Landwirtschaft
„Ich brauche keinen Kerl, der im 15. Bezirk von Paris wohnt und mir erklärt, wie ich zu leben habe“
Mitte des Jahres war der deutsch-französische Journalist Jean-Marie Magro mit dem Rennrad unterwegs auf einer besonderen „Tour de France“. Eine seiner Stationen war Okzitanien, wo die Proteste der Landwirte im Januar losgingen. Er sprach mit dem Mann, der die Bewegung gründete und geht der Frage nach, warum die Landwirte bis heute so großen Rückhalt in Frankreich genießen.
Der Place du Capitole in Toulouse wird in den französischen Nachrichtensendungen meist dann eingeblendet, wenn sich die Toulousains in den Armen liegen und einen Erfolg ihrer Rugbymannschaft feiern. Toulouse entwickelte sich in den vergangenen Jahren zu einer Art Sporthauptstadt Frankreichs: Jede sechste der 64 französischen Olympiamedaillen geht auf das Konto eines der Söhne der Stadt (es handelt sich ausnahmslos um Männer). Schwimmstar Léon Marchand, der beste Rugbyspieler der Welt, Antoine Dupont, und die weiteren Medaillenträger wurden an diesem Mittwoch auf dem großen Platz vor dem Rathaus der „ville rose“ empfangen.
Doch der Place du Capitole war auch der Ort, auf dem im Frühjahr eine Bewegung losging, die für die französische Regierung kaum zu kontrollieren war. Eine Bewegung, die vielleicht sogar die Niederlage bei der Europawahl besiegelte und damit den Sturm entfachte, der zu Neuwahlen führte und Frankreich an den Rand der Unregierbarkeit führte.
Alles begann mit einem Virus
Wir schreiben den 16. Januar. Die Landwirte demonstrierten vor der Präfektur. Einige von ihnen reisen mit Traktoren an. Sie suchen Hilfe, in vielen Ställen erkranken ihre Rinder an der Blauzungenkrankheit, die für die Menschen zwar ungefährlich ist, bei den Tieren aber zu starken Blutungen führt. Mittendrin steht ein 42-jähriger Mann mit dunklem Bart. Über seinem karierten Flanellhemd trägt er eine dunkelblaue Weste, dazu Jeans und auf dem Kopf eine gelbe Kappe, die er, wie manche Tennisprofis, umgedreht mit dem Schirm nach hinten trägt. Jérôme Bayle wartet gespannt auf die Ergebnisse, die die Verhandlungsführer der Landwirte-Gewerkschaft verkünden. In den vergangenen Tagen hatten ihm Freunde und Bekannte gesagt, dass sie nicht mehr weiterwüssten. Einer schrieb ihm sogar eine SMS: „Wenn ich keine Kinder hätte, ich würde wohl dasselbe tun wie dein Vater.“
Als der FNSEA-Vertreter zu den Landwirten spricht, sagt er, dass es keine Erfolge zu vermelden gibt. Keine finanziellen Entschädigungen, nichts. Man werde einen Monat lang warten und darauf hoffen, dass die Regierung auf dem Salon de l’Agriculture in Paris Maßnahmen verkündet. In diesem Moment gehen Freunde auf Bayle zu, bitten ihn darum, dass er etwas tun soll. Mit seiner Art zu sprechen, seiner Hemmungslosigkeit, seiner Lebenserfahrung könne er sicherlich etwas bewegen. Der ehemalige Rugby-Amateur aus Montesquieu-Volvestre im Süden von Toulouse schnappt sich das Mikrofon.
Er mache keine Politik, sei kein Gewerkschaftsvertreter, aber, so der Südfranzose, der von sich selbst behauptet, er habe eine große Klappe: „Wir müssen in den Krieg ziehen und wir werden in den Krieg ziehen.“ Dann ruft er alle Anwesenden dazu auf, in zwei Tagen die Autobahn A64 zu blockieren. Am Donnerstag stellen sich rund 80 Traktoren an einer Brücke bei Carbonne südlich von Toulouse auf. Niemand kann mehr die Verkehrsachse, die nach Bayonne führt, passieren. Der Protest der Landwirte breitet sich von dort in ganz Frankreich aus. Bayle hatte den Funken gezündet. Innerhalb weniger Tage gehört er zu den in Frankreich am meisten gesuchten Personen auf Google. In den Medien ist er omnipräsent. Er wird im Nachrichtensender BFM geschaltet, das öffentlich-rechtliche Fernsehen dreht eine Reportage, Radiosender interviewen ihn und überregionale Zeitungen widmen seiner Person große Porträts.
