40 Jahre Schengen-Abkommen:
In der Zerreißprobe


Die Freiheit innerhalb des Schengenraums gilt als Symbol europäischer Einigung. Doch verstärkte Grenzkontrollen und Sicherheitsbedenken setzen dieses Prinzip zunehmend unter Druck. Vierzig Jahre nach der Unterzeichnung des Schengener Übereinkommens steht dieses Grundprinzip an einem Wendepunkt.
Die Mobilitätsfreiheit innerhalb des Schengenraums gilt als eine der bedeutendsten Errungenschaften Europas. Deutschland und Frankreich spielten bei der Abschaffung der Kontrollen an den innereuropäischen Grenzen eine zentrale Rolle. Nachdem sich der Prozess auf europäischer Ebene als langwierig erwiesen hatte, gingen Helmut Kohl und François Mitterrand in Vorleistung: Auf dem deutsch-französischen Gipfel am 28. und 29. Mai 1984 in Rambouillet einigten sie sich auf Erleichterungen bei den Grenzkontrollen zwischen beiden Ländern. Nur wenige Wochen später, auf dem Treffen des Europäischen Rates am 25. und 26. Juni 1984 in Fontainebleau, wurde – gestärkt von der deutsch-französischen Initiative – ein Ad-hoc-Ausschuss ins Leben gerufen, der ein „Europa der Bürger“ voranbringen sollte. Am 13. Juli 1984 unterzeichneten Deutschland und Frankreich schließlich das Saarbrücker Abkommen über den schrittweisen Abbau der Kontrollen an ihrer gemeinsamen Grenze. Belgien, die Niederlande und Luxemburg schlossen sich dieser Initiative an. Am 14. Juni 1985 unterzeichneten die fünf Staaten das Schengener Übereinkommen – ein Meilenstein auf dem Weg zu einem grenzenlosen Europa.

Bedenken gegenüber dem Grenzkontrollabbau
Das Projekt „Schengen“ war von Beginn an umstritten – sowohl in Deutschland als auch in Frankreich. Zwischen der Unterzeichnung des Schengener Übereinkommens und dem tatsächlichen Abbau der Grenzkontrollen vergingen noch zehn Jahre. Dafür gab es mehrere Gründe: Zunächst dauerte es über vier Jahre, bis sich die beteiligten Staaten auf den endgültigen Text des sogenannten Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) mit den erforderlichen Ausgleichsmaßnahmen verständigen konnten (Dezember 1989). Obwohl die Verhandlungen damit abgeschlossen waren, verzögerte sich die Unterzeichnung des SDÜ infolge historischer Umbrüche: Der Fall der Berliner Mauer, der Zusammenbruch der DDR und die unsichere geopolitische Lage führten dazu, dass die Zeichnung zunächst verschoben wurde. Sie erfolgte schließlich im Juni 1990.
Auf deutscher Seite sah das Bundesinnenministerium im Wegfall der Grenzkontrollen ein erhebliches Sicherheitsdefizit entstehen. Auch auf französischer Seite war die Skepsis groß: Von 1993 bis 1997 gehörten mit Édouard Balladur und Alain Juppé beide Premierminister der Partei Rassemblement pour la République (RPR) an, die dem Schengener Übereinkommen ebenfalls sehr kritisch gegenüberstand. Jacques Chirac, Gründer der RPR, erklärte während seines Präsidentschaftswahlkampfs, im Falle eines Wahlsiegs sogar einen Rücktritt Frankreichs aus dem Schengener Abkommen zu erwägen. Diese Haltung war unter anderem eine Reaktion auf die Terroranschläge von Paris im Jahr 1995 sowie auf die migrationspolitischen Debatten, die damals bereits die französische Öffentlichkeit stark beschäftigten.
Hinzu kamen die als unzureichend empfundenen Schutzmaßnahmen an den EU-Außengrenzen, Sorgen vor einem Anstieg der Kriminalität und eine grundsätzliche Ablehnung, staatliche Souveränität in Fragen der Grenzsicherung aufzugeben. Ein umfassender Abbau der Grenzkontrollen erfolgte in Frankreich erst im Jahr 1995. Die Grenze zu Belgien wurde sogar bis 1997 kontrolliert – mit Verweis auf die als zu liberal empfundene Drogenpolitik der Niederlande.
Die Krise des Schengenraums
Vierzig Jahre nach der Unterzeichnung des Schengener Übereinkommens gilt der Schengenraum weiterhin als Paradebeispiel für eine differenzierte europäische Integration. Doch die Argumente für eine stärkere Sicherung der Binnengrenzen, die bereits bei der Schaffung des Schengenraums geäußert wurden, gewinnen derzeit wieder an Bedeutung in der öffentlichen Debatte. In mehreren Mitgliedstaaten werden die Kontrollen an den innereuropäischen Grenzen zunehmend verschärft. Mit dem Amtsantritt der neuen Bundesregierung in Deutschland im Mai 2025 wurden die bereits bestehenden Grenzkontrollen mit Verweis auf die Beschränkung der irregulären Migration weiter verschärft. Seither werden an den deutschen Grenzen alle Asylsuchenden zurückgewiesen – mit Ausnahme von Schwangeren, kranken Personen und unbegleiteten Minderjährigen. Auch Frankreich verlängerte die bestehenden Kontrollmaßnahmen an sämtlichen Landesgrenzen. Begründet wurde dies mit anhaltender irregulärer Migration, der Aktivität krimineller Schleusernetzwerke und terroristischen Bedrohungen. Im Juli 2025 kündigte schließlich auch Polen an, als Reaktion auf die deutschen Maßnahmen erneut Grenzkontrollen einzuführen.
Vor diesem Hintergrund erweist sich der Schengen-Raum als ein äußerst fragiles Konstrukt. Gerade in Krisensituationen neigen seine Mitgliedstaaten dazu, reflexartig auf nationale Strukturen zurückzugreifen. Dies konnte etwa auch zu Beginn der Covid-Pandemie (März und Mai 2020) beobachtet werden, als die meisten europäischen Grenzen verstärkt kontrolliert bzw. in Teilen sogar zeitweise geschlossen wurden.

