Meinungen
Warum sie (nicht) auf die Straße gehen
In Deutschland hat der Skandal im Zusammenhang mit den Enthüllungen des CORRECTIV-Netzwerks in den letzten Wochen viele Leute auf die Straße gebracht. Ganz anders in Frankreich, wo der Höhenflug des Rassemblement National keine Angst macht. Christian Wolff, einer der führenden Köpfe hinter den Demonstrationen der letzten Wochen in Leipzig, und Jean-Yves Camus, Spezialist für Rechtsextremismus, erklären und berichten.
Christian Wolff
„22 ist nicht 89 – Wir leben in keiner Diktatur!“ Auf großen Bannern war dieser Spruch im Oktober 2022 an den Leipziger Innenstadtkirchen zu lesen. Damit reagierten die Kirchen auf den schamlosen Missbrauch der Friedlichen Revolution von 1989 durch die AfD und andere rechtsextremistische Gruppierungen. Schon 2021 zeichnete sich ab, dass Rechtsextremisten aller Couleur die umstrittenen Beschränkungen während der Corona-Pandemie dazu nutzen werden, um das Narrativ zu bedienen: Deutschland ist eine schlimmere Diktatur als die DDR unter Honecker. Damit versuchte sich die AfD unter Anwendung der Verharmlosungsstrategie als Partei der Freiheit und der Bürgerrechte aufzuspielen. „Widerstand“, „Wir sind das Volk“, „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ wurde montags in den Abendhimmel gebrüllt und nicht selten wurde das Schild hochgehalten: „Putin, rette uns!“. Da konnte es nicht verwundern, dass sich nach dem Überfall des Putin-Regimes auf die Ukraine im Februar 2022 die AfD der Zeichen und Parolen der Friedensbewegung bemächtigte: Friedenstaube und „Frieden schaffen ohne Waffen“.
Bis Mitte Januar dieses Jahres fiel der Protest gegen diese Anmaßungen noch relativ verhalten aus. Das änderte sich aber schlagartig. Nachdem das Recherchenetzwerk CORRECTIV über ein Geheimtreffen zum Thema „Remigration“ von Rechtsextremisten, darunter etliche AfD-Politiker, in Potsdam im November 2023 berichtet hatte, fiel es vielen Bürgerinnen und Bürger wie Schuppen von den Augen: Unser Grundproblem ist nicht das manchmal kryptische Agieren der Bundesregierung, sind nicht die vielen ungelösten Herausforderungen im Blick auf den Klimawandel, ist nicht der marode Zustand der Deutschen Bahn, sind nicht Streiks und Protestaktionen gesellschaftlicher Gruppen. Als Hauptproblem erweist sich, dass rechtsextremistische Zirkel seit Jahrzehnten systematisch an der Zerstörung der freiheitlichen Demokratie arbeiten. Gleichzeitig erschraken Bürgerinnen und Bürger darüber, wie viele Menschen bereit sind, diesem Treiben auch noch durch Stimmabgabe für die AfD einen Schub zu verleihen – immer mit der Attitüde versehen: sie, die AfD, würde den Willen des Volkes, den Willen der schweigenden Mehrheit verkörpern.