Das romantische Bild der Landwirte in den Köpfen der Franzosen
Bayle wird zum Gesicht einer Bewegung der Landwirte, die die Schnauze voll haben und trotz großer Investitionen keine Verbesserung im Vergleich zur Vergangenheit ihrer Eltern sehen. Okzitanien ist die französische Region mit der größten Biolandwirtschaft: mehr als 600 000 Hektar Anbaufläche. Fast jeder vierte Hof macht Bio. Doch von der Landwirtschaft lebt es sich schwierig. Bayle zum Beispiel bewirtschaftet seinen Hof alleine, arbeitet rund 14 Stunden am Tag. Auf seinen 160 Hektar baut er noch Getreide an. 2015 übernahm er den Hof von seinen Eltern. Rente? Der Vater habe etwas mehr als 600, die Mutter nur über 200 Euro erhalten, sagt er.
„Die Landwirtschaft ist ein nationales Symbol Frankreichs“, eklärt François Purseigle, Soziologe bei Sciences Po Toulouse. Es gibt nicht einmal mehr 400 000 Landwirte in Frankreich, 200 000 von ihnen gehen in den nächsten zehn Jahren in Rente. Die ehemalige Agrarnation, die immer stolz darauf war, sich selbst versorgen zu können, steht vor einem großen Umbruch.
Nicht nur in der Fläche sieht man, wie die Landwirtschaft Frankreich prägt: Die französische Bank mit den meisten Kunden ist Crédit Agricole, die 1885 für die Bauern gegründet wurde. Selbiges gilt für den größten Versicherer Groupama. Die Landwirte machen zwar nicht einmal mehr ein Prozent der Bevölkerung aus, aber in jeder siebten Gemeinde ist einer von ihnen Bürgermeister. Ein Erbe der Dritten Republik. Damals entschieden die Politiker, das „kleine Volk“ – Handwerker, Saisonarbeiter, Vagabunden – dazu aufzufordern, in die Städte zu ziehen. Die Provinz wurde den Bauern überlassen. Sie wurden Eigentümer, Soldaten, Bürger.
„Bonjour monsieur, c’est Gabriel Attal“
Wenn Jérôme Bayle und seine Mitstreiter also zehn Tage lang eine der wichtigsten Autobahnen lahmlegen und trotzdem knapp drei Viertel der Bevölkerung hinter sich wissen, dann, weil sie auf diesem historischen Fundament der Landwirtschaft aufbauen. Ein Fundament des Stolzes. Doch Stolz und Bedeutung der Landwirtschaft nahmen in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter ab. „Die Landwirtschaft befindet sich seit Jahrzehnten im Abstieg“, sagt Bayle, der ein riesiger Sportfan ist. Fußball, Rugby, Rennrad – er schaut alles. Lange sei die Landwirtschaft der Sektor gewesen, der unangefochten französischer Meister wurde. Doch besteht die Gefahr, wie bei Mannschaften wie Sochaux oder Bordeaux, dass man „in die Hölle absteigt“.
So klingelt am 26. Januar sein Handy, während er auf der Autobahn ausharrt. Es zeigt eine unbekannte Nummer an. Bayle hebt ab: „Bonjour monsieur, c’est Gabriel Attal.“ Der erst vor kurzem ernannte Premierminister muss seine erste Krise bewältigen und kündigt an, am Nachmittag einen Besuch abzustatten. Bayle empfängt ihn, diskutiert, die beiden setzen sich in die Dienstlimousine des Regierungschefs. Die Landwirte hatten zuvor drei prinzipielle Forderungen: Hilfen gegen das Virus, Streichen einer Steuer für Agrardiesel und die Freigabe für den Bau von Wasserreservoiren und Staudämmen. „Als wir auf der Rückbank seines Autos saßen, haben wir binnen kurzer Zeit 14 Maßnahmen ausgehandelt“, erinnert sich Bayle. Später, in der Abenddämmerung, steht der schmale Premier vor Bayle und dessen Freunden. Dunkelblauer, maßgeschneiderter Anzug, das Redemanuskript auf einem Heuballen abgelegt. „Wir haben beschlossen, die Landwirtschaft über alles zu stellen. Über alles. Und wir fangen damit heute an“, sagt der Regierungschef – auf dem Hof von Jérôme Bayle. Der bedankt sich und ruft seine Mitstreiter dazu auf, bis zum nächsten Tag die Autobahn freizumachen.
