Frankreich verstehen
Alle Wege führen nach Paris?
Der neue Asterix („Die Weiße Iris“) sagt uns – unterschwellig und mit Humor – viel über Frankreich und seinen Zentralismus. Das Gallierdorf führt ein Eigenleben weitab von Lutetia, wo die Uhren anders gehen – sehr zum Befremden der Gallier. Dennoch verlockt ihr Sirenengesang eine Bonnemine dazu, dem römischen Lifestyle-Guru Visusversus dorthin zu folgen.
Wer diesen Band und die früheren zwischen den Zeilen liest, entdeckt viel Wissenswertes. Allem voran die Aufteilung des Landes in Paris und Provinz. Lutetia ist ein Begriff, doch das Gallierdorf hat keinen Namen – genauso wie der Teil des Landes, den man früher „Provinz“ nannte, und heute mit dem politisch korrekteren „en régions“ bezeichnet. Dort leben die Menschen, die nicht nur im Comic als „aufmüpfige Gallier“ bezeichnet werden. Es sind immerhin 80 % der Bevölkerung Frankreichs. Es ist ein Landteil, über dessen Schicksal (fast) allein Paris entscheidet, der in der Hauptstadt jedoch kaum wahrgenommen wird, außer er protestiert lauthals.
Pyramidale Hierarchien
Paris ist Sitz des Elysée-Palastes, der Regierung und der Zentralverwaltung. Anders als im föderalen Deutschland, wo die Verwaltungshoheit bis auf wenige Ausnahmen bei den Bundesländern liegt, wird diese in Frankreich direkt von der Zentralregierung ausgeübt. Betroffen sind das Schulwesen, die Kultur, das Gesundheitssystem, die Polizei bis hin zur Steuerverwaltung. Über Lehrstellenzuteilung, Schulpläne oder Anti-Corona-Maßnahmen u.v.a.m. im ganzen Land wird in Paris entschieden. Und zwar einheitlich, undifferenziert, auf lokale Belange wird kaum eingegangen. Für die Umsetzung der in Paris beschlossenen Politiken bzw. Maßnahmen in allen untergeordneten Gebietskörperschaften sind die Préfets zuständig – als verlängerter Arm des Premierministers bzw. der Premierministerin. Auch die Régions unterstehen ihrer Rechts- und Rechnungsaufsicht. Denn eine Région ist nur eine ausgelagerte Verwaltungseinheit, die mit der Ausführung begrenzter Aufgaben betraut ist. Sie ist, anders als ein deutsches Bundesland, kein mit Verwaltungsautonomie oder eigenen Hoheitsrechten ausgestattetes Gebiet. Sie gestaltet auch die Pariser Politik nicht mit.
Das Gemeinwesen bestimmt Paris
Dass Macron Ende Oktober der Insel Korsika Autonomie zusagte, bedeutet allein, dass einige, noch zu definierende, regionale Besonderheiten in Zukunft besser berücksichtigt werden sollen. Auch wenn die Insel als Gebietskörperschaft mit einem eigenen Status ausgestattet ist, bleibt sie eine untergeordnete Verwaltungseinheit. Das meinte Macron mit der Formel: „autonomie dans la République“.
Mehr Autonomie im Sinne von Eigenverantwortung ist nicht möglich. Frankreich ist eine „République une et indivisible“, was bedeutet, dass die Staatsgewalt von Paris ausgehen muss und dass allein die Zentralregierung das Gemeinwohl bestimmen kann. Die Gesellschaft ist nicht mitbeteiligt. Sie ist, anders als in Deutschland, nicht organisiert: Ihre Interessenvertreter verfügen über keine institutionellen Mitgestaltungsrechte. Die Staatsorgane stehen hierarchisch über der Gesellschaft. Ein Verständnis des Subsidiaritätsprinzips wie in Deutschland lässt die pyramidale Hierarchie der Staatsorgane im Zentralismus nicht zu.
Zwar hat es seit den 1980er Jahren eine Reihe von Reformen zur Dezentralisierung gegeben. Als die Kammer aller Gebietskörperschaften macht sich der Sénat für weitere Forderungen laut, doch kann dies allein die Auslagerung von wenigen Kompetenzen und nur in der Form von Auftragsverwaltung betreffen. Alles andere würde das Staatsgefüge und somit das -verständnis sprengen, indem es beides gefährlich in die Nähe des Föderalismus rücken würde Dieser Begriff ist seit der Révolution 1789 ein Schreckgespenst: Unter diesem Banner fochten die Girondiner gegen die Jakobiner an, gegen die Verfechter des Zentralismus.
