Deutsch-französische Zusammenarbeit
Deutsch-französisches Zukunftswerk: Nun sind beide Länder am Zug
Der Vertrag von Aachen vom 22. Januar 2019 hat die Weichen für eine neue Plattform der bilateralen Zusammenarbeit auf Kommunalebene gestellt: das Deutsch-Französische Zukunftswerk. Rückblick auf die letzte Arbeitsrunde mit Birgit Holzer.
Es ist der Moment für die letzten Anpassungen, Umformulierungen, Zusätze, und alles zweisprachig. Konzentriert beugen sich Männer und Frauen verschiedenen Alters über mehrere Tische, auf denen Notizzettel ausgelegt sind. Diese nutzen sie für Anmerkungen rund um das Thema Experimentierklauseln, welche Kommunen anwenden können, um neue Modalitäten auszuprobieren – beispielsweise die Pop-Up-Radwege, die vor allem während der Corona-Pandemie entstanden. „Der Nachweis von einfacher/qualifizierender Gefahrenlage nach der Straßenverkehrsordnung muss weg. Er widerspricht dem Experimentiergedanken“, steht auf einem Zettel. „§3 Bau-Gesetzbuch: Alternativlösungen im Bauordnungsrecht für temporäre Bauten“ auf einem anderen. Auch die sogenannten „ZAD“, die „Zones à défendre“, auf Deutsch „zu beschützende Zonen“, sind aufgeführt als Orte, die erlauben „das Verhältnis zu einem Gebiet neu zu denken“.
„Handlungsempfehlungen“ für deutsche und französische Kommunen
Schnell wird erkennbar, dass die Anmerkungen von Menschen stammen, die sich mit der Nutzung und Verteilung von öffentlichem Raum und den dafür geltenden Regeln und Gesetzesparagrafen befassen. Sie arbeiten in Ministerien, Kommunalverwaltungen, als Wissenschaftler, für auf Mobilität oder Stadtplanung spezialisierte Unternehmen oder engagieren sich in Bürgervereinen. Und sie sind Partner des Deutsch-Französischen Zukunftswerks, das auf Basis ihrer Kenntnisse und Praxiserfahrungen Handlungsempfehlungen für die politischen Verantwortlichen in beiden Ländern ausarbeitet. Allgemein geht es um die Frage, wie sich deutsche und französische Kommunen zukunftsfähig und nachhaltig entwickeln und wie die Transformationsprozesse beschleunigt werden können.
Der aktuelle dritte Arbeitszyklus dreht sich um nachhaltige Stadtentwicklung in den Bereichen Mobilität, Freiflächen, Mitnahme/Partizipation und Stadtbegrünung. Als „Resonanzräume“ werden die Zusammenkünfte der insgesamt 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland und Frankreich bezeichnet – ein Begriff, der auf die Offenheit der Debatten verweist. Auf ein erstes Treffen im Frühjahr in München folgten virtuelle Besprechungen in Gruppen und schließlich die Begegnung in Lyon.
Der letzte Feinschliff – vor der offiziellen Übergabe
Intensiv wird dort in einer Runde darüber diskutiert, wer in einer Kommune konkret die Begrünung von Freiflächen übernimmt, auch wenn sie schon bewilligt wurde. „Kümmert sich darum das Rathaus? Wird es ausgeschrieben? Wer ist zuständig?“, fragt ein junger Mitarbeiter der Stadtverwaltung in Marburg. „Diese Fragen sind zu klären, damit die gut gemeinte Idee auch umgesetzt wird.“
Momentan befinden sich die Handlungsempfehlungen noch im Stadium letzter Feinschliff. Am 18. Januar 2024, vier Tage vor dem Deutsch-Französischen Tag, werden sie dann offiziell vorgestellt. Sie richten sich nicht nur an die beiden nationalen Regierungen, sondern auch an den Deutsch-Französischen Ministerrat und an die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung.
Es geht nicht um politische Streitthemen, sondern um gemeinsame Herausforderungen.
Themen, die alle Gesellschaften unter Druck setzen
Während die Vertreter der höchsten politischen Ebenen in Paris und Berlin bei etlichen Fragen – von den gemeinsamen Rüstungsprojekten über den europäischen Strommarkt bis hin zur Energiedebatte – um Annäherung ringen, gelingt diese beim Zukunftswerk fast von selbst. Die Kommunen stehen in beiden Ländern vor denselben Herausforderungen und profitieren gleichermaßen von einem Austausch über Lösungsansätze. „Wir diskutieren hier nicht über die grundsätzliche Frage ‚Atomkraft oder nicht Atomkraft‘, sondern darüber, was man voneinander lernen und was die öffentliche Hand tun kann“, sagt Frank Baasner, Co-Direktor des Deutsch-Französischen Zukunftswerks. Im Hauptberuf ist er Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg (dfi) und damit bestens vertraut mit dem Dialog zwischen beiden Ländern. „Das Besondere am Zukunftswerk ist, dass wir nicht über die deutsch-französische Zusammenarbeit einsteigen, sondern über Themen, die alle Gesellschaften unter Druck setzen“, sagt Baasner. So kommen Kommunen zusammen, die noch nicht schon immer zusammengearbeitet haben.
