Europäische Verteidigung:
Das Ende der Unklarheiten?


Angesichts des amerikanischen Rückzugs und der russischen Bedrohung muss Europa seine strategische Autonomie stärken. Doch tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland, bremsen den Aufbau einer kohärenten europäischen Verteidigungsindustrie- und Technologiebasis.
Seit Russlands Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 konzentrieren die europäischen Streitkräfte ihre Anstrengungen auf die Vorbereitung auf hochintensive Konfliktszenarien, insbesondere an der NATO-Ostflanke. Eine Untersuchung der Herausforderungen hinsichtlich der Kapazitäten zeigt allerdings einen besorgniserregenden Befund: Unterschiedliche Ansätze in Bezug auf Konzepte wie Autonomie und Unabhängigkeit haben zur Bildung nationaler verteidigungsindustrieller und -technologischer Basen geführt (BITD, Defence Technological and Industrial Base), mit ungleichen Kapazitäten, einem unterschiedlichen Maß an Abhängigkeit von außereuropäischen Mächten und eingeschränkter Interoperabilität. Das Ergebnis ist eine fragmentierte EDTIB (EU’s Defence Technological and Industrial Base), welche nicht in der Lage ist, die in der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2022 geforderte größere technologische Autonomie zu gewährleisten. Diese Begrenzungen stellen erhebliche Hindernisse für die Bemühungen um eine europäische strategische Autonomie dar, einem Bestreben, für das die Mitgliedsstaaten zunehmend empfänglich sind, insbesondere im Kontext einer Trump 2.0-Administration, die die Verteidigung des europäischen Kontinents immer weniger relevant für ihre eigenen Interessen erachtet.
Die militärische Unterstützung der Ukraine und die Abschreckung Russlands sind zwei zentrale Herausforderungen für ein Europa, das sich nunmehr allein mit seiner Verantwortung konfrontiert sieht – dies im Kontext eines schrittweisen Rückzugs der USA, motiviert durch den Wunsch Präsident Trumps, die Beziehungen zu Moskau zu normalisieren. In diesem Zusammenhang erweist sich ein Blick auf die jüngsten Entwicklungen in drei Kernelementen der deutschen Verteidigungspolitik als besonders aufschlussreich: den transatlantischen Reflex, den Politisierungsgrad der Verteidigungsindustrie und die Formulierung strategischer Interessen.
Der transatlantische Reflex
In seiner Rede vor der Körber-Stiftung am 24. Januar 2025 bezeichnete Friedrich Merz die Verringerung der Abhängigkeit von den USA als „oberste Priorität“. Für Deutschland bedeutet dies die Infragestellung eines seit den 1950er-Jahren tief in seiner strategischen Kultur verankerten Dogmas. Jede Verteidigungsinitiative, welche die USA ausschließt, würde als Schwächung der transatlantischen Beziehung angesehen, die als Grundpfeiler der nationalen Verteidigung gilt. Dieser strategische Reflex zeige sich laut General Franz Chapuis, Verteidigungsattaché an der französischen Botschaft in Berlin (zitiert in einem Bericht des Verteidigungsausschusses der französischen Nationalversammlung im Mai 2024) darin, dass in Deutschland ein direkter Zusammenhang zwischen der Einbeziehung der USA in nationale Industrieprojekte und der Gewährleistung ihrer militärischer Präsenz im Krisenfall gesehen wird. Auf französischer Seite wird dies als Ausdruck einer „nicht-kooperativen Haltung“ Deutschlands gesehen, wie es im selben Bericht heißt. In einem Protokoll der französischen Nationalversammlung vom Dezember 2024 heißt es sogar: „Die Aussicht, dass manche Länder zulasten unserer BITD mehr Rüstungsgüter aus den USA kaufen, ist durchaus besorgniserregend.“
Die Verteidigungsindustrie zwischen Markt und Strategie
Die Bemühungen der Europäischen Kommission zur Entwicklung einer EDTIB verdeutlichen eine grundlegende Diskrepanz zwischen Frankreich und Deutschland hinsichtlich der Stellung der Industrie in der Verteidigungsstrategie. Der deutsche „Ordoliberalismus“ verleiht der Verteidigungsindustrie eine vorrangig merkantilistische Dimension, während Frankreich in ihr ein wichtiges strategisches Instrument im Dienst der nationalen Souveränität sieht. „In der deutschen Tradition wurde die Verteidigungsindustrie lange ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet – im Gegensatz zur französischen Auffassung. Diese unterschiedliche Herangehensweise an die Rolle der BITD ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor hinsichtlich der Schwierigkeiten, die in der deutsch-französischen Zusammenarbeit auftreten können“, heißt es im Bericht des Verteidigungsausschusses der französischen Nationalversammlung. „Die deutschen Industriellen müssen verstehen, dass sie Teil der Verteidigung sind“, sagt seinerseits ein deutscher Vertreter beim Paris Defense and Strategy Forum (11.-13. März 2025).