Auch bei den Landwirten ist der RN inzwischen stärkste Kraft
Die Proteste der Landwirte nehmen in den Wochen darauf trotzdem kein Ende. Weder in Frankreich noch in Europa. Frankreich ist zwar nominell der größte Empfänger der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik, doch die Profiteure sind die Großindustriellen. Mehr Fläche gleich mehr Förderung. Lange war der Rassemblement National ein rotes Tuch für die Landwirte, bei der Europawahl wählten 26 Prozent von ihnen die Liste von Jordan Bardella. Immer noch weniger als der Landesdurchschnitt, vor allem deutlich weniger als der Rest der Landsleute in der Provinz. Trotzdem ist der RN auch bei den Landwirten inzwischen die erste politische Kraft.
Jérôme Bayle wundert das kaum. Er spricht zwar in hohen Tönen von Gabriel Attal und Regionalpräsidentin Carole Delga (PS), doch kenne er einige Landwirte, die RN wählen. Was ihn und seine Freunde am meisten aufrege, sei es, wenn Menschen in der Großstadt sie belehren möchten: „Wir sind hier geboren. Während ich mit dir spreche, gebe ich den Kühen zu fressen und setze mich in den Traktor. Ich brauche keinen Kerl, der im 15., 16. oder 20. Bezirk von Paris wohnt und mir erklärt, wie ich zu leben habe“, sagt er mir am Telefon.
„Ich hatte nicht gedacht, dass er den Mut haben würde, abzudrücken“
Bayle muss sich nach den wenigen Tagen im Rampenlicht viele Vorwürfe gefallen lassen. Auf YouTube, X und anderen Plattformen beschimpfen ihn Berufskollegen. Er sei ein Verräter, habe sich einlullen, sich kaufen lassen. Er verbucht wiederum die Verhandlungsergebnisse als Erfolge. Man habe die Abwärtsspirale durchbrochen. Bayle erzählt von dem Tag, an dem die Welt, wie er sie kennengelernt hatte, aufhörte zu existieren. Mitte Juli 2015. Bayle sucht auf dem Hof nach seinem Vater. Den genauen Tag hat er nicht mehr im Kopf, aber die Uhrzeit. Es war 13:35 Uhr: „Als ich ihn fand, hatte er eine Kugel im Kopf.“ Bayle wusste, dass sein Vater Schulden angehäuft hatte und sich vom Staat im Stich gelassen fühlte. Damals grassierte eine andere Viruskrankheit, die seine Rinder befallen hatte. „Aber ich hatte nicht gedacht, dass er den Mut haben würde, abzudrücken.“ Der Vater atmete noch, das Gewehr lag neben ihm. Bayle rief die Notärztin. Der Hubschrauber traf ein. Als sie in der Luft waren und der Vater neben ihm lag, fragte er die Ärztin:
„Kann er das überleben?“
„Falls er es schaffen sollte, wird er sein ganzes Leben lang Gemüse bleiben.“
„Dann sollten wir seinen Wunsch respektieren.“
Der Vater sei überhaupt nicht wie er gewesen, sagt Bayle. „Ich habe die Mentalität eines Kriegers, im Gegensatz zu ihm. Er war ein sehr guter Soldat, ein Vertrauensmann. Aber er hätte es nie zum General gebracht.“ Der Hof habe für den Vater alles bedeutet. Das letzte Versprechen, das er an ihn richtete, sei gewesen, dass er den Hof zu einem machen werde, auf den der Vater stolz sein könne. „Du wirst stolz auf mich sein, hörst du?“
Heute sagt Jérôme Bayle, sein Vater habe sich wegen der Landwirtschaft das Leben genommen, weil ihn der Staat nicht genügend unterstützt habe. Doch genau hierin liegt vielleicht die Frage, die in Frankreich zwar immer wieder angeschnitten, aber nie substanziell debattiert wird: Worin liegt die Verantwortung des Staates, wie weit geht sie, wo endet sie?
Dieser Text ist ein Auszug aus einem Buch über Jean-Marie Magros Tour de France, welches im April 2025 im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv) erscheinen wird.
Der Autor
Jean-Marie Magro ist in München geboren und Sohn einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters. Er wuchs in der bayerischen Landeshauptstadt auf, studierte Volkswirtschaft und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Er arbeitet als Hörfunkreporter in der Politikredaktion des Bayerischen Rundfunks. In Reportagen, Features und Interviews berichtet er vor allem über Themen der Außenpolitik mit besonderem Augenmerk auf Frankreich.