Nuklearabschreckung:
Aus der Geschichte lernen?


Die jüngsten Debatten über die europäische Sicherheit haben die französische nukleare Abschreckung erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt – ebenso wie die Frage, ob und inwieweit sie über das nationale Territorium hinaus ausgeweitet werden könnte. Die Diskussion darüber ist nicht neu.
Als die „Provisorische Regierung der Französischen Republik“ im Sommer 1945 – nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki – das Projekt eines französischen Atomprogramms startete, geschah das in der Hoffnung, die Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes zu gewährleisten und ihm gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, seinen Rang als Großmacht wiederzuerlangen. Dieses sowohl militärische als auch zivile Projekt kam nur langsam in Gang und gewann erst ab den 1950er Jahren an Bedeutung. Der Kalte Krieg, insbesondere der Aufstieg der UdSSR zur Atommacht, überzeugte Frankreich davon, es zu beschleunigen.
Die französische Atomkraft europäisieren?
Nach der Gründung der Westeuropäischen Union (WEU) und der damit einhergehenden deutschen Wiederbewaffnung wurde die Frage der „Europäisierung der französischen Atomkraft“ zum ersten Mal ernsthaft auf die politische Tagesordnung gesetzt. Bei Gesprächen zwischen dem deutschen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß und seinem französischen Amtskollegen Jacques Chaban-Delmas wurden große Teile der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich, einschließlich der Nuklearfrage, erörtert. Deutschland hatte zwar auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet. Nichts hinderte es allerdings daran, sich an internationalen Programmen zu beteiligen. Konrad Adenauer selbst befürwortete dies, zumal der Kanzler angesichts der Ereignisse von 1956 – Budapester Aufstand, Suez-Krise und die Bereitschaft der USA, ihre militärische Präsenz in Europa zu verringern – der Meinung war, die USA könnten versucht sein, Moskau gegenüber weniger hart vorzugehen. Im Gegensatz zu Großbritannien profitierte Frankreich nicht von der technologischen Hilfe der USA und hatte den Bau einer nationalen Atomwaffe zum Grundpfeiler seiner Abschreckungsstrategie gemacht.

Dieser Logik folgend war Bonn der Ansicht, Paris könnte europäische Partner für die Beschleunigung seines Programms brauchen. Daher unterzeichneten Strauß und Chaban-Delmas auch am 18. Januar 1957 in Colomb-Béchar (Südwestalgerien) ein Kooperationsabkommen. Der Text spricht von gemeinsamen Projekten im Bereich der Raketen- und der Nukleartechnik. Zu diesem Zweck soll ein „Europäisches Institut für Ballistik“ gegründet werden, in dem neben Frankreich Deutschland und Italien die wichtigsten Akteure sein sollten – alles unter strengster Geheimhaltung. Gleichzeitig vereinbarte Bonn jedoch mit den Amerikanern die nukleare Teilhabe im Rahmen der NATO und die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden. Sowohl die nukleare Zusammenarbeit mit Frankreich als auch der amerikanische Schutzschirm bildeten in den 1950er Jahren unverzichtbare Pfeiler der deutschen Sicherheit!
Frankreich als Atommacht in der EWG
Mit der Rückkehr von General de Gaulle an die Macht (Mai 1958) änderte sich die Lage. De Gaulle beendete die Abkommen mit Deutschland und Italien, um eine rein nationale Atomstreitmacht aufzubauen. In seinen Augen ging es vornehmlich darum, das französische Territorium einzig und allein durch die nationale nukleare Abschreckungskraft zu sichern. Diese Politik wurde mit dem ersten französischen Atomwaffentest am 13. Februar 1960 ermöglicht. Paris wurde zu einer Atommacht, während die anderen EWG-Mitglieder unter dem atomaren Schutzschild der NATO blieben.
Die französischen Behörden lehnten den amerikanischen Vorschlag ab, die Atomwaffen zum gegenseitigen Schutz aller NATO-Staaten zu nutzen, denn sie wollten nicht, dass die französischen Streitkräfte amerikanischem Kommando unterstellt würden. Sie verweigerten auch die Unterzeichnung des Vertrags über die Nichtverbreitung von Atomwaffen. Das Scheitern des Fouchet-Plans, mit dem eine autonome europäische Verteidigung geschaffen werden sollte, beschleunigte den politischen Alleingang Frankreichs. 1966 trat Paris aus dem Integrierten Kommando der NATO aus und bekräftigte damit seine militärische Unabhängigkeit. Es blieb aber weiterhin Mitglied des Bündnisses. Die Entwicklung der strategischen Waffen Frankreichs Anfang der 1970er-Jahre rief in der Bundesrepublik Besorgnis über deren möglichen Einsatz im Konfliktfall hervor. Könnten sie die DDR erreichen? Bundeskanzler Willy Brandt wandte sich an Georges Pompidou, der ihm zusicherte, diese Waffen kämen nicht auf deutschem Territorium zum Einsatz. Dennoch entwickelte sich keine wirkliche Zusammenarbeit im Nuklearbereich, weder militärisch noch im Bereich der zivilen Kernenergienutzung.

