Restitution und Erinnerungsarbeit
„Recherchieren, verstehen und restituieren bedeutet, die Erinnerung an den Holocaust weiterzugeben“
Seit dem Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas erlebt Europa einen beispiellosen Ausbruch antisemitischer Taten. dokdoc wollte ein Zeichen setzen und hat mit der Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignungen aufgrund der antisemitischen Gesetzgebung während der Besatzungszeit (CIVS) und der Mission für die Suche und Restitution von zwischen 1933 und 1945 geraubten Kulturgütern (M2RS) gesprochen. Ausgangspunkt der Diskussion war die Restitution, die am 29. September in Toulouse stattgefunden hat.
dokdoc: Am 29. September fand in Toulouse die Restitution von 34 Büchern aus der Sammlung des deutschen Psychiaters und Professors Dr. Erich Stern statt. Warum nimmt diese Restitution einen besonderen Platz in der Arbeit der CIVS und der M2RS ein?
Michel Jeannoutot: Die Stern-Restitution ist einer der ersten Fälle, in denen die CIVS die ihr im Oktober 2018 übertragene Vollmacht nutzte, von sich aus und nicht nur auf Antrag tätig zu werden, was Juristen als Selbstbefassung bezeichnen.
David Zivie: Diese Restitution ist ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit mit Deutschland. In punkto Forschung sind die deutschen Bibliotheken denen anderer Länder heute schon ziemlich weit voraus. Im Fall von Dr. Erich Stern war es die Zentral- und Landesbibliothek Berlin, die mit einer einfachen Botschaft an die CIVS-Zweigstelle in Berlin herantrat: Wir haben 34 Bücher, wir hätten gerne Hilfe bei der Rückgabe. Das ist proaktive Forschung, etwas völlig Neues. In diesem Fall war unsere Arbeit recht einfach, weil Dr. Stern jemand ist, den man leicht in den Archiven findet; denn er überlebte den Krieg und unternahm von sich aus Schritte, um die aus seinem Haus gestohlenen Bücher zurückzubekommen. Dies ist jedoch nicht das einzige Beispiel. Weitere Fälle werden bald erfolgreich abgeschlossen werden.
dokdoc: In den letzten Jahren wurde der Restitution von Kunstwerken viel Aufmerksamkeit gewidmet. Inwiefern ist die Restitution von Büchern besonders wichtig?
Michel Jeannoutot: Die Restitution von Büchern ist für die CIVS ziemlich neu. Bis vor kurzem hatte die Enteignung von Bibliotheken weder die Aufmerksamkeit der Forschung noch die der öffentlichen Politik der Wiedergutmachung und Restitution besonders erregt. Und übrigens glaube ich, dass einer der ersten, der darüber gesprochen hat, David Zivie in seinem Bericht war, den er im Sommer 2018 der damaligen Kulturministerin Françoise Nyssen vorlegte.
David Zivie: Da sind in erster Linie einige wegweisende Arbeiten zu nennen, besonders die von Martine Poulain: Sie veröffentlichte 2008 ein zentrales Werk über geplünderte Bibliotheken und organisierte 2017 ein wichtiges Kolloquium, mit dem auf das Thema der geraubten Bücher aufmerksam gemacht wurde. Am Tag des Kolloquiums wurde übrigens ein in der französischen Nationalbibliothek gefundenes Buch zurückgegeben, das Victor Basch gehört hatte, dem von der Miliz 1944 ermordeten Präsidenten der Menschenrechtsliga. Das war ein wichtiger Moment. Seitdem wurden mehrere Bücher aus dem Besitz Georges Mandels von zwei deutschen Bibliotheken an seine Rechtsnachfolger zurückgegeben. Ein Buch ist nicht ein Kunstwerk, es ist ein Gebrauchsgegenstand, der gelesen, durchgeblättert, berührt und wohl sehr geschätzt wurde. Es ist etwas sehr Persönliches. Die Arbeit, die noch vor uns liegt, ist immens, denn Schätzungen zufolge wurden allein in Frankreich mindestens fünf Millionen Bücher gestohlen. Wir werden in Kürze weitere geraubte Bücher zurückgeben, die in französischen Bibliotheken gefunden wurden. Das hat eine sehr starke Symbolik.
dokdoc: Können Sie uns ein paar Worte zum Werdegang des Dr. Erich Stern sagen? Handelt es sich um einen Einzelfall?
