Sprachunterricht:
Brauchen wir überhaupt noch Fremdsprachenunterricht?
Sind Sie nicht-binär, fluid, pan-, hyper- oder transkulturell? Nein, dies ist nicht schon wieder ein Artikel über sexuelle Identität, sondern vielmehr ein Versuch, zu erklären, warum wir traditionelle Denkmuster über unsere nationale Identität aufweichen müssen, wenn wir in einer globalen Welt bestehen wollen. Sprache spielt dabei eine wesentliche Rolle. Eine Reise in die Zukunft.
Hatte man als Deutscher geschäftlich mit Frankreich zu tun, so besorgte man sich einen Ratgeber oder las ein Buch von Ulrich Wickert. Wollte man als französische Firma mit Deutschland arbeiten, suchte man sich einen Mitarbeiter aus, der Deutsch als erste Fremdsprache in der Schule gelernt hatte (und heute noch den Erlkönig auswendig aufsagen kann) und warf ihn ins kalte Wasser.
Am 22. Januar feierte (und feiert) man die Aussöhnung und Annäherung unserer beiden Länder. Besonders an diesem Tag widmen sich Journalisten ausführlich den deutsch-französischen Beziehungen – einige scheinen dabei schon vor dem Schreiben davon auszugehen, dass „der deutsch-französische Motor stottert”, „le couple franco-allemand au bord du divorce” ist. Auch in der Politik greift man gerne auf altbekannte Rezepte zurück, indem man sich für mehr Sprachförderung ausspricht und die Bedeutung von Städtepartnerschaften und Schüleraustausch hervorhebt.
In den Jahrzehnten der Versöhnungsarbeit war es wichtig, die Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Franzosen zu betonen. Dies ist gelungen, aber es hat unsere fremdkulturelle Erfahrung verfälscht, da wir Gemeinsamkeiten erwartet haben, dann uns aber besonders die Unterschiede aufgefallen sind. Unsere Erwartungshaltung war eine andere als beispielsweise gegenüber einem asiatischen Gesprächspartner, bei dem wir mit Fremdheit rechneten und eher über Gemeinsamkeiten staunten.
All diese Ansätze waren und sind sicher angemessen, aber genügen sie in einer globalisierten Welt? Was wäre der nächste Schritt nach der Zeit der Aussöhnung?
KI versus Sprachlehrer
Als Universallösung wird oft die Förderung des Erlernens der Sprache des anderen Landes angesehen. Das reicht aber nicht aus. Wir brauchen einen Kurswechsel beim Erlernen und Unterrichten von Fremdsprachen, wenn wir nicht von der Entwicklung der neuen Technologien überrollt werden wollen – denn durch Künstliche Intelligenz (KI) wird es bald möglich sein, direkt auf dem Smartphone zu übersetzen. Umso wichtiger ist es, neben der Sprache auch die Kulturstandards des anderen Landes zu kennen und gleichzeitig ein Bewusstsein für die Besonderheiten der eigenen Kulturstandards zu schaffen.
Dazu gab es in der Vergangenheit bereits Ansätze, allerdings wurden diese Kulturstandards zu oberflächlich als Handlungs- oder Benimmregeln verstanden. Man bezeichnete dies gerne als Interkulturalität.
Die Kulturstandardforschung geht aber darüber hinaus. Sie hat zum Ziel, zu erfassen, wie die Menschen eines bestimmten Kulturkreises denken, handeln, wahrnehmen und fühlen. Das ist ein lebenslanger Lernprozess, der uns befähigt, uns in andere hineinzuversetzen: Diese Fähigkeit kann uns KI nicht geben.
Brot ist Brot! Oder etwa nicht?
Die Herausforderung vor der wir stehen, ist umso größer, als sich unsere beiden Länder, wie viele andere auch, in einer Identitätskrise befinden, ausgelöst durch einen beschleunigten Wandel unserer kulturellen Normen. Dies wirkt sich wiederum auf unsere Normenwelt aus. Hinzu kommt, dass es heute – mit Ausnahme der großen Sportereignisse – nicht mehr nur ein einziges nationales Narrativ gibt, sondern viele verschiedene, was die Erfassung von Kulturstandards noch schwieriger macht.
Um der Entwicklung der KI entgegnen zu können, muss dieses Bewusstsein unserer Plurikulturalität fester Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts werden, aber nicht in Form von „Bedienungsanleitungen” („mit den Deutschen / Franzosen muss man so und so reagieren”), denn das war der „interkulturelle“ Ansatz der letzten 50 Jahre.
Geben wir keine Regeln vor, sondern lehren wir das Kennenlernen der eigenen und der anderen Kultur durch Beobachten, Fragen und Infragestellen. Die Sprache hilft dabei, denn sie ist eng mit dem Denken verbunden.
Sprache spricht zu den Menschen, aber nur, wenn man die richtigen Worte (und Wörter) benutzt. Übersetzer wissen nur zu gut, dass es unmöglich ist, einfach nur Wort für Wort zu übersetzen, denn dabei geht die Seele des Gesagten verloren, ja es entstehen sogar Missverständnisse. Es ist wichtig, die Menschen zu verstehen, die diese Worte benutzen, um dann beim Übersetzen von einem Ufer der Sprache zum anderen zu gelangen.
