Auf Reisen:
Die Verwandlung des Pentagons

Auf Reisen: Die Verwandlung des Pentagons
  • VeröffentlichtMai 27, 2025
Blick auf die Place Napoléon (Copyright: Hilke Maunder)
Blick auf die Place Napoléon (Copyright: Hilke Maunder)

Acht Namen trug diese Stadt bereits – heute heißt sie wieder La Roche-sur-Yon. 2025 belegte sie Platz 14 im Ranking der „Villes et villages où il fait bon vivre“ unter 34.795 französischen Gemeinden. Die Hauptstadt der Vendée, vor gut 200 Jahren als Idealstadt des Empire gegründet, wandelt sich derzeit zu einer Zukunftsoase.

 

Wer auf Rue du Maréchal-Joffre aus dem Süden auf die Place Napoléon zufährt, sieht ihm direkt ins Auge: Napoléon Bonaparte. 4,66 Meter hoch reitet er – mit dem berühmten Dreispitz auf dem Kopf – auf einem 4,86 Meter hohen Granitsockel in der Mitte eines riesigen rechteckigen Platzes, 200 mal 140 Meter – so groß wie vier Fußballfelder. Der gleiche Blickfang bietet sich von allen vier Hauptachsen – und damit auch von der Rue du Président de-Gaulle aus dem Osten, der Rue du Maréchal Foch aus dem Norden und der Rue Georges Clémenceau aus dem Westen.

Diese geometrische Perfektion ist kein Zufall. Napoleon I. ließ ab 1804 hier seine Idealstadt errichten – als weltgrößtes zusammenhängendes napoleonisches Stadtensemble auf 115 Hektar. Die ursprünglich als Quadrat geplante Stadt wurde wegen des Flusses Yon zum Pentagon geformt. Heute ist La Roche-sur-Yon das einzige vollständige Pentagon Frankreichs – größer und konsequenter umgesetzt als das kleine 25-Hektar-Pendant in Pontivy.

 

Ein Kaiser, ein Tag, ein Traum

Napoleon selbst kam nur einmal nach La Roche-sur-Yon. Am 8. August 1808 inspizierte er seine im Aufbau befindliche Stadt. Es war ein trüber, regnerischer Tag. Das Gelände war schlammig und dreckig – früher war hier nur Wald gewesen. Um 11 Uhr kam der Kaiser, um 17 Uhr war er bereits wieder fort: sechs Stunden für seinen größten Stadtplanungstraum.

Architekt Jean-François-Joseph Lecointe (1783-1858), Schüler der EmpireMeister Percier und Fontaine, setzte Napoleons Vision um. Um die zentrale Place Napoléon gruppierte er am höchsten Punkt der Stadt die Symbole der kaiserlichen Macht und Ordnung. Rathaus und Justizpalast stehen sich gegenüber, die Kirche Saint-Louis entstand nach Vorbild der Pariser Église de la Madeleine am anderen Ende des Rechtecks als römisch inspirierter Tempel des Klassizismus. An den Achsen platzierte er Präfektur, Kaserne und Gestüt. Jedes Gebäude entstand aus regionalem Granit vom Armorikanischen Massiv – dem gleichen Gestein wie in der Bretagne.

 

Die Kirche Saint-Louis von innen (Copyright: Hilke Maunder)
Die Kirche Saint-Louis von innen (Copyright: Hilke Maunder)

 

Die Regenrinnen der Bauten rings um den Platz leiten das Regenwasser in ein Netz von Zisternen für die 12.000 bis 15.000 geplanten Einwohner. Die unterir-dischen Reservoirs dienten gleichzeitig als Löschwasser-Depot – eine für die Zeit revolutionäre Stadtplanung.

 

Vom Exerzierplatz zur grünen Oase

Ursprünglich exerzierten bis zu 20.000 Soldaten auf der Place Napoléon und standen bei Paraden Spalier. Später diente sie als Parkplatz – heizte jeden Sommer mit ihrem Stein die Stadt auf – bis 2006 das Projekt „Pentagone 2006-2020“ startete, der nachhaltige Stadtumbau für über 100 Millionen Euro.

Frankreichs Stararchitekt Jean-Michel Wilmotte entwarf dazu den Masterplan. Das Landschaftsarchitekturbüro In Situ unter Michel Desvigne entwickelte innovative Begrünungskonzepte. Arcadis kümmerte sich um die Verkehrsberuhigung. Das Ergebnis: Aus dem Pentagon wurde eine der begehrtesten Städte Frankreichs. 2009 beauftragten die Stadtväter Andrej Chemetov mit der Neugestaltung der Place Napoléon. Bis 2014 verwandelte Chemetov, der auch hinter den städtebaulichen Entwicklungen der Île de Nantes steht, die Place Napoléon für elf Millionen Euro in ein lebendiges Spektakel. Seine Geheimwaffe: 13 mechanische Tiere von François Delarozière, dem Gründer der Machines de l’île aus Nantes. In vier Wasserbecken tummeln sich Nilpferd, Krokodil, Schildkröte und Flamingos. Jedes Tier ist interaktiv. Auf Knopfdruck, per Hebel und Steuerrad heben die 3,60 Meter hohen, 600 Kilogramm schweren Flamingos ihren Kopf, flattern mit den Flügeln und blicken die Besucher direkt an.