Michel Jeannoutot: Der Werdegang des Dr. Stern ist letztlich recht klassisch. Er war Arzt, Psychiater und Psychologe. Er wurde 1933 aufgrund seiner jüdischen Herkunft in den Ruhestand versetzt und emigrierte anschließend mit seiner Frau in die Schweiz und später nach Frankreich. Beim Einmarsch der deutschen Truppen 1940 flüchtete er in die Dordogne, und da wurde dann seine Pariser Wohnung geplündert.
dokdoc: Am 1. Januar 2019 wurde ein Netzwerk der europäischen Restitutionskommissionen eingerichtet. Es hat mittlerweile fünf Mitgliedsländer: das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Österreich, Deutschland und Frankreich. Was war der Grund für diese Initiative? Und wie arbeiten diese Kommissionen konkret zusammen?
Michel Jeannoutot: 2017 kam in London die Idee auf, die damals in Europa vorhandenen Kommissionen zu strukturieren. Frankreich war eins der Länder, die hierfür den Anstoß gaben. Die Ausschüsse tauschen sich heute regelmäßig im Wesentlichen über Fragen der Rechtssetzung aus.
David Zivie: Im Vergleich zu den anderen Kommissionen des Netzwerks ist das französische System etwas Besonderes: Frankreich ist das einzige Land ist, in dem die Familien noch entschädigt werden. Das Netzwerk ermöglicht es auch, die Aufmerksamkeit auf unsere Arbeit zu lenken und auf diese Weise neue Restitutionen zu generieren.
Michel Jeannoutot: Vor kurzem wandte sich ein britisches Museum wegen der Rückgabe eines Courbet an uns. Die guten Beziehungen, die wir im Rahmen des Netzwerks zu unseren britischen Kollegen aufgebaut hatten, haben uns die Arbeit enorm erleichtert.
dokdoc: Wie verläuft die Zusammenarbeit mit Deutschland? Was sind ihre größten Erfolge? Und auf welche Schwierigkeiten stößt sie?
Michel Jeannoutot: Die Zusammenarbeit zwischen der CIVS und Deutschland war insbesondere Gegenstand einer mittlerweile verlängerten Vereinbarung mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste. Unsere CIVS-Außenstelle in Berlin ist in diesem Zusammenhang ein wertvolles Bindeglied. Dank ihrer konnten wir vertrauensvolle Beziehungen zu den Archiven und zu den verschiedenen institutionellen und nichtinstitutionellen Akteuren aufbauen, die sich in Deutschland für Restitution oder Entschädigung einsetzen.
David Zivie: Die M2RS ist Teil dieser Kooperation. Wir arbeiten eng mit dem Arbeitskreis Provenienzforschung e. V. und vielen Bibliotheken zusammen. Wir haben auch einen regen Austausch mit den Dienststellen von Claudia Roth, der für Restitutionsfragen zuständigen Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). Diese Kontakte ermöglichen es zuweilen, Blockaden aufzulösen oder das Problem von auf dem Kunstmarkt angebotenen Kunstwerken anzusprechen. Deutschland ist jedoch kein so zentralisiertes Land wie wir, und die Bundesregierung ist für die kulturellen Einrichtungen nicht zuständig. Anders als in Frankreich werden nicht alle Fälle von einer einzigen Institution wie der CIVS geprüft.
dokdoc: Warum sollte fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch restituiert werden?
Michel Jeannoutot: Zunächst eine historische Feststellung. In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es zwar Restitutionen, insbesondere von Immobilien, und einige Restitutionen von Kulturgütern, aber angesichts des Ausmaßes der Enteignungen war die Zahl relativ gering. Als dann nach und nach andere Prioritäten gesetzt wurden – nämlich Wiederaufbau und Wirtschaftsaufschwung – trat das Thema ein wenig in den Hintergrund. Die Grundsatzrede von Präsident Chirac (Anm. d. Red: 16. Juli 1995), in der er die Verantwortung Frankreichs für die Deportation von Personen jüdischen Glaubens anerkannte, war der Auslöser für die Matteoli-Kommission, die eine Bilanz der Enteignungen aller Art zog, denen die Juden in Frankreich zwischen 1940 und 1945 zum Opfer gefallen waren. Die damals beschlossene und ab dem Jahr 2000 von der CIVS umgesetzte Politik der Entschädigung und im weiteren Sinne der Wiedergutmachung legte den Schwerpunkt auf die Enteignung von Kulturgütern, einen Bereich, in dem „Frankreich mehr tun kann“, so der damalige Premierminister Édouard Philippe. Das Dekret vom 1. Oktober desselben Jahres erweiterte die Zuständigkeiten unserer Kommission; denn es ermöglichte ihr die Selbstbefassung und sorgte durch die Einrichtung der M2RS für die Stärkung ihrer Forschungs- und Restitutionsaktivitäten. Schließlich erleichterte das vom Parlament einstimmig verabschiedete Gesetz vom 22. Juli 2023 die Rückgabe von in öffentlichen Sammlungen befindlichen Kulturgütern. Die Kommission, deren „unparteiische“ Intervention sowohl Familien als auch kulturellen Einrichtungen die nötige Sicherheit garantiert, wird daher in den kommenden Monaten eine noch wichtigere Rolle spielen, insbesondere aufgrund der Ausweitung ihres Zuständigkeitsbereichs auf die Jahre 1933-1945 und alle von Nazi-Deutschland besetzten, kontrollierten oder beeinflussten Gebiete.
