Cocoriki:
Der Himmel fällt uns auf den Kopf!

Cocoriki: Der Himmel fällt uns auf den Kopf!
  • VeröffentlichtMai 16, 2025
"Le ciel lui tombe sur la tête", von René Goscinny und Uderzo (Copyright: privat)
„Le ciel lui tombe sur la tête“, von René Goscinny und Uderzo (Copyright: privat)

Die Gallier hatten Angst davor, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt, während die Germanen fürchteten, ein Kampf zwischen Göttern und Riesen könne den Weltenbaum zerstören. Und heute? Haben sich unsere beiden Völker bezüglich ihrer Ängste angenähert? Cocoriki sucht nach Antworten.

 

„Zieh Dir schnell trockenes Badezeug an, du holst dir sonst noch was!“ Welcher Deutsche kennt diesen Satz aus der Kindheit nicht? Mutti hat ihn so oft wiederholt, bis man ihn verinnerlicht hatte: Kaum war man aus dem Wasser, da schlüpfte man auch schon in trockenes Badezeug und beugte somit vor, sich nichts „zu holen“. Dies war zu einer allgemeingültigen Weisheit geworden.

Wie groß war dann aber meine Überraschung, als ich feststellte, dass diese Weisheit nur unter deutschen Muttis zu zirkulieren schien: 1989 begleitete ich die zwei Jungs meiner Au-Pair Familie ins Schwimmbad und fragte ganz selbstverständlich, ob sie an die zweite Badehose gedacht hatten, erntete aber nur verwunderte Blicke: „Hein? Pourquoi se changer? Ca sèche au vent!“ Ich versuchte erst gar nicht, Muttis zweites Argument zu verwenden, bei meinem Französischniveau von damals hätte ich „ihr werdet euch etwas holen“ wohl wörtlich mit „vous allez vous chercher quelque chose” übersetzt und für noch mehr Verwunderung gesorgt.

Wieder zu Hause teilte ich mein Erlebnis mit meiner Gastmutter, die mich ebenfalls mit großen Augen ansah und schließlich kopfschüttelnd sagte: „Ah, vous les Allemands, vous avez peur de tout!“ Diesen Satz sollte ich noch öfter hören:

 

„Aber bitte ohne rote Beete!“

1993, meine deutschen und französischen Kommilitonen trafen sich regelmäßig zum Mittagessen in einem Bistro gegenüber der Sorbonne-Nouvelle, wo wir studierten. Wir bestellten immer das gleiche, nämlich Croque Monsieur mit Salat – das billigste auf der Karte. „Sans betteraves rouges, s’il vous plaît“, fügten die Deutschen dann immer hinzu, da doch seit Tschernobyl gerade Rohkost immer noch verseucht sei. Geneviève, la patronne, schüttelte nur den Kopf: „Ah, vous les Allemands, vous avez peur de tout.“ „En plus, tout le monde sait que le nuage nucléaire s’est arrêté à la frontière“, fügte sie noch spöttisch hinzu. Während man in Deutschland Angst vor der Radioaktivität der roten Beete hatte, gab es in Frankreich nämlich eine andere Debatte: Was hatte der Staat seinen Bürgern bezüglich der Gefahren durch die Atomwolke wohl verheimlicht? Es ist eben alles eine Frage der Prioritäten!

 

VF, Viande française

Copyright: Wikimedia
Copyright: Wikimedia

Drei Jahre später – wir wagten uns gerade wieder an rote Beete – lauerte schon die nächste Gefahr: Die BSE-Krise, bzw. der Rinderwahnsinn. Sofort nahmen die meisten deutschen Kantinen und Restaurants Rindfleisch von der Karte, viele Deutsche stellten auf vegetarisch um. Und in Frankreich? In der Kantine des französischen Außenministeriums konnte man weiterhin „un steak frites“ bestellen, „et saignant s’il vous plaît”. Als meine französischen Kollegen meine besorgten Blicke sahen, erntete ich nur den mir bereits bekannten Satz: „Ah, vous les Allemands, vous avez peur de tout. Il faut bien crever de quelque chose, hein?“

Ein lustiges Detail gab es allerdings noch: Um wirklich alle Befürchtungen aus dem Weg zu räumen, hatte der Kantinenchef ein Poster mit dem Gütesiegel „VF“, Viande française, aufgehängt. Niemandem war dabei jedoch aufgefallen, dass VF auch vache folle bedeuten könnte…

 

Republik der Angst

Ist Angst also eine durch unsere Kultur und das Narrativ unseres Landes geprägte Besonderheit? Sind wir Deutsche Weichlinge, die Angst vor einer Erkältung haben, während die Franzosen hartgesotten ihre nasse Kleidung anbehalten? Auf meiner Suche nach Antworten stieß ich auf das Buch Republik der Angst: Eine andere Geschichte der Bundesrepublik (2019) von Frank Bies, in dem es um die verschiedenen Formen der sogenannten German Angst geht: Die Angst vor einem Atomkrieg oder einer Atomkatastrophe, die Angst vor einer Zerstörung der Umwelt und Natur, die Angst vor Überwachung, sowie die Angst vor einem Zusammenbruch des Wirtschafts- und Finanzsystems. Ich erfuhr zudem, dass jedes Jahr ein deutscher Angstindex erstellt wird, der 2020 offenbarte, Donald Trump mache den Deutschen die meiste Angst, was meine französischen Freunde in tiefstes Staunen versetzte.

 

Coypright: Alamy
Coypright: Alamy

 

Und die Angst in Frankreich? Ich tippte „la peur des Français” auf Google ein, fand aber lediglich einen Artikel mit folgendem Titel: „Voici la chose qui fait le plus peur aux Français en 2024 selon Arte.“ Auf dem ersten Platz: 19 % der Franzosen machen sich Sorgen um ihr Liebesleben. Ich änderte meinen Suchbegriff und wurde dann unter „Ce qui préoccupe les Français” fündig: Sicherheit, Kaufkraft und Arbeitslosigkeit führten hier die Liste an, also ähnlich wie bei den Deutschen. Das warf wiederum andere Fragen auf: Prägt etwa unsere Sprache, unsere Wortwahl unsere Wahrnehmung der Welt? Lebt es sich leichter, wenn einen etwas nur „beschäftigt“, statt einem Angst zu machen? Schwer zu beantworten.

Ich persönlich habe entschieden, mich der Angst entgegenzustellen: Ich wechsle nach dem Schwimmen nicht mehr die Badehose und esse viande française mit roter Beete in einem Land, in dem es Atomkraftwerke gibt. Quel courage!

 

Der Autor

Frank Gröninger
Copyright: Frank Gröninger

Der in Hessen geborene Frank Gröninger wohnt seit 1993 in Paris, wo er als Lehrer für Deutsch und interkulturelle Beziehungen unter anderem für das französische Außenministerium und Sciences Po, dem Institut für politische Wissenschaften arbeitet. 2021 erschien sein Buch „Douce Frankreich: die Abenteuer eines Deutschen in Paris“, sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, 2022 sein zweites Buch, „Dessine-moi un(e) Allemand(e)“.

 

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