Auch Robert Goebbels, der luxemburgische Unterzeichner des Schengener Übereinkommens von 1985, sieht den Schengenraum in Gefahr. In einem Interview mit der luxemburgischen Zeitung Tageblatt warnt er vor den Folgen der wieder eingeführten Grenzkontrollen: „Zehn der 29 Schengen-Staaten haben wieder sporadische Grenzkontrollen eingeführt. Das schafft Einschränkungen – reale, aber auch mentale. Es nährt die Angst vor dem Fremden, und mit dieser Angst wird Politik gemacht.“ Anlässlich der offiziellen Feier zum 40-jährigen Bestehen des Schengener Übereinkommens in Luxemburg (12.-13. Juni 2025) riefen zahlreiche europäische Minister und Vertreter zur Verteidigung eines Europas mit offenen Grenzen auf. Der luxemburgische Außenminister Xavier Bettel mahnte: „Eine Freiheit zu gewinnen, war ein Kampf. Sie wieder aufzugeben, kann sehr schnell gehen. Tun wir das nicht!“ Während die Minister in Schengen tagten, kam es am Grenzübergang Goldene Bremm zwischen dem französischen Stiring-Wendel und dem deutschen Saarbrücken zu längeren Staus. Dort verteilten Aktivisten der Europa-Union Saar Kaffee an die Wartenden – ein stiller Protest gegen die wieder eingeführten Grenzkontrollen. Auch wenn sich einige Autofahrer mit den Maßnahmen abgefunden haben oder sie wegen der aufgegriffenen „illegalen“ Migranten befürworten, empfinden viele die Kontrollen dennoch als bloße Symbolpolitik.
Tatsächlich lässt sich die Grenze nur wenige Meter entfernt – gut sichtbar – auf der Landstraße ungehindert überqueren. Robert Goebbels ist überzeugt, dass sich die Menschen gegen die Kontrollen zur Wehr setzen werden: „Weil es nervt! Weil diese Kontrollen mit dem Argument der Sicherheit begründet werden, das in Wahrheit eine Illusion ist. Die Leute merken, dass das nichts bringt, dass es nicht abschreckt. Deutschland kann nicht alle Grenzen kontrollieren – außer, es baut eine Mauer.“ Gerade das Beispiel Großbritanniens zeige, dass Grenzkontrollen letztlich wenig bewirken. Großbritannien war nie Teil des Schengenraums, und doch gibt es dort weiterhin irreguläre Migration und hohe Kriminalitätsraten.

Die Zukunft ist offen
Auf absehbare Zeit dürften insbesondere Grenzpendler von den neuerlichen Kontrollmaßnahmen betroffen sein – etwa in der wirtschaftlich eng verflochtenen Großregion, zu der auch das Saarland und Lothringen gehören. Hier regte sich bereits politischer Widerstand gegen die von der Bundesregierung angeordneten Maßnahmen, unter anderem von der saarländischen Ministerpräsidentin Anke Rehlinger. Sie forderte, die Kontrollen ins Hinterland zu verlegen und stattdessen „klügere“ Lösungen zu finden – etwa in Form gemeinsamer deutsch-französischer Polizeistreifen.
„Offene“ Grenzen sind für viele, insbesondere für die jüngere Generation, längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Diese Selbstverständlichkeit wird nun zunehmend infrage gestellt. Angesichts anhaltender Kritik steht der Schengenraum heute an einem entscheidenden Wendepunkt – und es bleibt offen, welchen Weg Europa einschlagen wird.
Die Autorin

Leonie Staud studierte „Deutsch-Französische Studien: Grenzüberschreitende Kommunikation und Kooperation“ an der Universität des Saarlandes, der Université de Lorraine und der Universität Luxemburg. Seit 2025 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Europastudien mit Schwerpunkt Westeuropa und Grenzräume an der Universität des Saarlandes tätig. Ihre Forschungsinteressen umfassen europäische Grenzräume, politische Grenzdiskurse, die Entstehung der europäischen Grenz- und Migrationspolitik sowie die Rolle Deutschlands und Frankreichs bei der Abschaffung der Binnengrenzkontrollen in Europa, der Entstehung des Schengen-Raums und dessen Entwicklung bis heute.
Dieser Beitrag wurde am 8. März 2025 im Rahmen eines Workshops für französische und deutsche Doktoranden vorgestellt, der gemeinsam vom Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Universität Bonn) und dem Centre d’Excellence Jean Monnet (Universität Straßburg) organisiert wurde.
Mit Unterstützung der Deutsch-Französischen Hochschule und der Deutschen Sparkassenstiftung für internationale Kooperation e.V.