David Zivie: Warum restituieren? Weil wir es nicht früher getan haben, und weil es noch zu tun ist. Insgesamt sind heute viele Gegenstände identifizierbar und auffindbar. Man darf jedoch nicht davon ausgehen, dass sich alles in öffentlichen Sammlungen befindet. Viele Objekte befinden sich entweder in Privatbesitz oder auf dem Kunstmarkt. Es werden noch Rückerstattungen oder Entschädigungen an Personen getätigt bzw. gezahlt, die den Enteigneten noch sehr nahestehen: an die Kinder der Enteigneten, die heute hochbetagt sind, oder an ihre Enkel, die auch schon fortgeschrittenen Alters sind. Und man sieht viele Urenkel, Urenkelneffen, diese dritte Generation, die sich sehr für dieses Thema interessiert und Fragen stellt, die vorher weder gestellt noch beantwortet wurden.
dokdoc: Die CIVS wurde im Anschluss an die Rede von Präsident Chirac am 16. Juli 1995 gegründet. Welche Rolle spielen Ihre Strukturen in einer Zeit, in der der Antisemitismus immer mehr zunimmt?
David Zivie: Unsere Arbeit ist in erster Linie ein Werk der Gerechtigkeit und ein Werk der Erinnerung. Sie trägt auch zur Erklärung dessen bei, was geschehen ist, sie zeigt das Ausmaß der Verfolgung und erinnert vor allem daran, dass diese Enteignungen, diese Plünderungen eines der Kernelemente des globalen Nazi-Projekts zur Ausrottung der europäischen Juden sind. Recherchieren, verstehen und restituieren bedeutet also auch, die Erinnerung an den Holocaust weiterzugeben; und das ist ein Beitrag zur Pädagogik, zur Aufklärung und daher vielleicht auch schon eine wichtige Etappe.
Michel Jeannoutot: Die Politik Frankreichs in diesem Bereich zeigt die Fähigkeit unseres Landes, eine verantwortungsvolle Politik zu betreiben. Diese Politik kennt keine Ausschlussfristen. Und das ist im Hinblick auf alle Menschen jüdischen Glaubens äußerst wichtig.
dokdoc: Herr Jeannoutot, Herr Zivie, ich danke Ihnen für dieses Interview.
Die Fragen stellte Landry Charrier
Übersetzung: Norbert Heikamp
Unsere Gäste
Michel Jeannoutot ist seit 2011 Vorsitzender des Beratungskollegiums der CIVS und ehemaliger Erster Präsident des Berufungsgerichts und Ehrenrat am Kassationsgericht.
David Zivie ist ein hoher Beamter im Kulturministerium. 2018 veröffentlichte er einen Bericht über die Organisation der Rückgabe von während des Zweiten Weltkriegs geraubtem Kulturgut mit dem Titel: „Des traces subsistent dans des registres…“. Kulturgüter, die während des Zweiten Weltkriegs entzogen wurden: eine Ambition zum Suchen, Finden, Restituieren und Erklären„. Seit Mai 2019 ist er Leiter der M2RS des Kulturministeriums.
Weiter zum Thema
- Website der Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignungen, die aufgrund der während der Besatzungszeit geltenden antisemitischen Gesetzgebung erfolgten (CIVS): https://www.civs.gouv.fr.
- Website der Mission de recherche et restitution des biens culturels spoliés entre 1933 et 1945 (M2RS): www.culture.gouv.fr/spoliations-restitutions-1933-1945.
- Podcasts „Auf der Spur“. Eine vom Kulturministerium (M2RS) produzierte Dokumentarserie zur Entdeckung der Welt der Forschung über Raubkunst, die Politik der Wiedergutmachung von Enteignungen und die aufwändigen Untersuchungen, https://smartlink.ausha.co/a-la-trace.