Was das konkret bedeutet
Benutzen wir die Sprache unseres Gegenübers, dann dringen wir in seinen Kulturraum ein. Wir müssen uns aber dabei dessen bewusst sein, dass wir möglicherweise nicht die gleiche Definition von Wörtern und Begriffe haben wie er. Wenn wir so ein alltägliches Wort wie Brot nehmen und Vertreter verschiedener Kulturkreise bitten, dieses Wort in einer Zeichnung darzustellen, dann ist jede Zeichnung von dem jeweiligen Kulturkreis geprägt. In der Regel zeichnet ein Deutscher ein Schwarzbrot, ein Franzose ein Baguette und ein Amerikaner eine Scheibe Weißbrot. Eine Google-Suche nach bread, pain und Brot bestätigt dies. Schwieriger wird es, wenn es um komplexere Dinge oder kulturell aufgeladene Wörter geht.
Ein Beispiel: Ein Deutscher geht morgens mit seinem Kaffee in die Mediathek seiner Firma in Frankreich, um die aktuelle Presse zu lesen. Die Dame am Empfang sagt zu ihm: „Normalement on n’a pas le droit d’entrer avec un café.“ Der Deutsche übersetzt: „Normalerweise darf man nicht mit Kaffee rein” und denkt sich: „Normalerweise? Also drückt sie bei mir ein Auge zu” und geht hinein. Erst als die Dame sehr irritiert reagiert, versteht er, was„normalement“ bedeutet, nämlich: Es ist verboten, aber ich will es nicht so direkt sagen.
Benutzen wir die Sprache unseres Gegenübers, lösen wir Emotionen aus, die verloren gehen, wenn beide die englische Sprache verwenden oder auch wenn es eine Übersetzung gibt, so gut sie auch sein mag.
Ein Beispiel: Bei den Reden des französischen Präsidenten im Bundestag und in Dresden hat Emmanuel Macron den emotionalen Teil bewusst auf Deutsch vorgetragen, den fachlichen Teil auf Französisch. Durch die Anapher „Zählen Sie auf mich. Ich zähle auf Sie. Comptez sur moi. Je compte sur vous“ gelingt es dem Redner, eine direkte Verbindung zum Zuhörer herzustellen.
Verwenden wir die Sprache unseres Gegenübers, signalisieren wir Interesse an ihm. Es ermöglicht uns, in seine kulturelle Welt einzutauchen und Vertrautheit herzustellen: „Es ist mir eine Freude, endlich hier zu sein, nachdem ich unser Treffen im letzten Jahr leider absagen musste. Aber: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!“ Der Präsident wusste: Das Eis war gebrochen, die Verbindung zu den Zuhörern mit dieser Redewendung hergestellt, denn sie hatten das Gefühl, dass hier jemand nicht nur zu ihnen, sondern auch auf sie zugekommen war.
Wenn wir uns heute der Sprache unseres Gegenübers bedienen, so tun wir dies zunehmend auch mit Bildern oder Videos, die gepostet werden und in kürzester Zeit viral gehen. Das Verständnis dieser Bilder ist individuell sehr unterschiedlich.
Ein berühmtes Beispiel ist das 2015 unter #dressgate bekannt gewordene Kleid, das die einen blau-schwarz gemustert, die anderen gold-weiß sahen.
Bilder sind noch mehr als Worte eine Quelle von Missverständnissen und Konflikten, wenn sie nur mit den eigenen Kulturstandards betrachtet werden. Der Streit um die Mohammed-Karikaturen ist nur ein Beispiel von vielen.
Was ist nun also zu tun?
Wir müssen uns dessen bewusst werden, dass wir eine transkulturelle Gesellschaft werden oder bereits sind. Transkulturalität hat den Ansatz, Kulturen nicht als homogen und voneinander abgrenzbar zu betrachten, sondern geht davon aus, dass sich gerade in unserer globalisierten Zeit Kulturen immer mehr vernetzen und in bestimmten Handlungsfeldern zu einer Globalkultur verschmelzen können. Man denke hier an Phänomene, die durch Tiktok oder Instagram viral geworden sind. Diese Transkulturalität ist aber nur oberflächlich global, denn sie ist immer auch kulturell geprägt. Wir alle bringen unseren eigenen Hintergrund mit, der wiederum von Individuum zu Individuum unterschiedlich ist.
Es ist die Aufgabe der Schule, der Politik, unserer Gesellschaft und aller Bereiche des öffentlichen Lebens, ein neues Kulturverständnis zu schaffen. Wir müssen zu der Einsicht gelangen, dass es nicht die eine Leitkultur gibt.
Das ist bei der Aufnahme von Migranten ebenso versäumt worden wie bei der deutschen Wiedervereinigung. Machen wir in der EU nicht die gleichen Fehler. Schreiben wir gemeinsam ein Narrativ unserer Kulturstandards, das die Vielfalt unserer Ansatzpunkte berücksichtigt. Frankreich und Deutschland könnten hier eine Vorreiterrolle spielen.
Der Autor
Der in Hessen geborene Frank Gröninger wohnt seit 1993 in Paris, wo er als Lehrer für Deutsch und interkulturelle Beziehungen unter anderem für das französische Außenministerium und Sciences Po, dem Institut für politische Wissenschaften arbeitet. 2021 erschien sein Buch „Douce Frankreich: die Abenteuer eines Deutschen in Paris“, sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, 2022 sein zweites Buch, „Dessine-moi un(e) Allemand(e)“.