Rassemblement National:
Die autoritäre Versuchung Frankreichs

Rassemblement National: Die autoritäre Versuchung Frankreichs
  • VeröffentlichtJuni 6, 2025
Marine Le Pen und Jordan Bardella auf einer Kundgebung in Paris, 6. April 2025 (Copyright: Alamy)
Marine Le Pen und Jordan Bardella auf einer Kundgebung in Paris, 6. April 2025 (Copyright: Alamy)

Was wäre, wenn ein rechtsextremer Präsident eine liberale Demokratie ohne Putsch, ohne Gewalt, ohne offenen Verfassungsbruch abschaffen könnte – einfach mit Referendum, Kabinettsorder und gutem Timing? Pierre-Yves Bocquet zeigt in seinem Essay „La Révolution nationale en 100 jours, et comment l’éviter“, wie ein solcher Albtraum in Frankreich Realität werden könnte.

 

Der Titel von Bocquets Essay erinnert bewusst an die „Révolution nationale“ des Vichy-Regimes, das 1940 unter Marschall Pétain die III. Republik ablöste. Diese „nationale Revolution“ stand für autoritäre Herrschaft, Antiparlamentarismus, Xenophobie und die Ablehnung demokratischer Prinzipien. Bocquet spricht keine Namen aus, doch es ist offensichtlich, dass er die Möglichkeit einer präsidialen Machtübernahme durch den Rassemblement National (RN) beschreibt.

Als demokratisch gewählte Präsidentin oder Präsident könnten Marine Le Pen oder Jordan Bardella – folgt man Bocquets Szenario – mithilfe der bestehenden Verfassung binnen weniger Wochen ein autoritäres Regime etablieren. Ein zentrales Instrument dabei wäre ein Referendum auf Grundlage von Artikel 11 der Verfassung. Dieser Artikel erlaubt es dem Präsidenten, Gesetzesvorhaben direkt dem Volk zur Abstimmung vorzulegen, ohne den parlamentarischen Weg zu beschreiten. Charles de Gaulle nutzte ihn unter anderem 1962 um per Referendum die Direktwahl des Präsidenten einzuführen. Der Conseil constitutionnel erklärte sich dabei für unzuständig, die Verfassungsmäßigkeit dieses Verfahrens zu prüfen, da die Änderung direkt vom Volk beschlossen wurde und somit außerhalb seines Prüfungsbereichs lag.

 

Frankreichs institutionelle Achillesferse

Dieses institutionelle Vakuum besteht bis heute, da unklar ist, ob Artikel 11 für Verfassungsänderungen geeignet ist. Spätere Änderungen der Verfassung wurden über Artikel 89 durchgeführt, der strengere Verfahren vorsieht: die jeweilige Zustimmung von Assemblée Nationale und Sénat und eine 3/5-Mehrheit im sogenannten Congrès, der gemeinsamen Sitzung der beiden Parlamentskammern, oder ein Referendum. Ein Referendum nach Artikel 89 unterliegt dabei der Prüfung durch den Conseil constitutionnel, was bei einem Referendum nach Artikel 11 nicht der Fall ist.

 

Artikel 11 der französischen Verfassung (Copyright: Landry Charrier – Screenshot: Légifrance)

 

Und genau ein solches Referendum nach Artikel 11 plant der RN: Im Falle eines Siegs bei der nächsten Präsidentschaftswahl sollen die Französinnen und Franzosen über die sogenannte „priorité nationale“ (nationale Priorität) abstimmen. Der Referendumstext bliebe bewusst vage, um breite Zustimmung zu erzielen und später möglichst weitgehend interpretiert werden zu können. So könnte das nationale Recht über internationales und europäisches Recht gestellt werden und französische Staatsbürger würden gegenüber Ausländern bei Sozialleistungen, Wohnen und Beschäftigung etc. bevorzugt – verfassungsrechtlich verankert.