Das Pentagon (Copyright: Wikimedia Commons)
Das Pentagon (Copyright: Wikimedia Commons)

Die Tierwahl ist kein Zufall: Karpfen, Otter, Kranich und Libelle leben tatsächlich im Fluss Yon und den umliegenden Feuchtgebieten. Die mechanischen Doubles machen auf die regionale Biodiversität aufmerksam – Umweltschutz wird zum Erlebnis. Das mechanische Krokodil erzählt eine besondere Geschichte: Es erinnert an Napoleons Ägypten-Feldzug von 1798. Während dieser Expedition wurde das Krokodil zum Symbol für die Exotik der napoleonischen Abenteuer. Heute bewegt es sich auf Knopfdruck durch sein Becken. Die Tiere haben in La Roche-sur-Yon sogar einen neuen Berufsweg bei der Stadtverwaltung geschaffen: Drei vétérinaires mécaniques kümmern sich in einer nahen Werkstatt um das Wohlbefinden der metallenen Menagerie.

6.000 Quadratmeter neue Grünflächen entstanden bei der Umgestaltung. Echte Koi-Karpfen ziehen ihre Bahnen in den Becken, lebendige Frösche quaken, aus Lautsprechern sorgt Ambient-Sound von früh bis spät für Atmosphäre. Geschickt integriert in den Platz wurde die hinter Grün versteckte Busspur – jeden Samstag verkehren sämtliche Buslinien kostenlos, für Einheimische wie für Besucher.

Am 22. Mai 2024 eröffnete das Vier-Sterne-Hotel „The Square“ an der Place Napoléon. Wo einst Bürokratie und Verwaltung La Roche-sur-Yon den Ruf einer langweiligen Stadt verliehen, sorgt heute Luxushotellerie mit Live-Konzerten zum Apéro, sommerlichen Braséro-Abenden und Lifestyle von Bar bis Bett für Wohlfühlambiente.

 

Schöner shoppen im Zentrum

Die Rue Georges Clémenceau wandelte sich zur autofreien Hauptshoppingmei-le. Auf mehr als zwei Kilometern sind heute die Straßen der Stadt Fußgängern vorbehalten. Innerstädtische Tempo-30-Zonen reduzierten den Autoverkehr weiter. Breite Gehwege und neue Fahrradwege entstanden. Das Ergebnis: 60 Kilometer ausgewiesene Radwege durchziehen heute die Stadt.

Die einstige Markthalle wandelte sich 2015 zu einer Halle Gourmande, einem kulinarischen Schlemmerreich mit 1.200 Quadratmeter Verkaufsfläche und rund 30 Händlern und Gastronomen. Am Eingang begrüßt ein großes Keramik-Wandbild von Geneviève Couteau (1975) die Besucher – mit Stadtwappen und Szenen des regionalen Lebens.

 

Die Rue Georges Clémenceau (Copyright: Hilke Maunder)
Die Rue Georges Clémenceau (Copyright: Hilke Maunder)

 

Pocket Gardens erobern die Straßen

Hunderte kleine Stadtgärten – Pocket Gardens – säumen heute die Straßen. Mit typisch französischen Staketenzäunen aus Kastanienholz eingefasst, bringen sie Biodiversität und Farbe in jeden Winkel. Mehr als 500 neue Bäume wurden gepflanzt und neue Parks wie der Jardin de la Préfecture angelegt. Das einstige Staatsgestüt bildet heute den größten öffentlichen Park im Herzen der Stadt und lässt in der Schmiede und den Ställen die Geschichte der Hengstzucht von La Roche-sur-Yon aufleben – im Sommer hautnah zu sehen bei Freiluftaufführung im Theater des Haras.

Das Routennetzwerk La Vendée à Vélo verbindet La Roche-sur-Yon mit mehr als 1.800 Kilometern Radwegen im Département. Sieben markierte Hauptrouten führen ins Umland: zur Atlantikküste, ins Marais Poitevin und ins malerische Yon-Tal. Der Circuit du Moulin Papon entlang des Stausees ist besonders familienfreundlich. Am Moulin de Rambourg wird die Geschichte der Mühlen am Fluss lebendig gehalten – und geht es im Kanu auf das Gewässer.

 

Pentagone 2030: Die nächste Revolution

Das aktuelle Projekt „Pentagone 2030″ investiert weitere 50 Millionen Euro. Schwerpunkt: Klimaanpassung, Smart City, noch mehr Begrünung. Das Bahnhofsviertel wird komplett revitalisiert – breite Fußgängerwege, Fahrradstraßen, ein attraktiver Vorplatz als Eingangstor zur Stadt. Das Quartier Les Halles rund um die Markthalle wird mit neuen Wohnungen und Stadthäusern ausgebaut. Kostenloses WLAN an zentralen Plätzen, digitale Informationssysteme, intelligente LED-Beleuchtung sollen La Roche-sur-Yon zur Smart City machen. Fortgesetzt wird auch die Renaturierung der ehemaligen Steinbrüche von Coux. Wo einst der Granit für den Bau der Stadt gewonnen wurde, sollen Wanderwege, Infotafeln und begrünte Steinbruchwände die Rohstoffquelle von einst in ein zentrumnahes Erholungsgebiet verwandeln.

Heute leben 55.000 Menschen in der Stadt, die für 12.000 geplant war. Napoleons Pentagon ist zu einer der attraktivsten Städte Frankreichs geworden – ein Erfolg, der zeigt, wie historisches Erbe und nachhaltiger Stadtumbau harmonieren können.

 

Die Autorin

Hilke Maunder
Hilke Maunder (Copyright: Lara Maunder)

Hilke Maunder, 1961 in Hamburg geboren, kam nach ihrem Anglistikstudium und Volontariat 1989 als Redakteurin zu den Lübecker Nachrichten in Mecklen-burg, ging als Korrespondentin nach China, Vietnam, ins Baltikum und nach Australien und berichtet seit 2010 aus Frankreich. 2014 wurde sie für ihre Arbeit und ihren Blog „Mein Frankreich“ mit der Médaille de Tourisme ausgezeich-net, 2023 mit dem Gutedelpreis.

 

This site is registered on wpml.org as a development site. Switch to a production site key to remove this banner.