EU-Verfassung:
Vor 20 Jahren verloren viele Franzosen das Vertrauen in die EU


2005 lehnte die Mehrheit der Franzosen in einem Referendum die EU-Verfassung ab. Wesentliche Teile des Projekts traten über den Lissabon-Vertrag ab 2009 aber trotzdem in Kraft. Das hat Wunden gerissen, deren Narben bis heute sichtbar sind.
Der 29. Mai 2005 ist für Anhänger und Gegner der EU in Frankreich ein mythisches Datum. 54,5% der Franzosen verneinten an diesem Tag die Frage, ob sie „dem Gesetzentwurf, der die Ratifizierung des Vertrags für eine Verfassung für Europa“ (das sogenannte Vertragsprojekt von Rom) zustimmen wollten. Zwei große Neuerungen des Projekts waren die Ämter des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik und des Ratspräsidenten. Dass es beide Posten heute gibt, trotz der Ablehnung in Frankreich und kurz darauf auch in den Niederlanden, deutet an, dass das „Nein“ kein Schlusspunkt war, sondern der Auftakt der für die EU entscheidenden Debatte, wie sehr Souveränität auf die europäische Ebene übertragen werden soll.
Denn mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags, 2009, wurden viele ursprüngliche Anliegen des Vertragsprojekts doch noch umgesetzt. Valéry Giscard d’Estaing, der die europäische Verfassung entworfen hatte, kommentierte später, sie sei im Vertragstext von Lissabon lediglich „neu verpackt“ worden. Jean-Pierre Chevènement, ein Gegner der Verfassung, sprach von „rein kosmetischen Änderungen“. So ist „2005“ in der französischen Debatte zu einer Chiffre für das Demokratiedefizit der EU geworden: von den extremen Rechten über klassische Gaullisten bis zur extremen Linken.
Bis heute ist das Referendum ein Bezugspunkt politischer Debatten, an dem Politiker an ihrer damaligen Haltung gemessen werden. Claude Martin, von 1999 bis 2007 Botschafter in Berlin, erinnert in seinen Memoiren etwa daran, dass die Abstimmung während der Gelbwesten-Proteste zitiert wurde, als Beweis dafür, dass der Volkswille „mit Füßen getreten“ werde. Martin kommentiert: „Zumindest in diesem Punkt konnte ich sie verstehen“ und gesteht, dass auch er damals mit „Nein“ gestimmt habe. Als im vergangenen Jahr Michel Barnier zum Premierminister ernannt wurde, erinnerten mehrere Artikel daran, dass er das Referendum von 2005, damals als Außenminister Jacques Chiracs, mit den Worten kommentier hatte, das Verfassungsprojekt müsse, trotz der Ablehnung, „neu erfunden werden“.
Neue Trennlinie der Politik
Aus der Ablehnung der Verfassung und dem Gefühl der Wähler, um ihre Stimme betrogen worden zu sein, entstand eine neue politische Trennlinie, die seither auch in anderen westlichen Demokratien an Bedeutung gewonnen hat. Anders als bei wichtigen Entscheidungen der Vergangenheit schien die klassische Unterteilung in links und rechts rund um das Referendum von 2005 zweitrangig geworden zu sein. Symbolisch stand dafür das gemeinsame Werben zweier späterer Präsidenten, Nicolas Sarkozy (UMP, rechts) und Francois Hollande (PS, links) für das Verfassungsprojekt auf dem Titel von Paris Match. Gegner der EU-Verfassung, etwa Jean-Marie Le Pens Front National (FN), sprachen deshalb von der Einheitspartei „UMPS“.

