Sète:
Das kleine Paris am Mittelmeer


Wie ein Amphitheater zwischen Lagune und Meer breitet sich Sète aus, durchzogen von Kanälen und erfüllt von mediterranem Leben. Das „kleine Paris am Mittelmeer“ trägt viele Namen – „île singulière“ nannte sie einst Paul Valéry, andere schwärmen vom „Venedig des Languedoc“.
Sète verdankt seine Existenz einem königlichen Federstrich. 1666 erließ Ludwig XIV. das Dekret für eine neue Hafenstadt – nicht über Jahrhunderte gewachsen, sondern präzise geplant als Endpunkt für den Canal du Midi. Jean-Baptiste Colbert, der mächtige Finanzminister, und Kanalbauer Pierre-Paul Riquet erkannten schnell: Die bestehenden Häfen taugten nichts. Marseille lag zu weit entfernt, Aigues-Mortes war versandet, Montpellier zu weit landeinwärts.
Doch an der Ausgleichsküste des Languedoc gab es eine schmale Landzunge zwischen Mittelmeer und Étang de Thau: eine perfekte Lage! So entstand ab 1666 binnen weniger Jahre eine komplette Stadt. Riquet baute nicht nur Hafenanlagen, sondern gleich die ersten Häuser, Lagerhäuser und Straßen dazu. 1681 war der Canal du Midi vollendet – und Sète zur wichtigsten Drehscheibe zwischen Toulouse und dem Mittelmeer.
Lebendiger Hafen
Heute leben etwa 45.000 Menschen aus aller Welt in Sète. Täglich laufen Boote mit Sardinen, Thunfisch und Tintenfisch in den Hafen ein, Frachter bringen Getreide, Holz, Wein und Zement, Fähren pendeln nach Algerien und Marokko. Im Sommer steuern sie auch Korsika an – eine entspannte Seefahrt über das glitzernde Mittelmeer. Im Étang de Thau, dem größten Küstensee Südfrankreichs, werden jedes Jahr rund 13.000 Tonnen Austern und Muscheln gezüchtet – und in den Restaurants des Canal Royal direkt am Kai mit Blick auf das bunte Treiben im Fischereihafen verzehrt.

Was als reiner Handelshafen begann, wandelte sich allmählich zum Badeort. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden erste Strandpromenaden und Badeanlagen. Anders als die mondänen Seebäder Trouville oder Biarritz entwickelte sich Sète organisch – Hafen und Tourismus wuchsen parallel. Den großen Schub brachten die 1960er-Jahre: Die Mission Racine erschloss die gesamte Languedoc-Küste für den Massentourismus. Sète profitierte mit seinen langen Sandstränden, die sich westlich der Stadt zwischen Mittelmeer und Lagune erstrecken.
Mont Saint-Clair: gestaffelte Welten
Als natürliche Grenze zwischen den beiden Welten fungiert ein 183 Meter hoher Kalkkegel, der die Silhouette von Sète prägt: der Mont Saint-Clair. Unten am Hafen erstreckt sich das alte Viertel der Fischer und Seeleute, die jährlich zur Fête Saint-Louis ihre joutes veranstalten. Die Fischerstecher-Turniere sind hier seit dem 17. Jahrhundert Brauch. Heute ziehen immer mehr (Lebens-)Künstler in die einfachen Häuser des quartier haut und verwandeln es zunehmend in eine Hochburg der Subkultur. Oben am Hang residieren die Wohlhabenden in Villen mit Panoramablick auf Meer, Lagune und Stadt. Die Sozialstruktur spiegelt sich in der Topografie: Arbeiter und Alternative unten, betuchte Bürger oben.
Paul Valéry: Dichter zwischen Hafen und Hügel
Am 30. Oktober 1871 wurde hier Ambroise Paul Toussaint Jules Valéry geboren. Sein Vater, ein korsischer Zollbeamter, arbeitete im Hafen. Die Mutter stammte aus italienischem Adel – sie war Tochter des Konsuls von Genua. Zwölf Jahre lang blickte der junge Paul aus seinem Kinderzimmerfenster direkt auf die Schiffe und das geschäftige Hafentreiben. Er zeichnete Boote, träumte vom Seemannsleben und wäre beinahe mit drei Jahren in einem Wasserbecken ertrunken. 1884 zog die Familie nach Montpellier, doch Sète blieb Valérys île singulière – seine einzigartige Insel. Der spätere Symbolist und Philosoph kehrte gedanklich immer wieder hierher zurück. Seine Heimatstadt inspirierte seine berühmtesten Werke über Meer, Licht und mediterrane Atmosphäre.

