Grenzüberschreitende Projekte
„Bloß weil wir hier an der Grenze sind, ist das grenzüberschreitende Miteinander nicht selbstverständlich“

Grenzüberschreitende Projekte „Bloß weil wir hier an der Grenze sind, ist das grenzüberschreitende Miteinander nicht selbstverständlich“
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  • VeröffentlichtDezember 22, 2023

Die „Chapelle de la Rencontre“ ist mehr als ein Gebäude: Es ist ein im Dezember 2017 gestartetes, zweisprachiges und grenzüberschreitendes Projekt. Von Ufer zu Ufer möchten der Kehler Pfarrer Günter Ihle und die Straßburger Pfarrerin Roos Van De Keere die Begegnung zwischen Menschen fördern. Dabei teilen sie sich erstmalig in der deutsch-französischen Geschichte eine pastorale Stelle.

dokdoc: Ihre Kapelle steht in dem Straßburger Stadtviertel Port du Rhin nur wenige hundert Meter hinter der Rheinbrücke nach Kehl. Was steckt hinter diesem deutsch-französischen Projekt?

Günter Ihle: An der deutsch-französischen Grenze entsteht ein neuer Stadtteil, in dem rund 15 000 Menschen erwartet werden. Die evangelischen Kirchen auf beiden Seiten des Rheins, die schon lange zusammenarbeiten, wollten in diesem Viertel von Anfang zusammen die Menschen vor Ort begleiten. Daraufhin hat sich eine Arbeitsgruppe gebildet. Die Kapelle stand am Anfang nicht im Fokus, sondern es ging um die Frage des gemeinsamen Auftretens. Die alte, baufällige Rheinhafen-Kapelle wurde dann jedoch schnell in den Blick genommen und so entstand das Projekt, in dem wir beide später gemeinsam die pastorale Stelle bezogen haben.

Roos Van De Keere: Es gab den Wunsch, noch viel mehr und häufiger zusammenzuarbeiten, und das machen wir jetzt auch alltäglich. Zunächst haben wir daran gearbeitet, gute Kontakte mit den unterschiedlichen Vereinen und Institutionen vor Ort aufzubauen, da es gerade in Frankreich nicht selbstverständlich ist, dass man als Kirche im öffentlichen Bereich mit anderen Partnern zusammenarbeitet. Diese Aufbauarbeit hat zwei Jahre lang gedauert und heute werden wir als verlässliche Partner wahrgenommen.

dokdoc: Was für konkrete Angebote bieten Sie denn der Bevölkerung an?

Krabbelgottesdienst © Jacky Landmann

Roos Van De Keere: Wir bieten Projekte vor Ort, regional und überregional an. In der Kapelle gibt es Angebote für Kinder und Familien, wie die deutsch-französischen Krabbelgottesdienste.

Da kommen auch viele Familien von weiter weg. Es gibt die Taizé-Gebete und mindestens einmal im Monat einen deutsch-französischen Gottesdienst. Dann bieten wir Konzerte und Ausstellungen an. Die Kapelle wird auch von Vereinen vor Ort genutzt, z.B. von einem Gospelchor und von einer Theatergruppe. Ein konkretes Beispiel unserer nicht-religiösen Angebote ist der Bastelnachmittag für Kinder am Anfang der Adventszeit, um den Weihnachtsbaum auf dem Platz vor der Kapelle zu dekorieren.

Günter Ihle: Unser Thema ist es, die Zweisprachigkeit zu fördern. Deshalb sind diese Angebote in der Regel zweisprachig. Mit Blick auf die Zielgruppen gibt es viele Familien im Grenzraum, die zweisprachige religiöse und kulturelle Angebote suchen und deshalb zu uns kommen. Zu anderen Angeboten kommen die Menschen aus dem Hafenviertel direkt vor Ort.

Roos Van De Keere © Roos Van De Keere

Roos Van De Keere: Die Menschen vor Ort sind jedoch gerade die, die kein Deutsch können. Für sie spielt das deutsch-französische Miteinander keine Rolle in ihrem Alltag. In ihrem Viertel gibt es andere Grenzen als geografische. Grenzen zwischen denjenigen, die neu dazu kommen, und denjenigen, die schon da waren. Zwischen den Ärmeren und den Reicheren. Auch da ist Versöhnung notwendig und der Weg ist lang. Das wissen wir, wenn wir auf die Geschichte schauen. Unser Blick und unsere Erfahrung könnten da hilfreich sein. Vielleicht ist es sogar am leichtesten, für sie den Weg nach Deutschland so zugänglicher zu machen. So werden wir ab 2024 eine Art Basisunterricht in Deutsch anbieten, damit die Bevölkerung in Kehl besser einkaufen kann, und den Kindern bei den Hausaufgaben in Deutsch helfen.