Organisierter Erfahrungsaustausch
Eingerichtet wurde das Deutsch-Französische Zukunftswerk im Zuge des Vertrags von Aachen, als Ergänzung zum Élysée-Vertrag, den der französische Präsident Emmanuel Macron und die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel im Januar 2019 unterzeichneten. Diese Gründung zielte darauf ab, „Interessenträger und einschlägige Akteure aus beiden Staaten“ zusammenzubringen, „um sich mit Transformationsprozessen in ihren Gesellschaften auseinanderzusetzen“ – so die offizielle Erläuterung. Parallel wurden der deutsch-französische Bürgerfonds sowie der deutsch-französische grenzüberschreitende Ausschuss ins Leben gerufen. Angesichts der Fülle bestehender Strukturen sei er selbst „erfreut und auch ein wenig überrascht“ über die Schaffung des Zukunftswerkes gewesen, räumt Frank Baasner ein. Die Idee dahinter sei, dass die Gesellschaften bereits viel aus sich selbst heraus produzieren und selbst initiativ werden können, um die großen Veränderungen unserer Epoche zu managen. Der Erfahrungsaustausch werde gefördert und mit dieser Plattform ein Instrument geschaffen, um ihn zu organisieren und für die Politik sichtbar zu machen.
Vorbild 49-Euro-Ticket
„Die Kommunen stehen unter mehrfachem Stress, weil sie viel regeln müssen: von der Gebäude-Isolierung über die CO2-Reduzierung und die Flüchtlingsfrage bis zur Energieversorgung“, erklärt Frank Baasner. Es herrsche längst großer Willen, mit der notwendigen Transformation ernst zu machen, doch gebe es Blockaden, teils administrativer, teils gesetzlicher Art. Die Handlungsempfehlungen könnten helfen, diese zu benennen und sie so zu lösen. Ein Beispiel sei das in Deutschland erfolgreich angelaufene 49-Euro-Ticket, das in der französischen Regierung auf großes Interesse stößt. Bei den jüngsten Gesprächen war laut Baasner auch ein Berater aus dem Élysée zugegen, um mehr über das Modell des Einheitstickets zu erfahren.
Vorbilder gibt es auf beiden Seiten. Sie finden Eingang in die Handlungsempfehlungen. Dort wird auch das französische „Versement mobilité“ angeführt, eine zweckgebundene Mobilitätsabgabe der ortsansässigen privaten und öffentlichen Arbeitgeber. Denn um den Ausbau und die Modernisierung der ÖPNV-Infrastruktur, eine höhere Taktung und attraktive Preisgestaltung zu gewährleisten, seien „neben der Bereitstellung staatlicher Mittel und der Umschichtung klimaschädlicher Subventionen zusätzliche Finanzierungsinstrumente“ zu schaffen, heißt es in einem der Entwürfe.
Nächster Arbeitszyklus dreht sich um die Wärmewende
Einige der Ideen betreffen beide Länder gleichermaßen, etwa hinsichtlich der Planung, Umsetzung und Pflege von grüner Infrastruktur. So koste eine Baumpflanzung und die an die zunehmende Trockenheit angepasste Pflege in Lyon wie in München in den ersten Jahren 300 bis 500 Euro. „Da einfach zu begrünende Standorte zunehmend rar werden und entsprechende Kosten für die Entsiegelung und gegebenenfalls Umlegungen im Boden verbauten Leitungen anfallen, ist ein deutlicher Kostenanstieg zu verzeichnen“, wird geschlussfolgert. Deshalb sollten die Länder jeweils prüfen, wie Mittel aus dem EU-Emissionshandel, aus dem deutschen Klima- und Transformationsfonds und dem französischen Klima-Energie-Beitrag genutzt werden könnten.
Was auf den ersten Blick nach kühlem „Verwaltungs-Deutsch“ oder – in der übersetzten Version „Verwaltungs-Französisch“ – klingt, ist vor allem die Frucht von intensivem Austausch. Diese Ergebnisse nun an jene heranzutragen, die entscheiden, wird der nächste Schritt sein, während bald auch schon die Vorbereitung für den nächsten Arbeitszyklus zum Thema „Planen, Sanieren, Reduzieren“ beginnt. Dann wird es um die Frage gehen, wie sich die Wärme- und Energiewende auf lokaler Ebene stemmen lässt. Ganz präzise und konkret, so wie es die Lösungsvorschläge sein wollen.
Die Autorin
Birgit Holzer lebt und arbeitet seit 2009 in Paris. Als Auslandskorrespondentin berichtet sie für deutschsprachige Tageszeitungen über Frankreich – von Politik über Wirtschaft bis zu gesellschaftlichen Themen, darunter auch Tourismus, Gastronomie, Kultur oder Mode.