Die Nationale Verteidigungsstrategie der Scholz-Regierung vom Juni 2023 bleibt sehr vage hinsichtlich der industriellen Herausforderungen im Zusammenhang mit der nationalen Verteidigung. Die erste deutsche Nationale Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie (SVI-Strategie), veröffentlicht im Dezember 2024, wird weithin als Teil eines überwiegend wirtschaftlich orientierten Ansatzes für die Verteidigungsindustrie gesehen. Der Reservistenverband ist der Ansicht, dass diese Strategie zwar frühere Arbeitspapiere ergänzt, aber keine „nationale Strategie“ im eigentlichen Sinne sei, da „keine konkreten Ziele oder Maßnahmen aus den beschriebenen Herausforderungen abgeleitet werden.“
Ein fehlendes strategisches Bindeglied
Das Fehlen einer echten strategischen Ausrichtung in der deutschen Verteidigungsindustrie nährt den Eindruck, dass ein Bindeglied zwischen Industrieprojekten und den Herausforderungen der europäischen Verteidigung fehlt. Der Kern des Problems ist die in der öffentlichen Meinung tief verankerte Auffassung von Deutschlands Rolle in der Welt und den Aufgaben seines Verteidigungsapparats, nämlich eher die Werte der liberalen Demokratie zu schützen als nationale Interessen zu verteidigen. Die Abneigung der öffentlichen Meinung gegen einen politischen Diskurs, der sich auf die Verteidigung strategischer Interessen im militärischen Bereich fokussiert, zeigt sich bereits bei der Wiedervereinigung. Beispiele sind die Demonstrationen, die die Debatte über die Rolle Deutschland im ersten Golfkrieg (1990–1991) begleiteten oder der Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler im Mai 2010. Auf dem Rückweg von einem Besuch bei deutschen Soldaten in Afghanistan hatte Köhler die Möglichkeit militärischer Auslandseinsätze zur Verteidigung wirtschaftlicher Interessen angesprochen, was eine heftige Debatte über den Zweck deutschen Engagements im Ausland auslöste und zu seinem Rücktritt führte. Dieser Trend bestätigte sich – mit bemerkenswerter Intensität – in den zahlreichen Friedensdemonstrationen nach der russischen Invasion in die Ukraine zwischen Februar und März 2022.

Die Rückkehr zu einer Logik der territorialen Verteidigung – Deutschlands und des Bündnisses – anstelle einer Logik des Krisenmanagements und der Friedenssicherung macht es unerlässlich, nationale Interessen in klare Prioritäten umzusetzen. Bisher ist die Politik diese Aufgabe jedoch nicht angegangen. Es zeichnet sich zunehmend die Überzeugung ab, dass das deutsche Tabu um einen realistischen Ansatz in der Außenpolitik der Vergangenheit angehört und nicht mehr zeitgemäß ist. In seiner Rede vor der Körber-Stiftung kündigte Friedrich Merz an, die Nationale Verteidigungsstrategie zu überarbeiten, indem er Prioritäten einbezieht, welche durch die strategischen Interessen Deutschlands definiert werden. Weiterhin schlug er die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates vor. Von Seiten der Industrie behauptet der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie: „Man muss zunächst einmal wissen, was einem selbst wichtig ist und warum, im Sinne der nationalen Souveränität, bevor man aus Überzeugung mit anderen Staaten auf Augenhöhe kooperieren kann.“ Auch wenn diese Überlegung nicht neu ist, erreicht sie doch angesichts der aktuellen Dynamik hinsichtlich der kapazitätsmäßigen Annäherung der europäischen Staaten eine nicht dagewesene Dimension.
Ein umsetzbarer Fahrplan
Für Deutschland werden die kommenden Monate entscheidend sein, um den Stellenwert der transatlantischen Beziehungen für die Verteidigung Europas zu bewerten, insbesondere hinsichtlich der Bemühungen um den Aufbau einer BITDE. Die schwarz-rote Koalition bereitet den Weg für eine klare Festlegung strategischer Prioritäten, die auf nationalen Interessen beruhen. Bereits am Tag nach seiner Wahl zum Bundeskanzler, am 6. Mai 2025, veröffentlichte Friedrich Merz gemeinsam mit dem französischen Präsident Emmanuel Macron einen Gastbeitrag, in dem er seine Absicht bekräftigte, den deutsch-französischen Reflex wiederzubeleben. Er reaktivierte den seit 1988 bestehenden Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat und kündigte massive Investitionen in die Verteidigungsindustrie an. Es bleibt abzuwarten, ob dieser politische Schwung in die Ausarbeitung eines klaren und umsetzbaren Fahrplans mündet.
Zum Autor:

Nicolas Téterchen ist Doktorand für Germanistik an der Universität Cergy. Seine Dissertation befasst sich mit der Wahrnehmung der Verteidigungspolitik in Deutschland von 1990 bis 2022. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programm „Frankreich und deutsch-französische Beziehungen“ der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin sowie als Referent für Verteidigung bei der Deutsch-Französischen Industrie- und Handelskammer in Paris.
Dieser Beitrag wurde am 8. März 2025 im Rahmen eines Workshops für französische und deutsche Doktoranden vorgestellt, der gemeinsam vom Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Universität Bonn) und dem Centre d’Excellence Jean Monnet (Universität Straßburg) organisiert wurde.
Mit Unterstützung der Deutsch-Französischen Hochschule und der Deutschen Sparkassenstiftung für internationale Kooperation e.V.