Sprache als Tragpfeiler für die Einheit der Nation
Die Einheit der Republik ruht nicht nur auf der Symbiose von Exekutive und Verwaltung und dem pyramidalen Zuschnitt der Institutionen. Auch Französisch als Sprache der Nation kommt diese Rolle zu. Erst seit Ende der 1960er Jahre sprechen alle Franzosen diese Sprache, die 1539 König Franz I. mit dem Erlass von Villers-Cotterêts zur offiziellen Sprache erhoben hatte. Später war das Französische für die Jakobiner das Mittel, die Republik zu etablieren. Macron würdigte dies Ende Oktober offiziell, indem er das teuer renovierte Schloss in Villers-Cotterêts nördlich von Paris zur internationalen Gedenkstätte der Einheit der Republik deklarierte und Frankreich als sprachliche Supermacht zelebrierte. Die zahlreichen Regionalsprachen, die es in Frankreich gibt, dürfen zwar heute gesprochen werden und hin und wieder „zweisprachige“ Straßenschilder schmücken, Amtshandlungen aber können nur in der Amtssprache geführt werden. Die älteren Generationen erinnern sich noch daran, dass solch ein „Sprech“ auf dem Schulhof unter Strafe stand. In der Pariser Öffentlichkeit gibt es heute nur zwei Sprachfärbungen, die als edel gelten: Okzitanisch oder Provenzialisch. Alle anderen Akzente muss man tunlichst vermeiden, wenn man „etwas werden“ will. Die Sprache Molières ist Hofsprache, Dialekt sprechen in seinem Werk allein die Knechte und Mägde. Selbst Asterix spricht Standard-Französisch. Das ist der Grund, weshalb Frankreich die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen bisher nicht umgesetzt hat: Sie wird als eine Gefahr für die Einheit der Nation empfunden. Der Kontrast zum deutschen Verständnis von „Einheit in Vielfalt“ könnte kaum größer sein. Einen Asterix-Band „auf Revierdeutsch“ etwa kann es nur in Deutschland geben.
„Monarchische Republik“ und Pariser Staatsadel
Schwer vorstellbar ist auch, dass sich in Paris absolut alles entscheidet – nicht nur Politik, auch Wirtschaft, Kultur, Kreativwirtschaft, Informationsmedien, Medizin, Bildung. Diese Stadt, die stark gentrifiziert ist, d.h. wo sich die einkommensstarke Oberschicht bzw. die Elite konzentriert, bildet eine Art Biotop, in dem der Mainstream entsteht, der dann über die Pariser Medien ins Land verbreitet wird. Auch das schildert uns Asterix mit einem Augenzwinkern. Der Zentralismus prägt ebenfalls die veröffentlichte Meinung.
Denn das Informationsgeschehen ist Paris-zentriert. Alle Studios, alle führenden Zeitungsredaktionen, sei es Paper oder digital, befinden sich in Paris. Das gleiche gilt für die Studiogäste. Sie werden nur selten von außerhalb zugeschaltet, weil es abseits des Stadtrings kaum Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gibt. So bleibt man unter sich: Politiker, Industriebosse, Philosophen, Stars aus Kunst und Showbiz. „Mediaklatura“ wurde diese Elitenriege einmal getauft.
Alle kennen sich, sie entstammen demselben Milieu (gehobenes Bürgertum), haben dieselben Pariser Elite-Einrichtungen besucht (von Sciences Po bis ENA oder Polytechnique) und sind selbst bis auf wenige Ausnahmen Kinder der Elite. Sie gehören dazu, von Geburt an. Die Bezeichnung „monarchische Republik“ meint nicht nur das Institutionengefüge oder die Stellung des Präsidenten als „Jupiter“, wie sie Macron taufte, sondern auch die Ausübung der Macht durch diesen Pariser Staatsadel. Wer nicht über die nötigen Sozial-Codes verfügt, mag er noch so kompetent sein, wird zu dieser Elite nie aufsteigen können. So bildet Paris im Land eine eigene Welt, eine, auf die alles ausgerichtet ist.
Starkes Wohlstandsgefälle Paris/Provinz
Frankreichs Zentralismus ist sogar auf Karten abgebildet. Die Autobahntrassen oder die des Hochgeschwindigkeitszuges TGV sind alle Paris-zentriert, fast ohne Querverbindungen. Nur entlang dieser Hauptachsen ballen sich Wirtschaftskraft, hochqualifizierte Beschäftigung und entsprechende Einkommen, sowie ein dynamisches Kulturangebot. Diese wettbewerbsfähigen Gebiete sind entsprechend dicht besiedelt. Abseits davon, sprich: in der Mitte des Landes, herrscht das, was ein Geograf nach dem Krieg die „französische Öde“ („désert français“) nannte. Kaum besiedelt, wenig attraktiv (außer für Naturfreunde), fast ohne ärztliche Versorgung und mit einem maroden Verkehrswegenetz ausgestattet. Der Zentralismus prägt nicht nur das institutionelle Gefüge, die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten der Menschen, er nährt auch ein starkes Wohlstandsgefälle – und ein anderes Verständnis der Rolle des Chefs, man denke nur an Majestix.
Die Autorin
Isabelle Bourgeois ist Mitgründerin und Moderatorin der Dialogplattform www.tandem-europe.eu. Von 1980 bis 1988 war sie Lektorin an der Universität Hannover (Romanistik) und Kulturattaché an der französischen Botschaft in Bonn (zuständig für Rundfunk). Von 1988 bis 2017 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre d’Information et de Recherche sur l‘Allemagne Contemporaine – CIRAC. Von 2001 bis 2015 war sie Chefredakteurin der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Regards sur l’économie allemande (CIRAC), von 1989 bis 2001 Dozentin am Institut d’études politiques Paris, von 2002 bis 2017 Dozentin an der Université de Cergy-Pontoise und von 1990 bis 2005 freie Autorin für epd-medien, diverse deutsche Tageszeitungen und den Deutschlandfunk.
Isabelle Bourgeois: Frankreich entschlüsseln. Missverständnisse und Widersprüche im medialen Diskurs. Herbert von Halem Verlag, Köln 2023.
„Unser Frankreich-Bild: Klischees und Missverständnisse“. Mit Isabelle Bourgeois und Andreas Noll. Franko-viel 50 (20. September 2023): Folge 50 – Unser Frankreich-Bild: Klischees und Missverständnisse – Franko-viel – Der Frankreich-Podcast (podigee.io)