Fünf Jahre Aachener Vertrag
„Versucht euch zu erden. Schaut, wie der normale Bürger deutsch-französische Freundschaft lebt”
Stefan Raetz ist Lokalpolitiker. Er engagiert sich seit vielen Jahren für die deutsch-französischen Beziehungen, bringt jährlich Schüler aus seiner Stadt nach Verdun und gestaltet die Zukunft der bilateralen Beziehungen auf kommunaler Ebene. Zum fünften Jahrestag des Aachener Vertrags beleuchtet dokdoc die Arbeit eines Menschen, der die Dinge bewegt.
dokdoc: Vor wenigen Tagen wurde in Deutschland und Frankreich der fünfte Jahrestag des Aachener Vertrags gefeiert. Wie blickt der Kommunalpolitiker auf dieses Jubiläum?
Stefan Raetz: Der Kommunalpolitiker blickt mit Freude und Stolz auf dieses Jubiläum, auch wenn er der Meinung ist, wir könnten den Vertrag noch etwas stärker leben.
dokdoc: Zwischen unseren beiden Ländern war es in den vergangenen fünf Jahren nicht immer einfach. Warum ist das so und wo sehen Sie, sagen wir mal, Steigerungspotenzial?
Stefan Raetz: Es stockt immer dort, wo die Große, die hohe Politik, Verantwortung zeigen sollte. Beide Länder verfolgen zwar die gleichen Ziele, aber manchmal habe ich das Gefühl, gewisse Eifersüchteleien sind immer noch da. Da würde ich mir einfach wünschen, dass man sich ohne große Öffentlichkeit zu den wichtigen, uns allen bewegenden Themen in Europa zusammensetzt und dann sagt: Wir haben gemeinsam darüber nachgedacht und gehen jetzt in diese Richtung.
dokdoc: Und was würden Sie sagen? Wo liegen heute die eigentlichen Motoren der deutsch-französischen Beziehungen?
Stefan Raetz: Für mich, ohne Zweifel, die Städtepartnerschaften, weil sich daraus schon zum Teil über mehrere Jahrzehnte sehr viele persönliche Freundschaften entwickelt haben, also auf der untersten Ebene. Und natürlich die vielen persönlichen Beziehungen, die wir nicht mehr alle mitbekommen. Das sind für mich ganz wichtige Motoren neben den, und das darf man auch nicht vergessen, kulturellen Anlässen.
dokdoc: Sie veranstalten mit dem Verein „Partnerschaft des Friedens Rheinbach-Douaumont/Vaux“ jährlich Fahrten für Schüler aus Rheinbach nach Verdun. Schulfahrten zu organisieren, gehört allerdings nicht unbedingt zu den Kernaufgaben eines Lokapolitikers. Was treibt Sie an?
Stefan Raetz: Ja, ich mache das jetzt seit fünf Jahren intensiv, vorher bereits ab und zu. Wir sind jetzt richtig gut organisiert. Jährlich fahren wir dreimal mit einem Bus voller Schüler für jeweils zwei Tage nach Verdun und Douaumont. Das sind dann immer so um die 120 Jugendlichen jährlich. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, jeden Schüler aus Rheinbach, der sich es wünscht, einmal nach Verdun zu bringen. Die Zielrichtung ist dabei sehr emotional: Es geht darum, den Jugendlichen das Thema Völkerverständigung vor Augen zu führen. Denn wer einmal in Verdun war, wird erkennen, dass Krieg eigentlich ein Wahnsinn ist. Die Jugend ist nun mal unsere Zukunft und wir müssen deutlich machen, dass der Friede, in dem wir leben, nicht selbstverständlich ist, sondern dass das aus Vertrauen und aus der Annäherung von seinerzeit verfeindeten Ländern gewachsen ist und dass sie jetzt, die Jugend, alles dafür tun muss, dass das in Zukunft auch so bleibt.
dokdoc: Und vor Ort, wie soll man sich das vorstellen? Wie sieht das Programm aus?