Links und rechts schienen zur Vermessung politischer Positionen plötzlich überkommen. Kosmopolitisch und national, progressiv und populistisch – diese Begriffspaare ersetzten oder ergänzten das bisherige Vokabular. Auch die geographische Bruchlinie, die 20 Jahre später französischen Wahlen kennzeichnet – urbane Zentren auf der einen, Dörfer und kleine Städte auf der anderen Seite – zeichnete sich 2005 ab. Spürbare Verwerfungen im politischen Spektrum folgten: Im Parti Socialiste (PS) schieden sich an dem liberalen EU-Europa die Geister, ein Richtungsstreit führte zum Parteiaustritt Jean-Luc Mélenchons, der 2008 den Front de Gauche (ursprünglich: „um Europa zu ändern“) mitgründete, eine Protestpartei, die gegen den Lissabon-Vertrag gerichtet war. Francois Ruffin, ehemaliger Weggefährte Mélenchons und langjähriger Abgeordneter, erkennt in dem EU-Referendum heute die „Geburtsstunde“ einer neuen, populistischeren Linken. Während die alte Linke sich „um das Volk bemüht“ habe, habe die neue „linke Aristokratie“ (sprich: Teile des PS) das eigene Volk nur noch verachtet.
Auch im rechten Spektrum hatte das Referendum langfristige Konsequenzen. Zwar wurde 2007 Sarkozy zum Präsidenten gewählt, trotz seiner Zustimmung zur Verfassung. 2008 stimmte dann die neue Nationalversammlung mit großer Mehrheit (336 Stimmen dafür, 52 dagegen, 22 Enthaltungen) für die Ratifizierung des Lissabon-Vertrag und machte den Weg frei für wichtige Inhalte des Vertrags. Doch die dahinterstehende Grundsatzfrage, ob die Union sich zukünftig föderalistisch oder konföderalistisch weiterentwickeln solle, war für Gaullisten entscheidend. Dass damals wichtige Figuren der Rechten, Premierminister Francois Fillon zum Beispiel, Alternativlosigkeit suggerierten, Abgeordneten ins Gewissen redeten und öffentlich infrage stellten, ob diese „Europa wirklich wiederbeleben“ wollten, wurde als Bruch mit der klassisch-gaullistischen Sicht Europas als eines Staatenbunds souveräner Nationen empfunden.
Umkämpfter Souveränitätsbegriff
Rückblickend lässt sich argumentieren, dass die Alternativlosigkeit von 2005 einen neuen Raum für Links- und Rechtspopulisten schuf. Denn das „Nein“ war zunächst einmal eine schwere Niederlage des französischen Establishments. Eine große Mehrheit der politisch-medialen Elite hatte über Wochen für das „Ja“ geworben, versucht, die Zustimmung zur Formsache zu machen. Noch Ende 2004 hatte der ehemalige Premierminister Michel Rocard die Abstimmung zu einer simplen „Frage der Geschäftsordnung“ der EU heruntergespielt und argumentiert, dass Reformen nach der Ost-Erweiterungen der EU (2004) unabdingbar seien. In den letzten Monaten vor der Abstimmung entbrannten aber Grundsatzdebatten um die Demokratie und Fragen der nationalen Souveränität. Die Logik einer immer tieferen EU-Integration, lange unantastbare Teleologie, wurde nun offen infrage gestellt.

Am Abend des 29. Mai reagierte Präsident Jacques Chirac in einer Fernsehansprache auf das Ergebnis: „Sie haben die Europäische Verfassung mehrheitlich abgelehnt. Das ist Ihre souveräne Entscheidung. Ich nehme sie zur Kenntnis.“ Heute, zwanzig Jahre später, lässt sich dem eine Erkenntnis hinzufügen: Referenden wurden in Frankreich fortan gemieden. Gehörten sie besonders in den Anfangsjahren der Fünften Republik und auch später noch zum Standardrepertoire französischer Demokratie, war jenes von 2005 das vorerst letzte auf nationaler Ebene. Die Erfahrungen in anderen EU-Staaten dürften den Wunsch nach Referenden zur EU seither nicht vergrößert haben: In Irland scheiterte 2008 der Lissabon-Vertrag, erst in zweiter Abstimmung wurde er, nach Veränderungen, ratifiziert. Spätestens seit 2016 und dem Brexit-Referendum haben Volksabstimmungen in der EU einen schlechten Ruf.
Die vormals gaullistischen Ideale einer direkten Demokratie und Volkssouveränität haben sich in Frankreich populistische Parteien angeeignet. Maurice Gourdault-Montagne, ein weiterer ehemaliger französischer Botschafter in Berlin, stellt fest, dass die gaullistische Bewegung sich an der Frage der EU-Integration und der Folgen für nationale Souveränität entzweit habe. Der Kampf wird weiterhin geführt: Und während Emmanuel Macron seit 2017 versucht, den Souveränitätsbegriff zu europäisieren, forderte die Gelbwestenbewegung 2018 im Inland die Einführung von Referenden auf Grundlage von Bürgerinitiativen. Die alte gaullistische Skepsis gegenüber dem supranationalen Europa nutzt nun das Rassemblement National (RN). Mit ihren Forderungen, zukünftig Souveränität aus Brüssel auf die nationale Ebene zurückzuholen, konnte die Partei in den vergangenen Europawahlen die meisten Stimmen gewinnen.
Deutsch-französische Missverständnisse
In Deutschland werden bei der Bewertung dieser Vorgänge französischer Politik häufig die eigenen Positionen als Maßstab angesetzt – bis heute. 2005 hatte der Bundestag nur zwei Tage vor dem Referendum in Frankreich dem Vertragsprojekt von Rom zugestimmt und in Berlin und Paris hoffte man auf eine positive Dynamik. Als klar war, dass die Mehrheit der französischen Wähler die EU-Verfassung abgelehnt hatte, regte sich in Berlin Kritik. Schon zuvor hatten einige deutsche Politiker die Entscheidung Chiracs, ein Referendum über die EU-Verfassung abzuhalten, als populistisch angegriffen. Prominente Europapolitiker wie Elmar Brok (CDU) und Martin Schulz (SPD) ließen ihrer Frustration nun freien Lauf, Schulz stellte sogar einen EU-Austritt Frankreichs in Aussicht. In Paris erntete er Kopfschütteln, so erinnern sich Martin und Gourdault-Montagne in ihren Memoiren.
Ganz ähnliche Missverständnisse im gegenseitigen Verhältnis zur EU hatte es auch früher schon gegeben. Etwa vor 25 Jahren, im Mai 2000, als der damalige grüne Außenminister, Joschka Fischer eine Rede zur Finalität des europäischen Integrationsprozesses hielt. Ein zukünftiges Verfassungsprojekt brachte Fischer in direkten Zusammenhang mit der Gründung einer europäischen Föderation. Sein Amtskollege in Paris, Hubert Védrine, war vorab nicht informiert worden, zeigte sich „äußerst verärgert“ über dieses Vorpreschen. In Berlin schien man damals – und scheint man heute immer noch – nicht zu verstehen, dass der Enthusiasmus für den Föderalstaat als mögliche Finalität der europäischen Integration in Paris (und vielen anderen Hauptstädten des Kontinents) wesentlich weniger ausgeprägt ist, als in Berlin.