1945 starb Valéry in Paris – und wurde auf seinen Wunsch hin nach Sète überführt. Sein Grab liegt auf dem Cimetière Marin am Mont Saint-Clair – genau dort, wo er seinen berühmten Friedhofsgesang gedichtet hatte. Der 1680 eröffnete Friedhof gilt als „Friedhof der Reichen“ mit spektakulärem Meerblick. Hier ruht auch Jean Vilar, der große Theaterregisseur und Gründer des Festival d’Avignon, 1912 geboren in Sète.
Georges Brassens: Rebell vom anderen Friedhof
Keine zehn Kilometer entfernt liegt der Cimetière Le Py – traditionell der „Friedhof der Armen“. Hier ruht seit 1981 Georges Brassens, bis heute einer der berühmtesten Chansonniers Frankreich.
Brassens, am 22. Oktober 1921 in Sète geboren, wuchs im Viertel der Hafenarbeiter auf. Sein Vater war Maurer und Freidenker, die italienische Mutter gläubig und musikbegeistert. Am Collège Paul-Valéry schrieb Brassens bereits erste Chansons. 1940 verließ er Sète nach einer Diebstahlsaffäre und begann, während er bei Renault in Paris in der Autofabrik jobbt, autodidaktisch die französische Dichtkunst zu studieren. 1943 wurde Brassens im Rahmen des Service du travail obligatoire“ (S.T.O.) zum Arbeitsdienst nach Deutschland verpflichtet und arbeitete ein Jahr lang bei den Brandenburgischen Motorenwerken (Bramo) in Basdorf, heute ein Ortsteil von Wandlitz bei Berlin.
Die Brandenburgischen Motorenwerke waren ein Unternehmen zur Entwicklung und Produktion von Flugmotoren, das 1939 von BMW übernommen wurde und als BMW-Flugmotorenwerke Brandenburg GmbH weitergeführt wurde. Das Werk in Basdorf war ein Zweigbetrieb, in dem Flugzeug-Sternmotoren wie der Bramo 323 und später der BMW 801 gefertigt, gewartet und repariert wurden. Während seiner Zeit als deutscher Zwangsarbeiter lernte Brassens dort Pierre Onténiente kennen, der später sein enger Freund und Verwalter wurde. Nach einem Heimaturlaub 1944 kehrte Brassens nicht nach Deutschland zurück, sondern tauchte in Paris bei Freunden unter und erlebte dort das Kriegsende.
Nach dem Krieg lebte Brassens zurückgezogen in Paris. Erst 1952 entdeckte ihn die Sängerin Patachou für ihr Kabarett. Seine erste Schallplatte La Mauvaise Réputation machte ihn schlagartig berühmt. In seinem Chanson Supplique pour être enterré à la plage de Sète besang er 1966 die Sehnsucht nach der Heimat. Tatsächlich wurde er nach seinem Tod 1981 am Strand begraben – im Familiengrab auf dem Friedhof Le Py, keine 100 Meter vom Meer entfernt.
Museen für drei Genies
An Georges Brassens erinnert der Espace Georges Brassens, der 1991 direkt gegenüber dem Friedhof Le Py eröffnete. Zehn interaktive Säle führen durch Brassens‘ Leben – von der Kindheit in Sète bis zur Pariser Bohème. Kopfhörer lassen den Chansonnier selbst erzählen, Filme zeigen seine Auftritte: eine berührende Zeitreise durch das Leben und Werk des singenden Rebellen der Nachkriegszeit.

