Morbihan:
Das erste Welterbe der Bretagne

Morbihan: Das erste Welterbe der Bretagne
  • VeröffentlichtAugust 20, 2025
Alignements de Carnac (Copyright: MDLF / Michel Angot)
Alignements de Carnac (Copyright: MDLF / Michel Angot)

Die Morgensonne taucht die Steinriesen von Carnac in goldenes Licht. Seit dem 12. Juli 2025 gehören die Megalithen von Carnac und des süd-bretonischen Départements Morbihan offiziell zum UNESCO-Weltkulturerbe – als erste Stätten der Bretagne.

 

Mehr als 550 prähistorische Stätten sind über 1.000 Quadratkilometer und 28 Gemeinden im Département Morbihan verteilt. Zwischen 5.000 und 2.000 vor Christus schufen die Menschen der Jungsteinzeit hier ein atemberaubendes Monument: die weltweit größte Ansammlung steinerner Giganten. Bereits die Griechen bestaunten diese Zeugnisse der Vorzeit – und gaben der Epoche ihren Namen: Megalithzeit (mega lith – großer Stein). Einzelnstehende Steine heißen Menhir (bret. men hir = langer Stein), flache liegende Steintische hingegen Dolmen (bret. taol = Tisch, men = Stein). Werden Menhire im Kreis oder Halbkreis angeordnet, entsteht ein Cromlech; in Linien aufgereiht bilden sie ein Alignement. Aus senkrecht stehenden Tragsteinen, die einen Deckstein stützen, entstanden die Dolmens. Diese jungsteinzeitlichen Grabanlagen wurden meist mit einem künstlichen Hügel zugedeckt – entweder aus Erde und Sand (Tumulus) oder aus Bruchsteinen (Cairn).

 

Die Steinzeit-Pioniere am Golf von Morbihan

Wo heute das Inselreich des Golfs von Morbihan aus glitzernden Fluten emporragt, erstreckte sich einst eine weite, hügelige Ebene mit Seen und Flüssen. Wälder, Feuchtwiesen und Flussauen prägten das Landschaftsbild, das Meer lag tiefer, und viele der heutigen Inseln waren noch mit dem Festland verbunden. Und genau hier wurden die ersten Ackerbauern der Jungsteinzeit sesshaft. Sie hielten Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine, bauten Getreide wie Emmer, Dinkel und Gerste an, fischten, jagten und sammelten Wildfrüchte. Ihre Behausungen bestanden aus Holz mit Lehmbewurf und waren von kleinen Feldern umgeben –  und monumentalen Kultstätten.

 

Vannes, Stadtpark an der Stadtmauer (Copyright: Hilke Maunder)
Vannes, Stadtpark an der Stadtmauer (Copyright: Hilke Maunder)

 

Eine Rundreise auf den Spuren der Vorzeit könnte in Vannes beginnen. Die Hauptstadt des Morbihan verschanzt ihr altes Herz hinter hohen Festungsmauern. Ein Labyrinth aus Fachwerkhäusern und gepflasterten Gassen umgibt die Kathedrale Saint-Pierre, an der vom 13. bis zum 19. Jahrhundert gebaut wurde. In der Rue Rogue grinsen zwei Gestalten vom Gesims: Vannes und seine Frau, die Wahrzeichen der Stadt. Im Hafen starten Ausflugsfahrten auf dem „kleinen Meer“, das auf Bretonisch mor bihan heißt und dem Département seinen Namen gab. Einer Legende zufolge soll es hier 365 Inseln geben – eine für jeden Tag des Jahres.

 

Carnac – weltberühmte Hinkelsteine

30 Kilometer westlich von Vannes liegt Carnac, das Zentrum der bretonischen Megalithkultur. Seine berühmten Alignements erstrecken sich über vier Kilometer und umfassen mehr als 3.000 Menhire, die in langen Reihen aufgestellt sind. Die Alignements du Ménec bilden mit 1.099 Menhiren in elf Reihen die größte Formation, die über eine 1.165 Meter lange und 100 Meter breite Wiese verläuft. Ebenso beeindruckend sind die Alignements de Kermario mit 1.029 Steinen in zehn Reihen. Das östlich gelegene Alignement de Kerlescan ist mit 540 Menhiren in 13 Reihen zwar das kleinste Feld, gilt aber als das besterhaltene.

