Rechtsextremismus
„Um nicht selbst als Rechtsextrem wahrgenommen zu werden“
2024 wird in drei ostdeutschen Ländern gewählt. dokdoc hat mit zwei Experten für Rechtsextremismus über die Ambitionen der AfD und die von Thüringens AfD-Landeschef Björn Höcke gesprochen. Beide blicken zudem auf die Europawahl und die Beziehungen, die die Partei zu Marine Le Pen und dem Rassemblement National unterhält.
dokdoc: In Hessen und Bayern hat die AfD bei den letzten Landtagswahlen hohen Zuspruch erfahren und führt nun jeweils die Opposition an. Warum ist der Rechtsextremismus in Westdeutschland nun auch so erfolgreich?
Andreas Speit: Das „auch“ ist ein bisschen relativ. In der Bundesrepublik besteht die Tendenz, bei der Thematik Rechtsextremismus schnell in den Osten zu schauen. Ich erinnere aber an die Wahl 2016, wo in drei Bundesländern, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, gewählt wurde. In Sachsen-Anhalt bekam die AfD 24,1%, in Rheinland-Pfalz ca. 12% und in Baden-Württemberg 15,1%. Interessanterweise haben alle Medien die Rechtsentwicklung in Sachsen-Anhalt aufgegriffen. Hätte man sich die Zahlen angeguckt, hätte man gesehen, dass die AfD in Baden-Württemberg eigentlich mehr Stimmen bekommen hat, da die Bevölkerungsdichte größer ist. Wir können sogar noch weiter zurückgehen, bis in das Jahr 2001: Bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg bekam die Schill-Partei, eine rechtspopulistische Partei, fast 20% aus dem Stand. Sie kam sofort in die Regierung. Daher: Wir hätten eigentlich schon sehr früh merken können, dass es auch bei gut aufgestellten Bundesländern mit wenig Arbeitslosigkeit, sozialer Absicherung und einer hohen Lebensqualität durchaus Menschen gibt, die bereit sind, ihr Kreuz rechts zu machen.
Nils Franke: Da haben viele Themen eine Rolle gespielt, nicht zuletzt das Thema Migration. Ein wichtiger Punkt ist, dass es der AfD diesmal gelungen ist, sehr viele Nichtwähler zu mobilisieren. Man kann den Eindruck haben, dass diese Nicht-Wähler die Haltung hatten: Jetzt gehe ich zum ersten Mal zu der Wahl, und ich wähle AfD, um Berlin einen Denkzettel zu verpassen.
Andreas Speit: Und wenn wir uns jetzt Bayern angucken und die Freien Wähler auch als rechts titulieren, dann haben dort auch um die 30% rechts gewählt haben. Wenn man sich dann die Bevölkerungszahl dort anguckt, sieht man, dass das wirklich sehr viele sind.
dokdoc: Nächstes Jahr finden in drei ostdeutschen Ländern Landtagswahlen statt: in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Jüngste Umfragen sehen die AfD in diesen drei Bundesländern bei 32 bis 35%. Sind Sie besorgt?
Andreas Speit: Ja sehr, weil die Gefahr besteht, dass wir dort eine neue Konstellation haben könnten, die für die CDU eine enorme Herausforderung ist. Schon jetzt erfolgen aus der Ost-CDU immer wieder Debatten für ein Arrangement mit der AfD und längst auch teilweise Abstimmungen mit der Konkurrenz. Letzteres ebenso im Westen. Die Brandmauer ist brüchig. Und das ist, glaube ich, das Hochdramatische an diesen Wahlen: Wenn das konservative Milieu bereit ist, mit der AfD zusammenzugehen, werden wir eine massive Rechtsverschiebung in der Bundesrepublik erleben.
Nils Franke: Man muss in jedem Fall besorgt sein. Während die AfD in Leipzig, und damit in der einwohnerstärksten Stadt Ostdeutschlands, langfristig keine Chance auf spürbaren politischen Einfluss hat, besteht diese Gefahr in vielen Kommunalparlamenten auf dem flachen Land sehr deutlich.
dokddoc: Wird in diesem Kontext die Brandmauer gegen die AfD halten können? Kann ohne AfD noch regiert werden?