Das will aber die tatsächliche Mehrheit in Deutschland nicht mehr durchgehen lassen. Mit den Demonstrationen nehmen Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger ihre Verantwortung für die Demokratie wahr, verlassen ihre Ohrensessel und die Lähmung aus der Corona-Zeit, beschränken sich nicht mehr auf Gegrummel in den eigenen vier Wänden, sondern erkennen: Es liegt an mir, an uns, ob die Rechtsnationalisten das Sagen bekommen oder nicht. Sie schieben die Verantwortung nicht mehr ab auf „die“ Politikerinnen und Politiker, sondern nehmen sich selbst in die Pflicht: Wir verlassen uns nicht darauf, dass sich das Problem des Rechtsextremismus von selbst erledigt. Darum: Schluss mit der Verharmlosung der Gefahr, die vom organisierten Rechtsextremismus, von der AfD ausgeht! Wir lassen uns eine mögliche AfD-Mehrheit bei den anstehenden Wahlen nicht länger als unumgänglich einreden! In der Demokratie kommt es auf jede einzelne Bürgerin, jeden Bürger und auf seinen/ihren Mitgestaltungswillen an. Nicht in dem Sinn, dass mit „Mistgabeln“ aufgeräumt wird (so die Metapher bei den Bauern-Protesten) oder das „Volk“ die Macht ergreift. Vielmehr ist jetzt die Verantwortung eines jeden Bürgers, einer jeden Bürgerin für den Erhalt der parlamentarischen Demokratie, der kulturellen Vielfalt, der Meinungs-, Religions- und Pressefreiheit vonnöten. Mit Panik, Angst, Schwärmerei (so die Vorwürfe in konservativen Medien) hat dies nichts zu tun, aber mit Verantwortung.
Darum finden sich derzeit in ganz Deutschland Bürgerinnen und Bürger, Initiativen, Vereine, Kirchen, Gewerkschaften, Handwerkskammern und Wirtschaftsverbände trotz aller Unterschiede in dem einen Ziel zusammen: Niemals, niemals darf die AfD, dürfen völkische Nationalisten, in Deutschland an die Schalthebel der Politik gelangen. Die Wirkung der anhaltenden Demonstrationen zeigt sich schon jetzt: Der Sinkflug der AfD hat begonnen.
Jean-Yves Camus
In Frankreich geht die Opposition gegen die extreme Rechte eher selten auf die Straße. Mit zwei Ausnahmen. Die erste nach dem gescheiterten Putsch der rechtsextremen Ligen am 6. Februar 1934: Am 12. Februar versammelte eine Demonstration der vereinten Linken 150.000 Menschen unter dem Motto „Die Einheit der Aktion wird den Faschismus stoppen“. Eine zweite Mobilisierung erfolgte 1961/62, als Aktivisten, Anhänger Französisch-Algeriens, eine Kampfformation gründeten: die Organisation Armée Secrète (OAS). Wie 1934 befürchtete man damals einen Staatsstreich. Die Mobilisierung der Bevölkerung gegen die OAS gipfelte am 8. Februar 1962 in einem vereinten Demonstrationszug, den die Polizei, die gegen linke „Subversion“ härter vorging als gegen Rechtsextreme, brutal niederschlug (8 Tote und 250 Verletzte).
Der Wahlerfolg des Front National in den Jahren 1983-84 gibt den Bürgermobilisierungen neuen Auftrieb. Zum ersten Mal seit 1945 entsendet der FN-Abgeordnete ins Europäische Parlament und 1986 in die Nationalversammlung. Jean-Marie Le Pen macht Angst; denn er bekennt sich öffentlich zur Rassenungleichheit und streut Zweifel an der Realität des Völkermords an den Juden. Neonazis und ehemalige Vichy-Kollaborateure zählen zu den Kadern und Kandidaten seiner Partei. Als Reaktion darauf entstehen der Sozialistischen Partei, den Libertären oder den Trotzkisten nahestehende antirassistische und antifaschistische Vereine (SOS Racisme; Manifeste contre le FN; Ras l‘Front). Zusammen mit den schon älteren Bewegungen gegen Rassismus (LICRA; MRAP; Ligue des Droits de l‘Homme) bringen sie die Menge unter einem gemeinsamen Motto auf die Straße: „F wie Faschist, N wie Nazi, nieder mit dem Front National“. Der Höhepunkt der Mobilisierung wird am 29. März 1997 in Straßburg erreicht: 50.000 Menschen demonstrieren damals gegen den Kongress des FN.