Anlässlich des 100. Geburtstags von Georges Brassens zeigte das Musée Paul Valéry rund 40 Werke eines zeitgenössischen Künstlers, der zwar 1957 in Lyon geboren wurde, aber 1961 mit seiner Familie nach Sète gezogen war, wo er seitdem lebt: Robert Combas. Die Stadt, ihre Atmosphäre, das lokale Leben, die Farben, Musik und Traditionen haben sein Werk nachhaltig geprägt – und so entstanden auch neun Portraits von Brassens, die 2021 zu sehen waren. Brassens, damals gerne als pornographe du phonographe bezeichnet – ein Wortspiel für seine provokativen Texte –, und Combas sind sich jedoch nie begegnet. Combas, der bekannteste Künstler der Stadt, gilt als Mitbegründer der Figuration Libre und malt explosive, farbenfrohe Bilder zwischen Street Art und Comics, die längst auch Postkartenmotive geworden sind.
Das Musée Paul Valéry thront seit 1970 am Mont Saint-Clair mit Blick auf den Cimetière Marin. Architekt Guy Guillaume entwarf es im Stil Le Corbusiers. Drinnen birgt das Museum neben Erinnerung an Paul Valéry Arbeiten von Künstlern, die eng mit Sète verbunden waren. Im Untergeschoss wird Claude Joseph Vernet (1714–1789) geehrt.
Vernet zählt zu den bedeutendsten französischen Marinemalern des 18. Jahrhunderts. 1753 beauftragte ihn König Ludwig XV. auf Empfehlung des Marquis de Marigny mit 15 großformatigen Gemälden der wichtigsten französischen Häfen – ein staatliches Prestigeprojekt zur Darstellung der Seemacht Frankreichs. Führend mit dabei: Sète, das damals noch Cette geschrieben wurde.
Agnès Varda und La Nouvelle Vague
Erst 1928 erhielt Sète seinen heutigen Namen. Die Änderung erfolgte, um die Verwechslungsgefahr mit dem französischen Wort „cette“ (diese) zu vermeiden und um die Verwurzelung in Okzitanien zu betonen.
1940 floh eine belgische Familie vor den Deutschen nach Sète: Agnès Varda verbrachte hier ihre Jugend und drehte 1955 ihren ersten Film La Pointe Courte im gleichnamigen Fischerviertel. Der experimentelle Streifen gilt als Vorläufer der Nouvelle Vague. Jahrzehntelang kehrte die Regisseurin immer wieder zurück, fotografierte Fischer und Hafenleben. Ihr autobiografischer Dokumentarfilm Les plages d’Agnès (2008) reflektiert das Leben an Sètes Stränden. Auch andere Filmgrößen entdeckten die Stadt: Lino Ventura, Brigitte Bardot, Philippe Noiret, Yves Montand, Romy Schneider, Gérard Depardieu und Alain Delon drehten hier.
Candice Renoir ermittelt
Seit 2013 ist Cécile Bois aka Candice Renoir als Star der gleichnamigen TV-Serie in Sète auf Spurensuche. Die charmante Kommissarin ermittelt an Originalschauplätzen: entlang der Kanäle, am Hafen, in Altstadtgassen und an den Stränden. Ihr Kommissariat liegt am Quai des Moulins, keine hundert Meter von den Kanälen entfernt. Die Serie machte Sète international bekannt – und lockt seitdem nicht nur Besucher, sondern auch Künstler aus aller Welt nach Sète.

Nicht wenige von ihnen verewigen sich auf den Fassaden der Stadt. Die Rue de Tunis verwandelte sich zur Rue des Arts – einem Hotspot für urbane Kunst. Doch auch im Quartier haut, im Hafen und an anderen Orten der Innenstadt findet sich Fassadenkunst. Internationale und lokale Künstler wie Bault, Maye, Swed und Wobe Johnson schaffen hier ständig neue Murals und Graffiti. Ein Wandbild illustriert Brassens‘ Lied Je me suis fait tout petit. Das MACO (Musée à Ciel Ouvert) erstreckt sich über die ganze Stadt: mehr als 70 großformatige Wandbilder machen Sète zu einer der Street-Art-Hauptstädte Südfrankreichs.
Drei Genies, eine Seele
Paul Valéry nannte Sète das „Paris am Mittelmeer“ – auch wenn sich das Originalzitat nicht eindeutig belegen lässt. Tatsächlich vereint die 45.000-Einwohner-Stadt eine erstaunliche kulturelle Vielfalt: den philosophischen Symbolisten Valéry, den anarchischen Chansonnier Brassens, die experimentelle Filmemacherin Varda. Alle drei prägten die französische Kultur nachhaltig. Alle drei verdanken ihre Inspiration dieser einzigartigen Stadt zwischen Kanal und Mittelmeer, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Arbeit und Träumen.
Wer heute durch Sètes Gassen wandelt, spürt noch immer diese besondere Mischung: Fischerboote neben Kunstgalerien, Austernzüchter neben Filmcrews, Hafenromantik neben urbaner Kunst. Valéry hatte recht – auch wenn Sète deutlich kleiner ist als Paris, besitzt es durchaus dessen kulturelle Seele.
Die Autorin

Hilke Maunder, 1961 in Hamburg geboren, kam nach ihrem Anglistikstudium und Volontariat 1989 als Redakteurin zu den Lübecker Nachrichten in Mecklenburg, ging als Korrespondentin nach China, Vietnam, in Baltikum und Australien und berichtet seit 2010 aus Frankreich. 2014 wurde sie für ihre Arbeit und ihren Blog „Mein Frankreich“ mit der Médaille de Tourisme ausgezeichnet, 2023 mit dem Gutedelpreis.