Andreas Speit: In Ostdeutschland ist die CDU tatsächlich in einer Zwickmühle. Sie kann wegen ihren Positionen und Habituellen überhaupt nicht mit der Linkspartei; mit den Grünen und der SPD mit viel innerem Ringen schon eher. Doch für diese Regierungszweckgemeinschaften könnten wegen der schwachen Ost-SPD die Mehrheiten fehlen. Und in der CDU ist so ein Bündnis mit den Grünen nicht die erwünschteste Konstellation. Die CDU will aber im Osten die Regierungsmacht haben. Die AfD ist da rechnerisch ein Koalitionspartner. Und machen wir uns nichts vor, einzelne Inhalte der AfD gegen „Gender“ und „Klimawahn“, oder für die klassische Familie und begrenzte Einwanderung teilten Teile der Union. In Thüringen konnten wir schon erleben, dass ein FDP-Landtagsgruppenvorsitzender mit Stimmen der CDU und AfD Landesministerpräsident wurde. Der gesellschaftliche Druck führte zum Rücktritt. Ein Tabu war aber gebrochen. In einem Bundesland, wo schon vor 1933 – 1930 – dank der Konservativen die NSDAP an der Regierung beteiligt war.
dokdoc: Thüringens AfD-Landeschef Björn Höcke strebt das Amt des Ministerpräsidenten an. Wie schätzen Sie seine Chancen ein?
Nils Franke: Als Rechtsextremist kann Herr Höcke kein Amt in der Exekutive übernehmen. Er kann sich dafür bewerben, er kann sich aufstellen lassen, aber bevor er dieses Amt bekommt, wird seine Verfassungstreue überprüft. Das ist bei jeder Person so, und diese Person, das muss man klar sagen, erfüllt nicht die Voraussetzung. Um also Ihre Frage konkret zu beantworten: Er wird es aus den genannten Gründen nicht werden. Hier funktioniert die „wehrhafte Demokratie“ – ein wichtiges Schlagwort – in Deutschland noch sehr gut.
dokdoc: Und wofür steht er?
Nils Franke: Das kann man dem französischen Publikum sehr einfach erklären. Es steht für den völkischen Nationalismus, und das ist im Grunde genommen die Kernideologie des Nationalsozialismus.
dokdoc: Herr Franke, Sie engagieren sich seit vielen Jahren im Kampf gegen Rechtsextremismus, vor allem in Sachsen. Wie geht man heute mit dem Erstarken der AfD um? Kann man mit Bildungspolitik und der Kraft der Argumente diesem Trend etwas entgegensetzen bzw. die Leute noch erreichen?
Nils Franke: Das Instrument der Bildungspolitik ist definitiv eins, das extrem wichtig ist und in dem ich mich sehr stark engagiere. Es ist unabdingbar für die politische Willensbildung innerhalb einer Gesellschaft; aus dem Grund kann man auf dieses Mittel keinesfalls verzichten. In Sachsen sind in den vergangenen Jahren in vielen Landesteilen Demokratie-Schwerpunkte entwickelt worden, als Reaktion auf das Erstarken des Rechtsextremismus. Der Befund ist klar: Wir haben es in Ost-Deutschland mit einer überforderten und sehr erschöpften Gesellschaft zu tun. Wir haben es mit einer Bevölkerung zu tun, in der es Teile gibt, die sich immer noch als minderwertig gegenüber den Westdeutschen sehen. Wir haben es mit Menschen zu tun, die im ländlichen Raum völlig abgehängt leben, weil die Wirtschaftspolitik seit der Wiedervereinigung nicht so funktioniert hat, wie man sich das von Seiten insbesondere der CDU dachte.
Andreas Speit: Höcke inszeniert sich, als ob er im Osten groß geworden wäre und alles mit erlitten hätte. Bei einer zentralen Rede am Tag der Wiedervereinigung in diesem Jahr hat er auch nochmal explizit gesagt: Wenn er sich entscheiden müsste, dann würde er sich für den Osten entscheiden, gegen den Westen, gegen den „Regenbogen-Imperialismus“, gegen Emanzipation, gegen Liberalismus, gegen Individualismus. Diese Linie sieht er auch bei Putin und Trump. In dieser Position schwing eine antiwestliche Position mit, das die Versprechen der Französische Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit negieren will.
dokdoc: Wir wechseln nun die Ebene. Wofür steht die AfD in Europa?