Günter Ihle: Schließlich haben wir noch die überregionalen Angebote. Wir sind auf dem Boden der deutsch-französischen Versöhnung entstanden und Teil eines grenzüberschreitenden Versöhnungswegs, der zwei Kilometer entlang des Rheins geht. Dieser Weg verdeutlicht die unterschiedlichen Etappen unserer Geschichte, die kriegerische Vergangenheit, die ersten Schritte der Begegnung im Anschluss und die Gegenwart. Wir gehen ihn mit Jugendlichen, aber auch anderen Gruppen, die sich das Thema Versöhnung auf die Fahnen geschrieben haben. Wir haben Besuch von Gruppen aus beiden Ländern, aber auch von internationalen Gruppen, die sich einen Eindruck darüber verschaffen, wie es gelungen ist, an einer Grenze, an der drei Kriege stattgefunden, miteinander zu leben und zu arbeiten.

dokdoc: Das Stadtviertel Port du Rhin ist ein sehr interkulturelles, aber auch recht armes Stadtviertel. Darüber hinaus ist der Anteil der muslimischen Bevölkerung hoch. Wie ist die kleine, protestantische Kapelle in diesem Kontext zu sehen?

Roos Van De Keere: Ganz am Anfang haben wir mit einem Priester gesprochen, da wir etwas Sorge hatten, wie man uns als Kirche vor Ort wahrnimmt. Er meinte, dass es in diesem Viertel so viele Probleme gibt, dass die Religion gerade kein Problem ist. Damit hat er vollkommen recht gehabt. Das merken wir bei unserer Arbeit im Viertel und das sagen auch die verschiedenen Vereine vor Ort. Die Not in dem Viertel ist relativ groß, aber glücklicherweise gibt es eine große Solidarität zwischen all denen, die vor Ort arbeiten.

Günter Ihle © Günter Ihle

Günter Ihle: Wir werden mit unserer kleinen protestantischen Kapelle sicherlich nicht die Probleme der Welt lösen. Wir können aber einen Beitrag leisten, dass das Miteinander vor Ort, aber auch das Miteinander an der Grenze besser gelingt. Wir arbeiten als protestantische Pfarrerin und Pfarrer. Das aber in völliger Offenheit, das heißt sowohl ökumenisch als auch interreligiös. Ich glaube, dass wir diese Botschaft ausstrahlen und dass wir deshalb mit unterschiedlichen Partnern kooperieren können.

Roos Van De Keere: Wir bieten auch punktuell interreligiöse Projekte an. Letztes Jahr haben wir in der Schule ein Pilotprojekt durchgeführt, um über die Religionen vor Ort zu sprechen, damit Vorurteile anderen gegenüber abgebaut werden. Am Schluss haben wir auch die Gottesdienstorte im Viertel Port du Rhin besucht, das war eine schöne Zusammenarbeit zwischen Schule, christlichen Kirchen und der Moschee. Als es im Herbst 2020 in der Basilika Notre Dame in Nizza ein Attentat gab, wenige Tage nach dem Mord an dem Lehrer Samuel Paty, hat sich die muslimische Gemeinde hier an uns gewandt, um zu fragen, ob es möglich wäre, Solidarität der katholischen Gemeinde gegenüber zu bezeugen. Das war sehr emotional und vor allem möglich, da wir so gute Kontakte aufgebaut haben.

dokdoc: Wie nehmen Sie vor dem Hintergrund, dass Frankreich ein laizistisches Land ist, die gemeinsame Arbeit in beiden Ländern wahr? Gibt es Unterschiede?

