023 mit dem Gutedelpreis.

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