Auch im vergangenen Bundestagswahlkampf forderte der Kanzlerkandidat der Grünen, Robert Habeck, einen „europäischen Patriotismus“. Während solche Töne aus deutscher Sicht als nachvollziehbare Lektion der eigenen Geschichte und als Wunsch zu verstehen sind, nationale Identitäten in Europa zu überwinden, sorgen sie in vielen anderen Ländern Europas für Verwunderung. Frankreich ist als engster europäischer Partner häufig erster Adressat solcher deutschen Initiativen – in dieser Sache aber kein geeigneter Partner. In Paris gibt es auch unter den überzeugtesten Anhängern der europäischen Integration kaum jemanden, der sich offen zum Föderalismus bekennt. Das wurde im vergangenen Europawahlkampf sehr deutlich, erschließt sich aus den medialen Debatten und aus der Lektüre entsprechender Literatur, etwa der Bücher französischer Europapolitikerinnen, Sylvie Goulard und Nathalie Loiseau, die 2024 zu dieser Frage publiziert haben.
Welches Europa und wozu?
Hinzu kommt, dass auch in Deutschland niemand zu wissen scheint, wo der europäische Einigungsprozess in den kommenden Jahren hinführen soll. Die Amtszeit Macrons, der in den vergangenen Jahren mit Appellen für mehr europäische Souveränität die Debatten prägte, neigt sich dem Ende zu. Kurz vor der Europawahl unterstrich er im vergangenen Jahr in der zweiten Sorbonne-Rede noch einmal die Gefahr für die EU, als Vasall der USA und „Zipfel des Westens“ zu enden. Ein Jahr später muss man ihm Recht geben, einmal mehr. Doch den Worten folgten keine Taten, die Vertiefung der EU ist nicht fortgeschritten. So wirkten die Appelle europäischer Staats- und Regierungschefs an Wladimir Putin und Donald Trump, in der Ukraine Frieden zu schaffen, zuletzt weiterhin hilflos.
In Anlehnung an den berühmten Vortrag Ernest Renans von 1882, „Was ist eine Nation?“, forderte Macron im vergangenen Jahr, diese alte Wesensfrage europäisch neu zu stellen. Für die EU wie auch ihre Mitgliedsstaaten ist damit die entscheidende Frage verknüpft, ob demokratische Mechanismen und Organisationsformen auf eine supranationale Ebene übertragen werden können und ob europäische Völker das wünschen. Diese Frage wurde 2005 nicht beantwortet und auch 2016 nicht, nach dem Brexit-Referendum. Schlimmer noch, vielerorts wird sie nicht mehr gestellt. Der Aufstieg populistischer, nationalistischer und souveränistischer Parteien auf dem ganzen europäischen Kontinent ruft sie aber bei jeder Wahl genauso in Erinnerung, wie die europäische Sprachlosigkeit.
Der Autor

Jacob Ross arbeitet als Research Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Seine Analysen fokussieren sich auf den Zustand der deutsch-französischen Beziehung und aktuelle Entwicklungen der französischen Außen- und Sicherheitspolitik. Aktuell beschäftigt er sich zudem mit rechten Oppositionsparteien in Frankreich und den Auswirkungen der US-Präsidentschaftswahl auf das deutsch-französische Verhältnis.