Ein Thema für die gemeinsame Reflexion …
Erst Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre wurden die Gespräche zwischen den beiden Nachbarn wieder aufgenommen. Die Krise der Euromissiles wirkte sich in zweierlei Hinsicht auf die deutsch-französischen Beziehungen aus. Zum einen veranlasste sie Frankreich, sein ganzes Gewicht in die Waagschale zu werfen, um ein Abdriften Deutschlands Richtung Pazifismus und Neutralität zu verhindern. Dazu setzte es sich explizit für die Stationierung der Pershing-Raketen auf deutschem Boden sowie für dauerhaften Zusammenhalt des Atlantischen Bündnisses ein– wie François Mitterrand in seiner Rede vor dem Bundestag am 20. Januar 1983 erläuterte. Zum anderen wurde die deutsch-französische Sicherheitszusammenarbeit wiederbelebt. Schon 1982 wurde eine deutsch-französische Kommission für Sicherheit und Verteidigung ins Leben gerufen. Sie verlieh den gemeinsamen Rüstungsprojekten neuen Schwung und stellte die Nuklearfrage erneut zur Diskussion.
Die von Ronald Reagan ins Leben gerufene „Strategische Verteidigungsinitiative“ (Strategic Defense Initiative) ließ in Deutschland verstärkt Zweifel an der Zuverlässigkeit des amerikanischen Atomschirms aufkommen, was Paris dazu veranlasste, sein Atomwaffenarsenal zu modernisieren. Deutschland konnte und wollte sich zwar keine eigenen Atomwaffen zulegen, wollte aber seine Beziehungen zu Washington und der NATO aufrechterhalten und verweigerte sich der Idee einer „europäisch-amerikanischen“ Abkopplung. Es gab also mehrere Optionen, die in Betracht gezogen werden konnten. Einige Vorschläge– wie der von Jacques Chirac 1984 – sahen vor, die Bundesrepublik Deutschland an der französischen Atomkraft zu beteiligen. Aber wäre Bonn bereit gewesen, eine solche Verantwortung zu übernehmen? Andere optierten für die Ausweitung der französischen Atomgarantie und empfahlen „die Ausdehnung des nuklearen Schutzschirms Frankreichs“ auf Deutschland. Aber was würde dann mit den anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft geschehen?
Schließlich blieb noch die deutsch-französische Nuklearabstimmung. Worauf sollte sich die aber konzentrieren? Da wären mehrere Schwerpunkte denkbar: die Abstimmung über potenzielle Ziele, gemeinsame Überlegungen über die Bedingungen für den Einsatz der Waffen. Schon die bloße Erwähnung dieser Fragen zeigt, wie schwierig es ist, zu ‚gemeinsamen Vorstellungen‘ zu gelangen.
Diese Themen waren noch nicht abgeschlossen, als der Warschauer Pakt unterging. Im Gegenteil, das Ende des Kalten Krieges führte dazu, dass sie auf der deutsch-französischen Agenda in den Hintergrund rückten, denn die Bundesrepublik Deutschland drängte auf eine zügige nukleare Abrüstung und den Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Kernenergie. Letzte vollzog sie 2011.
… mit recht ungewissem Ausgang!
Die Frage einer deutsch-französischen nuklearen Zusammenarbeit taucht mit dem Krieg gegen die Ukraine wieder auf. Sie nimmt in den Überlegungen von Friedrich Merz einen wichtigen Platz ein, nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Ausrichtung der USA. Unterscheidet sich diese Debatte, die Emmanuel Macron seit 2020 anstößt und die auch der neue Kanzler wiederbeleben möchte, bei näherer Betrachtung wirklich so sehr von jener der 1980er-Jahre?

Merz befürwortet die Ausweitung des französischen – und britischen – Atomschirms auf Deutschland. Die Ausweitung des nuklearen Schutzschildes auf das übrige Europa wäre indes allenfalls in Ergänzung zur NATO und den USA zu sehen. Angesichts der traditionellen Zurückhaltung Deutschlands in Bezug auf die nukleare Abschreckung wäre dies ein wichtiger kultureller Fortschritt. Umso mehr, als Merz auch die Debatte über die zivile Kernenergie neu entfacht hat! Die Hindernisse für eine echte Zusammenarbeit im Nuklearbereich sind jedoch weitgehend dieselben wie die der 1980er Jahre. Kurz gesagt: Haben die beiden Länder wirklich konvergierende strategische Ansätze in Bezug auf Atomwaffen, deren Einsatz und die Definition potenzieller Ziele? Ist eine gemeinsame Entscheidung über den Einsatz denkbar? Bei diesen verschiedenen Aspekten kommt es unter Umständen viel mehr auf Paris als auf Berlin an.
Übersetzung Norbert Heikamp
Der Autor

Sylvain Schirmann ist emeritierter Professor und ehemaliger Direktor von Sciences Po Strasbourg und des deutsch-französischen Exzellenzzentrums Jean Monnet.