Wahlbeobachtungsseminar
Zwischen Euphorie und Erkenntnis: Europa hautnah

Wahlbeobachtungsseminar Zwischen Euphorie und Erkenntnis: Europa hautnah
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  • VeröffentlichtSeptember 17, 2024

Die Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit e.V. und das Bureau International de Liaison et de Documentation arbeiten seit über 75 Jahren mit jungen Deutschen und Franzosen. Während sie am Anfang der Informationsvermittlung verpflichtet waren, fördern sie heute ein gemeinsames Vorgehen zugunsten der fortschreitenden europäischen Integration. Im Kontext der Europawahl fuhr eine deutsch-französische Gruppe nach Brüssel. Alizée Klein und Luis Krings berichten.

Am 26. Juni 2024 nominierte der Europäische Rat Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin. Drei Wochen später bestätigte sie das Parlament mit 401 von insgesamt 707 abgegebenen Stimmen. Vorbehalte gegen die 65-jährige CDU-Politikerin gab es zwar reichlich, doch am Ende ließen sich genügend Abgeordnete davon überzeugen, dass die Alternative – quälende, sich über Monate hinziehende Personaldebatten – nicht attraktiver war. Also stimmten sie für von der Leyen: Während ihre Wahl 2019 äußerst knapp ausgefallen war, erhielt sie diesmal 41 Stimmen mehr als nötig. Nun müssen die 26 Kommissare in den einzelnen Fachausschüssen vorsingen. Erst dann wird man genau sehen, welche programmatischen Opfer von der Leyen für ihre Unterstützung erbringen musste. Die Ernennung bzw. Bestätigung der Kommissare und ihrer Portfolios wird voller Spannung erwartet, denn sie stellt den vorerst letzten Schritt der Neuausrichtung der Exekutive dar.

Einblicke in die Herzkammer der Demokratie

Dieser Neuausrichtung waren 22 junge Erwachsene aus Deutschland und Frankreich bei einem Wahlbeobachtungsseminar in Brüssel schon früh auf der Spur. Das Seminar, welches vom 6. bis 10. Juni 2024 stattfand, wurde von der Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit und dem Bureau international de Liaison et de Documentation in Kooperation mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk organisiert. Das Ziel: der Gruppe die Möglichkeit eröffnen, das politische System der EU hautnah zu erleben. Die Funktionsweise der Europawahlen und deren Einfluss auf die Zukunft Europas waren dabei zentrale Programminhalte.

Copyright: Alizée Klein & Luis Krings

In der Hauptstadt entdeckten die 22 Teilnehmenden den Grand-Place, den Manneken-Pis – den berühmtesten Brüsseler Bengel –, das Atomium, aber vor allem dutzende, vielleicht sogar Hunderte EU-Flaggen: am Straßenrand aber auch am Eingang der Institutionen, die ihnen ihre Tore öffneten. Für sie war also Europa zunächst eine 150*90 cm messende Realität.

Im Europäischen Parlament erfuhr die Gruppe mehr über die Wahlkampfthemen sowie die Rolle und Aufgabe des seit 1979 direkt gewählten Organs. Der anschließende Besuch bei der Kommission war zwei Themen gewidmet: der Exekutive und der Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik. Am Ende wurde allen klar: Das politische System der EU ist ein komplexes Zusammenspiel aus unzähligen Zahnrädern, das von außen etwas abschrecken kann, von innen dennoch faszinierend ist. Die EU-Jutebeutel, Goodies und Flaggen, mit denen die Teilnehmenden vollgepackt heimkehrten, stellten diese Anziehungskraft bestens unter Beweis.

Begegnungen und Erkenntnisse

Neben den Besichtigungen der Institutionen traf die Gruppe Akteure der europäischen Hauptstadt.

Helga Schmidt, Leiterin des ARD-Hörfunkstudios Brüssel, und Lionel Jullien, EU-Korrespondent für Arte, erklärten, wie in Deutschland und Frankreich über die Europawahl berichtet wird. Sie skizzierten zudem ihren journalistischen Alltag und ordneten ihn in einen größeren Zeitkontext ein. Dabei gingen sie insbesondere auf die Herausforderungen ein, die Kommissionspräsidentin von der Leyen in der Corona-Pandemie bewältigen musste, ihre Rolle seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine und die erhebliche Machkonzentration, die aus beiden Krisen resultierte. Als nächstes befasste sich die Gruppe mit der Rolle von Regionen und Kommunen in der EU. Christoph Roth, Leiter der Ständigen Vertretung des Saarlandes in Brüssel, und Clara Eichinger, Sozialbeauftragte im Verband Grand Est-Europe, machten auf die enge Zusammenarbeit beider Regionen sowie die Bedeutung informeller Austauschformate auf europäischer Ebene aufmerksam. Der Ausschuss der Regionen, welcher 1992 durch den Vertrag von Maastricht geschaffen wurde, spiele in diesem Zusammenhang eine Rolle. Als Sprachrohr der Anliegen der kommunalen und regionalen Ebene müsse er in vielen Bereichen von der Kommission gehört werden, bevor Rechtsakte erlassen werden. Dennoch waren sich die beiden Gäste einig, dass sein tatsächlicher Einfluss begrenzt sei und die eigentliche Vertretung lokaler und regionaler Interessen eher in direkten Lobbying-Aktivitäten, in informellen Gesprächen und durch die von den Vertretern in Brüssel gepflegten Netzwerke zum Ausdruck komme.