Stefan Raetz: Wir fahren ins Beinhaus von Douaumont, halten lange am Nationalfriedhof: 16 000 Kreuze, das ist eine Größenordnung! Wenn man da einmal drauf geschaut hat, dann merkt man, was hier passiert ist, und wenn sie dann auch noch lesen, wie alt die Soldaten gewesen sind, nur wenige Jahre älter als sie, dann bringt das auch Jugendliche wirklich zum Nachdenken. Wir gehen dann auch durch die Schützengräben, sprechen mit Schülern in Verdun, haben abends auch Diskussionsrunden. Auf dem Rückweg merke ich immer, dass etwas mit den Jugendlichen passiert ist. Und genau das treibt mich an.
dokdoc: Rheinbach hat ca. 27 000 Einwohner; Douaumont-Vaux ist ein Dorf, das 2019 aus der Zusammenlegung des im Ersten Weltkrieg zerstörten Douaumont mit der Ortschaft Vaux-devant-Damloup entstanden ist. Die Gemeinde zählt heute 79 Einwohner. Wie funktioniert diese Partnerschaft und was sind Ihre Ziele für die Zukunft?
Stefan Raetz: Ja, das ist natürlich schon etwas: Da ist so eine ganz kleine Gemeinde in Frankreich und eine dann doch deutlich größere Stadt im Rheinland, die zusammengekommen sind. Hintergrund ist, dass ich schon seit vielen, vielen Jahren auch mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge da unterwegs bin und irgendwann ist eine Freundschaft entstanden, gerade auch mit dem Bürgermeister Armand Falque aus Douaumont-Vaux und dem Direktor des Beinhauses Olivier Gérard. Eines Abends kamen wir auf die Idee, eine Partnerschaft einzugehen. Verdun geht selber keine Städtepartnerschaft ein und versteht sich als die Weltstadt des Friedens. Die Stadt ist sozusagen mit jeder friedlich lebenden Stadt verschwistert. Die Partnerschaft des Friedens mit Douaumont-Vaux ist eine ganz besondere Städtepartnerschaft, denn es ist ja die kleinste Gemeinde Frankreichs und wird auch nie woanders eingemeindet, weil das einfach für jeden Franzosen auch zwei Orte sind, die unzertrennbar mit dem Leid bei der Schlacht von Verdun verbunden sind. Die Verbindung ist dann zustande gekommen mit dem Ziel, eine Partnerschaft des Friedens zu gründen, nicht eine klassische Städtepartnerschaft, sondern ganz speziell eine Partnerschaft des Friedens. Deswegen haben wir in der Gründungsurkunde auch festgelegt, dass wir Verbindungen und Freundschaften verstärken und pflegen wollen, dass wir Begegnungen organisieren wollen. Und das tun wir auch.
dokdoc: Sie waren über 20 Jahre Bürgermeister von Rheinbach, begleiten die Städtepartnerschaft mit Villeneuve-lès-Avignon und nehmen immer wieder an deutsch-französischen Kommunalzusammenkünften teil. Welche Bedürfnisse haben Kommunen in Deutschland und Frankreich? Und wie wichtig sind Städte- und Gemeindepartnerschaften heute in Europa?
Stefan Raetz: Städtepartnerschaften bieten auf lokaler und persönlicher Ebene einfach die Möglichkeit, Europa miteinander zu verbinden. Es nützt uns nichts, wenn Regierungen miteinander sprechen, die Bevölkerung aber nicht mitgenommen wird.