Auf dieser Grundlage könnten sodann auf dem Weg der ordentlichen Gesetzgebung – und unter Anwendung weiterer Artikel der Verfassung (z.B. Artikel 16 oder 49.3) – Maßnahmen folgen werden, die z.B. Justiz, Medien und Verwaltung im Sinne des RN umstrukturieren. Was wie direkte Demokratie wirkt, könnte sich als Einfallstor für autoritäre Politik entpuppen. Dies ist keine überspannte Fantasie, sondern eine institutionelle Analyse auf der Höhe der Zeit.

Bocquet schreibt aus der Perspektive eines Insiders, der das System bestens kennt. Der ENA-Absolvent, langjähriger hoher Beamter und Redenschreiber François Hollandes, weiß um die Mechanik der Macht in der V. Republik. Dass der Essay genau hundert Tage umfasst, ist kein Zufall: Die symbolische Zahl erinnert an de Gaulles Amtsantritt 1958, aber auch an Macrons „hundert Tage der Beruhigung“ im Frühjahr 2023. Bocquet dreht die Perspektive ins Dunkle: Was, wenn diese hundert Tage der Anfang vom Ende sind?

Seine Diagnose ist klar: Die V. Republik mit ihrer Machtkonzentration im Präsidentenamt kennt kaum wirksame Bremsmechanismen für illiberale Entwicklungen. Was in Deutschland – mit Bundesverfassungsgericht, Koalitionslogik und föderaler Struktur – schwer vorstellbar wäre, ist in Frankreich institutionell denkbar. Das Verstörende an Bocquets Szenario ist, dass es keinen offenen Bruch braucht: keine Gewalt, keine Revolution, keine Verfassungsänderung. Die „Revolution“ vollzieht sich in Anzug und Krawatte, mit Stimmzetteln statt mit Panzern.

 

Ein autoritärer Plan auf Raten

Bocquet skizziert einen detaillierten Fahrplan, wie eine rechtsextreme Regierung schrittweise die demokratischen Institutionen unterwandern könnte. Die Etappen: Mobilisierung über ein Referendum zur „nationalen Priorität“, Entmachtung der Kontrollinstanzen, Vereinnahmung der Verwaltung, Aushöhlung des Rechtsstaats. Der Prozess bleibt formal legal – aber demokratisch destruktiv. Dabei zeigt sich, wie stark das französische Präsidialsystem auf Führung durch den Willen Einzelner ausgelegt ist – und wie anfällig es für populistische Instrumentalisierung sein kann. Die Verfassung von 1958 entstand als Antwort auf eine Staatskrise: den sogenannten Putsch von Algier, bei dem französische Militärs eine Machtübernahme androhten, um die französische Herrschaft über Algerien zu erhalten. Die IV. Republik war am Rande des Zusammenbruchs, de Gaulles Rückkehr und die neue präsidiale Ordnung sollten Frankreich fortan vor Putschen und Instabilität schützen.

 

Charles de Gaulle in Oran, fünf Tage nach seiner Ernennung zum Regierungschef (Copyright: Alamy)
Charles de Gaulle in Oran, fünf Tage nach seiner Ernennung zum Regierungschef (Copyright: Alamy)

 

Ironischerweise könnten heute dieselben Mechanismen, die einst antidemokratische Umstürze verhindern sollten, nun selbst zum Hebel für einen institutionellen Autoritarismus werden – wenn eine Regierung sie instrumentalisiert ohne demokratische Prinzipien noch ernsthaft zu achten. Bocquet zeigt, wie dünn der Firnis der Rechtsstaatlichkeit sein kann, wenn die politische Kultur und die institutionellen Gegenkräfte erodieren.