Diese Organisationen bilden ein territoriales Netzwerk überall dort in ganz Frankreich, wo der FN Fuß gefasst hat: Das 1990 gegründete Netzwerk Ras l‘Front zählt beispielsweise 120 lokale Kollektive. Dadurch erreichen die Demonstrationen nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 21. April 2002, als Jean-Marie Le Pen in die zweite Runde kommt, ein bis dahin ungekanntes Ausmaß: In den 14 Tagen zwischen den beiden Wahlgängen beteiligen sich mehrere Millionen Franzosen an Kundgebungen, Debatten und Petitionen. Am 1. Mai erreichte die Anti-FN-Mobilisierung ihren Höhepunkt, als 1,5 Millionen Menschen auf die Straße gingen. Die Demonstranten halten einen Sieg Le Pens tatsächlich für möglich. Aber sie irren sich; denn Le Pen hat kaum Rückhalt in der Wählerschaft. Jacques Chirac wird am Ende mit 82,21 % zum Staatspräsidenten gewählt; sein Gegner erhält gerade mal 17,79 % der Stimmen. Als Folge der Niederlage der extremen Rechten: Die Mobilisierung hört auf, und die Franzosen lassen in ihrer Wachsamkeit nach – das, was anfangs als Gefahr für die Demokratie wahrgenommen wurde, wird nun später als „falscher Alarm“ gesehen.
Obwohl Umfragen Marine Le Pen schon als mögliche Siegerin der Präsidentschaftswahlen 2027 sehen und ihre Partei aus den Europawahlen 2024 als stärkste Kraft hervorgehen könnte, zeichnen sich keine erneuten Demonstrationen ab. Das liegt daran, dass sich ihr Image und das ihrer Partei Rassemblement National normalisiert haben. Im Jahr 2023 waren 57 % der Franzosen der Meinung, dass die radikale Linke, La France Insoumise, gefährlich für die Demokratie sei, während nur 52 % der Franzosen den RN für gefährlich hielten. Ras‘l Front und le Manifeste sind heute von der Bildfläche verschwunden. Die verbliebenen antirassistischen Organisationen sind in ihren Einstellungen zu Migration und dem israelisch-palästinensischen Konflikt tief gespalten. Die Opposition gegen die extreme Rechte wird, wenn sie denn auf die Straße geht, von der „Antifa“, der Antifaschistischen Aktion Paris-Banlieue oder der Antifaschistischen Jungen Garde angeführt; von einer extremen Linken also, die auf den gewalttätigen Aktivismus gegen ultrarechte Gruppierungen setzt. Während der RN in den Umfragen vorn liegt (für die Europawahlen werden ihm 30 % der Wählerstimmen prognostiziert), herrscht bei den Franzosen heute eine Art Resignation vor.
Übersetzung: Norbert Heikamp
Unsere Gäste
Christian Wolff war zunächst in Mannheim und dann ab 1992 bis 2014 an der Thomaskirche Leipzig Pfarrer. Nach seinem Ruhestand ist er als Berater für Kirche, Politik und Kultur tätig. Er betreibt zudem einen Blog zu gesellschaftspolitischen und kirchlichen Themen (www.wolff-christian.de/blog). Wie in seiner aktiven Zeit als Pfarrer engagiert sich Wolff in vielfältiger Weise zivilgesellschaftlich. In Leipzig hat er verschiedene Initiativen für ein weltoffenes Leipzig, demokratisches Sachsen, friedliches Deutschland und geeintes Europa und gegen den völkischen Rechtsnationalismus mit auf den Weg gebracht – so auch „Leipzig leuchtet für Demokratie und Menschenrechte“. Wolff ist seit 1970 Mitglied der SPD.
Jean-Yves Camus ist Direktor des Observatoriums für politische Radikalität (ORAP) bei der Jean-Jaurès-Stiftung und assoziierter Forscher am Institut für internationale und strategische Beziehungen (IRIS), beide in Paris. Seine Forschungsschwerpunkte sind die zeitgenössischen rechtsextremen Bewegungen in Europa sowie die Geschichte der Beziehungen zwischen Russland und den radikalen nationalistischen Bewegungen in Westeuropa.