Die Bedürfnisse der Kommunen in Deutschland und in Frankreich sind fast identisch. Wir haben heute die gleichen Herausforderungen: Klimawandel, Klimafolgenanpassung, Gestaltung der Migration. Es stellen sich im Grunde genommen dieselben Fragen: Wie integrieren wir Menschen, die bei uns Zuflucht gefunden haben? Da kann Deutschland von Frankreich lernen, Frankreich von Deutschland lernen, oder man kann auch gemeinsam Strategien entwickeln. Wir haben auch das Thema Fachkräftemangel, Stadt-Land-Kluft. Städtepartnerschaften können dabei helfen, diese Fragen ein Stück weit zu beantworten, weil man sich gegenseitig sehr gut kennt und es sehr stark ins Private hineingehen kann, losgelöst von der großen Politik.
dokdoc: Stichwort: große Politik. Wir wissen: Zwischen Emmanuel Macron und Olaf Scholz ist es schwierig. Inwiefern können niedrigschwellige Projekte an der Stelle helfen?
Stefan Raetz: Wir erwarten von unseren jeweiligen Regierungen, dass sie die großen Themen lösungsorientiert angehen und nicht nur über Problemlagen sprechen. Ich hoffe, dass gerade in diesem Jahr, wenn sich der berühmte Handschlag von Verdun zum 40. Mal jährt, Macron und Scholz nach Douaumont gehen und ein deutliches Zeichen der Verbundenheit geben. Wir sind auf lokaler Ebene weniger politisch. Es ist egal, wie in welcher Partnerstadt die Mehrheitsverhältnisse sind. Wir begegnen uns nicht als Politiker, sondern als Bürger, als Freunde. Ich würde Scholz und Macron empfehlen: Versucht euch auch mal zu erden. Geht zu den Städtepartnerschaften, schaut euch an, wie der normale Bürger deutsch-französische Freundschaft lebt.
dokdoc: Sie sind neben den deutsch-französischen Beziehungen auch in anderen Bereichen ehrenamtlich aktiv. Ich denke dabei an den Verein Togo-Hilfe Rheinbach. In welchen Beziehungen stehen beide Aspekte Ihres Engagements zueinander?
Stefan Raetz: Ja, ich bin auch in Togo aktiv, ein französischsprachiges Land. Wichtig dabei sind mir vor allem die Themen Bildung, Kindergärten, Schulen, und das tue ich schon jetzt seit über 20 Jahren. Und jetzt zu Ihrer Frage: Auch in Togo möchten die Menschen ohne Furcht in Frieden leben. Aber es stehen in Togo zudem andere Grundbedürfnisse wie Bildung, Gesundheit und Ernährung im Mittelpunkt. Das ist etwas, was wir in Deutschland und Frankreich wie selbstverständlich haben. In Togo ist es nicht der Fall!
dokdoc: Auf kommunaler Ebene befinden wir uns – die Politikwissenschaftler würden sagen – im Bereich der sogenannten „freiwilligen Aufgaben“. Wie geht es für Sie weiter?
Stefan Raetz: Ich betrachte es als nicht freiwillige Leistungen oder Aufgaben, sondern als einen Trittstein für ein besseres Miteinander. Wir müssen junge Menschen dazu animieren, sich mit den Themen Deutsch-französische Freundschaft, Frieden, Völkerverständigung, wirklich zu beschäftigen. Jede Bestrebung in der Richtung ist ein Beitrag zu einer besseren Zukunft.
dokdoc: Herr Raetz, ich danke Ihnen für dieses Interview.
Das Gespräch führte Landry Charrier
Unser Gast
Stefan Raetz, geb. 1959 in Flensburg, ist in Deutschland und Frankreich aufgewachsen. Das Abitur und das Studium der Rechtswissenschaften mit dem 2. Staatsexamen legte er in Bonn ab. Er war zuletzt 21 Jahre hauptamtlicher Bürgermeister in Rheinbach. Stefan Raetz ist engagiert in der Städtepartnerschaft Rheinbach-Villeneuve-lès-Avignon, zudem Vorsitzender der Partnerschaft des Friedens Rheinbach-Douaumont/Vaux und Gründungsmitglied der Togo-Hilfe Rheinbach. Er nimmt regelmäßig an den deutsch-französischen Kommunalkongressen der Konrad-Adenauer-Stiftung teil.