Günter Ihle: Ich denke, dass es eigentlich wenig Unterschiede gibt. Natürlich sind die Systeme unterschiedlich und vielleicht auch die Stellung und Wahrnehmung der Kirche in der jeweiligen Gesellschaft. Dennoch zeigen alle genannten Beispiele, dass das Miteinander und die Kooperation ganz stark davon abhängen, wie wir den Menschen begegnen. Es geht darum, einen vertrauensvollen Kontakt aufzubauen, und da merke ich eigentlich auf beiden Seiten keinen Unterschied. Es wird in beiden Ländern wahrgenommen, dass unser Projekt etwas Besonderes ist.

dokdoc: Deutschland vermeldete dieses Jahr einen neuen Rekord bei Kirchenaustritten. In Frankreich werden diese Zahlen nicht erfasst, aber es ist von einer ähnlichen Abkehr von der Kirche auszugehen. Braucht die heutige Gesellschaft überhaupt noch Religion und Kirche?

Die Kapelle der Begegnung © Jacky Landmann

Günter Ihle: Wenn Menschen merken, dass die Angebote, die wir machen, eine Relevanz für ihr Leben haben, dann spielt Kirche eine Rolle. In welcher Form auch immer sie dann auftritt. Wir haben eine sehr große Bandbreite an Angeboten und sind auch keine Gemeinde, sondern ein Begegnungsprojekt. Wenn Kirche etwas für und mit den Menschen macht, dann wird es auch angenommen.

dokdoc: Weihnachten steht vor der Tür und für viele Menschen spielen Kirche und Religion gerade zu dieser Jahreszeit eine wichtige Rolle. Gibt es Unterschiede, wie Deutsche und Franzosen dieses Fest feiern und aus religiöser Sicht begehen?  

Roos Van De Keere: Ich bin immer erstaunt, dass die Kinder in der französischen Schule auf die Frage nach der Bedeutung von Weihnachten nur mit Geschenken und dem Weihnachtsmann antworten. Kaum einer weiß, dass wir die Geburt Christi feiern.

Günter Ihle: Weihnachten ist zunächst ein Familienfest. Das ist breit in allen kulturellen und religiösen Schichten verankert. Auch Muslime feiern Weihnachten. Mit Blick auf die Religiosität ist festzustellen, dass an Weihnachten immer noch eine größere Zahl an Menschen Kirchen aufsucht. Und das nicht nur zu den Weihnachtsgottesdiensten, sondern auch zum Adventssingen und -musizieren. Bei aller abnehmenden Kirchlichkeit gibt es immer noch Angebote, die gesucht und gefunden werden, und unsere Angebote sprechen viele Menschen an.

dokdoc: Was haben Sie für Zukunftspläne für die Kapelle der Begegnung?

Günter Ihle: Eine Menge. Das größte Problem, die Sanierung der Kapelle, liegt hinter uns. An uns werden derzeit so viele Anfragen herangetragen, dass wir schauen müssen, was möglich ist und was nicht. Kürzlich haben wir beispielsweise die deutsch-französischen Taizé-Gebete entwickelt. Ich persönlich würde gerne noch mehr im Bereich Aussöhnung arbeiten. Wir werden manchmal irrtümlich Versöhnungskapelle genannt, aber so falsch ist das eigentlich nicht. Bloß weil wir hier an der Grenze sind, ist das grenzüberschreitende Miteinander nicht selbstverständlich.

Die Fragen stellte Tanja Herrmann

Unsere Gäste

Roos Van De Keere ist Pfarrerin der Evangelischen Kirche in Elsass-Lothringen (UEPAL). Angefangen mit einer Ausbildung als Grundschullehrerin in den Niederlanden, hat sie zu Religionswissenschaften, alten Sprachen, katholischer und später evangelischer Theologie gewechselt, zuerst in Belgien, dann in Deutschland und zuletzt in Frankreich. Ihr Schwerpunkt ist die Gemeindearbeit mit Kindern und Familien. Sie ist Belgierin und lernt gerade ihre fünfte lebendige Sprache. 

Günter Ihle ist Pfarrer der Evangelische Landeskirche in Baden. Nach seiner zehnjährigen Tätigkeit als Gemeindepfarrer in Südbaden und seiner fünfzehnjährigen Tätigkeit als Dekan in Kehl ist er seit 2021 als Pfarrer für Kirchen in neuen Stadtquartieren zuständig. Seine Schwerpunkte sind europäische Ökumene und grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Er ist Mitglied im Ausschuss der Konferenz der Kirchen am Rhein.

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