 

Eine Warnung – auch für Deutschland

Wer Frankreichs politische Entwicklung verfolgt, wird Bocquets Warnung kaum als Alarmismus abtun. Der RN ist längst keine Randpartei mehr. Die Erfolge bei Europawahlen und in Umfragen, die Selbstdarstellung Bardellas auf TikTok, das systematische Ausnutzen institutioneller Schwächen – all das erinnert an die Diagnose, die Landry Charrier kürzlich im Rückblick auf das 2005 erfolgte Nein zum Referendum zur Europäischen Verfassung in Frankreich im „Focus“ stellte. Die Idee eines „verratenen Volkes“ zieht sich als roter Faden durch die Strategie der extremen Rechten: Damals wie heute wird versucht, Enttäuschung in autoritäres Kapital zu verwandeln. Bocquets Buch ist Echo und Analyse dieser Entwicklung.

Für deutsche Leserinnen und Leser ist das Werk doppelt relevant. Es schärft den Blick für die Brüche im politischen System Frankreichs – und liefert Impulse für die europäische Demokratiedebatte. Was in Frankreich möglich ist, betrifft auch Europa. Eine autoritäre Regierung in Paris wäre ein fundamentaler Bruch für die Europäische Union – politisch, institutionell, historisch.

 

Ein Aufruf zur Verteidigung der Demokratie

Copyright: Gallimard
Copyright: Gallimard

Bocquets Essay ist kein Buch der Hoffnung – aber ein Buch der Klarheit. Es zeigt: Demokratie braucht mehr als Regeln. Sie braucht Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht mit dem Unvermeidlichen abfinden. Noch ist Zeit, den autoritären Umbau zu verhindern. Bocquet nennt dafür drei Hebel: medial, politisch und institutionell. Erstens müssten Medien das Projekt des RN viel entschlossener durchdringen – nicht nur als Migrationspolitik, sondern als autoritären Umbau der Verfassungsordnung. Der harmlos klingende Begriff „priorité nationale“ dürfe nicht länger über die reale Tragweite hinwegtäuschen. Zweitens dürften politische Akteure das Programm des RN nicht länger normalisieren, sondern müssten offen benennen, worum es geht: um die Infragestellung liberal-demokratischer Grundprinzipien. Drittens – und das ist der Kern von Bocquets Vorschlag – müsse der institutionelle Hebel genutzt werden: durch eine gezielte Verfassungsänderung, die Artikel 11 eindeutig beschränkt und festschreibt, dass die Verfassung ausschließlich nach Artikel 89 geändert werden darf. Dass eine solche Reform technisch möglich ist und bei Einigkeit zügig, in weniger als drei Monaten, gelingen kann, zeige das Beispiel der Verfassungsänderung zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch, die im März 2024 mit der erforderlichen 3/5-Mehrheit im Congrès beschlossen wurde.

Eine solche Mehrheit nun auch für Bocquets Vorschlag zu finden, wäre allerdings wohl kein Selbstläufer – zu zerstritten scheinen die politischen Lager, zu groß ist das Kalkül einzelner Akteure. Grundsätzlich aber sind die Mittel vorhanden. Es braucht nur den Willen, sie rechtzeitig zu nutzen. Sollte Frankreich bald in die Hände eines illiberalen Präsidenten fallen, wird niemand sagen können, man sei nicht gewarnt worden. Wer dieses Buch liest, wird verstehen: Es geht nicht nur um Frankreich – es geht um uns alle.

 

Der Autor

Sebastian Hass (Copyright: privat)
Sebastian Hass (Copyright: privat)

Sebastian Hass ist ein deutsch-französischer Politikwissenschaftler, der seit über zwanzig Jahren in den politischen Sphären Berlins und Paris’ aktiv ist. Als ehemaliger Mitarbeiter von Angela Merkel und Berater von Bruno Le Maire unterstützt er politische Verantwortungsträger und wirtschaftliche Entscheidungsträger beider Länder dabei, das politische System des jeweils anderen besser zu verstehen und darin zu agieren. Sein Blick auf beide politischen Kulturen ermöglicht eine präzise Analyse, die auf Erfahrung basiert und die institutionellen Gleichgewichte aufmerksam berücksichtigt.

 

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