Andreas Speit: Auf dem letzten Parteitag, wo es auch um die Europa-Strategie der AfD ging, ist Höcke wieder einmal mit einem ziemlich deutlichen Satz aufgefallen: „Die EU muss sterben, damit Europa leben kann.“ Das erinnert an einen anderen historischen Spruch aus der Zeit des Nationalsozialismus. Das hat er bewusst gesagt. Auffallend waren auch die Aussagen des Kandidaten aus Hamburg, Michael Schumann. In Anspielung auf die Klimaschutzgruppe „Die letzte Generation“ sagte er, er sei Teil der letzten Generation, die den großen Austausch der ureigenen Bevölkerung durch Fremde noch stoppen könnte und forderte die Einführung von Rückführungsprogrammen. Diese Radikalität, die sich jetzt schon im Vorfeld des Wahlkampfes andeutet, zeigt ziemlich deutlich, mit was für einem Feuer die AfD 2024 in das Europaparlament gehen wird!
dokdoc: Man weiß wenig über die Beziehungen zwischen der AfD und dem RN. Dabei gehören beide auf europäischer Ebene der Partei „Identität und Demokratie“ an. Können Sie uns mehr dazu sagen?
Andreas Speit: Auf dem letzten Parteitag hat die AfD beschlossen, Teil dieser Partei zu werden. Einige waren sehr skeptisch. Manche haben sogar der Bundesführung vorgeworfen, damit jetzt auch Teil des europäischen Parlamentarismus zu werden. Festzuhalten ist zudem, dass die Partei einen Dexit beschlossen hat, obwohl man ganz genau sieht, was der Brexit gebracht hat.
Nils Franke: Man arbeitet vor allem konzeptionell zusammen, z.B. bei der Strategie der Normalisierung, die in Frankreich deutlich früher stattgefunden hat, und die die AfD übernommen hat.
dokdoc: Und warum zeigt sich Marine Le Pen nie mit der AfD zusammen?
Andreas Speit: Ich glaube, sie wird sehr genau mitbekommen haben, dass es in der Bundesrepublik eine harte Diskussion gibt, ob man diese Partei nicht als rechtsextrem einstufen sollte. Das würde am Ende zu einem Verbot führen. Das könnte ihr Image, das sie sich aufgebaut hat, beschädigen. Ich kann mich auch noch an ein Interview im Cicero 2013 erinnern, in dem man sie gefragt hat, wie ihr Verhältnis zur NPD im Europaparlament ist, und sie betont antwortete, die NPD sei „rechtsextrem“ und gleich nachschob: „wir nicht“. Von Subbotschaft kann schon nicht mehr gesprochen werden: Marine le Pen zeigt auf andere Rechtsextreme, um nicht selbst als Rechtsextrem wahrgenommen zu werden. Die Zurückhaltung zur AfD könnte dieser Überlegung geschuldet sein.
dokdoc: Herr Franke, Herr Speit, ich danke Ihnen für dieses Interview.
Die Fragen stellte Landry Charrier
Unsere Gäste
Nils Franke ist Historiker und Leiter des Wissenschaftlichen Büros Leipzig. Seine Schwerpunkte sind die Geschichte des Nationalsozialismus, die Natur- und Umweltschutzgeschichte und die Extremismusprävention. Er ist zudem ehrenamtlich im Vorstand der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim/ehemals Auschwitz tätig.
Andreas Speit ist Journalist und Publizist zum Thema Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, arbeitet für die taz, WDR und Deutschlandfunk Kultur. Er hat mehrere Auszeichnungen. Zur AfD veröffentlichte er „Bürgerliche Scharfmacher (2016), „Das Netzwerk der Identitären“ (2018) und „Die Entkultivierung des Bürgertums“ (2019). Jüngstes Buch: „Verqueres Denken – gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus“.