Copyright: Alizée Klein & Luis Krings

Auf dem Programm stand auch ein Treffen mit jungen Menschen, die sich ehrenamtlich für ein stärkeres Europa und das Zusammenwachsen der Völker engagieren. Ob Bildungsarbeit in den Schulen, Planspiele zur Simulation des Europäischen Parlaments, internationale Jugendbegegnungen oder Berichterstattung über EU-Themen – jeder konnte sich in seinem eigenen Engagement für Europa inspirieren lassen.

Erleben und berichten

Das Seminar war von einem roten Faden durchzogen: dem Schreiben von Zeitungsartikeln über europäische Themen. Unter Anleitung der Journalistin Carola Dorner, Mitglied des Pressenetzwerks für Jugendthemen e.V., verfassten die Teilnehmenden sechs Artikel zu selbst gewählten Themen.

Die auf TreffpunktEuropa.eu veröffentlichte Serie lädt dazu ein, neue und alte Fragestellungen zu erörtern, die die Jugend Europas bewegen: die EU-Erweiterung, das Esperanto, die EU-Klimapolitik, das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl, die Auswirkungen sozialer Netzwerke auf die Wahlen und die Ergebnisse der Wahlen. Die Texte speisen sich nicht nur von den Eindrücken, die die Gruppe vor Ort sammelte, sowie den Experteninterviews, die sie führen konnten. Sie wurden auch durch Straßenumfragen im Brüsseler Stadtzentrum bereichert. Eine der Gruppen befragte sogar um die 100 Personen für ihren Text über das Zugehörigkeitsgefühl zur EU, ein Thema, welches sich Kommissionspräsidentin von der Leyen 2019 auf die Fahne geschrieben hatte, aber noch nicht top-of-mind ist. Das Ziel: die Faktoren, die es in seiner Vielfalt (geografisch, politisch und wertbezogene) wachsen lassen können, möglichst genau zu identifizieren. Am Ende entstand zwar eine bunte Sammlung von Texten, die aber alle eins gemeinsam haben: In allen stecken viel Herzblut und Engagement! 

Ein aufwühlender Wahlabend

Und dann kam der Wahlabend. Als um 18 Uhr die ersten Ergebnisse in Deutschland und um 20 Uhr in Frankreich bekannt gegeben wurden, rumorte es kräftig: Eine Schlappe für die Ampelkoalition und für das Lager von Staatspräsidenten Macron. In beiden Ländern konnten die rechtsextremistischen Kräfte deutlich an Zuspruch gewinnen: die AfD vereinte 15,9 % der Stimmen auf sich, der Rassemblement National 31,37 %. Ähnliches passierte in vielen anderen EU-Ländern, wenn auch der viel beschworene Rechtsruck etwas moderater ausfiel als von vielen befürchtet. 

Bis spät in die Nacht schaltete die Gruppe zwischen deutschen, französischen und europaweiten Sendern hin und her, nur um eines (schmerzlich) zu erkennen: Keine Berichterstattung und Analyse ähnelte der anderen, denn: kaum jemand dachte zu diesem Zeitpunkt in einer größeren Kategorie. Man starrte auf die nationalen Ergebnisse – jene, die erst im Anschluss ganz spät, dann wenn alle schlafen, zusammenaddiert werden, um dann diese eine Europawahl zu ergeben. Erneut sollte sich bewahrheiten, dass die Europawahl, zumindest medial, nur ein Konglomerat der 27 nationalen Wahlen ist. Eine bittersüße Erfahrung, die der Gruppe deutlich zeigte:

Die Europawahlen verdeutlichen die divergierenden Meinungen in Europa. Politische Parteien mit europaskeptischen und nationalistischen Ideen sind im Parlament so stark vertreten wie nie zuvor. Dies stellt eine Gefahr für Europa und nicht zuletzt auch für die Beziehungen der Mitgliedstaaten untereinander dar, der das Wahlbeobachtungsseminar entgegenwirkt. Beflügelt durch ihr deutsch-französisches Erlebnis kehrten die Teilnehmenden mit der Überzeugung zurück, dass es sich lohnt, für ein geeintes Europa einzutreten und nationalistischen Ideologien entschlossen entgegenzutreten.

Die Autoren

Copyright: Alizée Klein & Luis Krings

Alizée Klein aus Epping, Lothringen, und Luis Krings aus Mainz studieren beide Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt European Affairs im deutsch-französischen Masterprogramm zwischen der Freien Universität Berlin und Sciences Po. Seit mehreren Jahren engagieren sie sich in den Vereinen GÜZ und BILD und leiten deutsch-französische Jugendbegegnungen sowie Fortbildungen zur interkulturellen Jugendarbeit. Im Juni 2024 organisieren und leiten sie das Wahlbeobachtungseminar zu den Europawahlen in Brüssel.

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