 

Alignements de Kermario (Copyright: Wikimedia Commons)
Alignements de Kermario (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Die Menhire bestehen aus lokalem Granit und wurden mit Steinwerkzeugen, Feuer und Holzkeilen aus den Steinbrüchen gelöst. Hunderte Menschen transportierten die bis zu 300 Tonnen schweren Steine über Holzrollen und errichteten sie mit Hebeln, Rampen und Gerüsten. Diese logistische Meisterleistung zeigt, dass es bereits in der Jungsteinzeit komplexe soziale Strukturen und überregionale Zusammenarbeit gab. Die genaue Funktion der Steinreihen bleibt bis heute ein Rätsel. Forscher spekulieren, ob sie als Kultstätten, Opferplätze oder astronomische Observatorien dienten. Sicher ist nur: Dolmen wurden als Gräber genutzt.  Wie imposant solche Grabstätten waren, zeigt Carnac ebenfalls: Mitten in der Stadt erhebt sich der größte Grabhügel des Kontinents – der Tumulus Saint-Michel. 125 Meter lang, 60 Meter breit, 12 Meter hoch, wurde er um 4.500 v. Chr. als Sammelgrab für ein Fürstengeschlecht errichtet.

 

Die steinernen Giganten von Locmariaquer

Rund zehn Kilometer von Carnac entfernt ließen sich die mächtigsten Sippenchefs der Jungsteinzeit im heutigen Städtchen Locmariaquer an der Pointe de Kerpenhir des Mor Bihan begraben. Davon zeugt die Table des Marchands, ein Dolmen mit spektakulären Gravuren. Tierfiguren und geheimnisvolle Symbole sind in die Steine gemeißelt – Botschaften aus der Steinzeit, die bis heute nicht vollständig enträtselt sind.

 

Der Grand Menhir brisé bei Locmariaquer (Copyright: Wikimedia Commons)
Der Grand Menhir brisé bei Locmariaquer (Copyright: Wikimedia Commons)

 

In nächster Nähe erhob sich einst der größte und schwerste aller bekannten Menhire: der Menhir brisé – ein 20 Meter langer und 330 Tonnen schwerer Koloss aus Stein, heute zerbrochen in vier Teile. Sieben Meter misst das längste Steinstück, 2,30 m tief steckte es einst im Erdreich. Die beiden mittleren Teilstücke messen jeweils etwa 4,50 Meter. Das oberste Teilstück erreicht noch eine Länge von 4,10 Metern. Im Mittelalter verdammte die Kurie die Riesensteine als Teufelswerk und ging beherzt daran, die heidnischen Kolosse mit Kreuzen und Gravuren zu christianisieren.

Von Locmariaquer aus setzen Fähren zur Île de Gavrinis über. Dort thront ein prähistorischer Grabhügel weithin sichtbar über dem Land – bei seinem Bau befand er sich noch auf dem Festland! Der Cairn von Gavrinis gilt als die „Sixtinische Kapelle des Neolithikums“: 23 prächtig gravierte Stelen schmücken die Grabkammer, Linien, Symbole und Flechtwerke überziehen die Wände.

 

Die Megalithen im Wald

20 Kilometer westlich von Locmariaquer führt ein zwölf Kilometer langer Rundweg zu Menhiren und Dolmen von Erdeven. Wie schlafende Riesen ruhen sie im Wald – Ganggräber wie die Dolmen von Mané Braz und Mané Croc’h oder das Viereck von Crucuno. Oder 190 Menhire, einige bis zu sechs Meter hoch und 40 Tonnen schwer, die hier das Alignements de Kerzerho bilden – die zweitgrößte Steinreihe der Bretagne nach Carnac. Doch keiner der mystischen Steingiganten ist so bekannt wie der „Stuhl des Cäsar“, ein großer einzelner Menhir mitten im Wald. Zwei bis drei Stunden dauert die Wanderung, die tiefen Eindruck hinterlässt – Erdeven ist der einzige Ort im Morbihan, wo Megalithen und Wald eine derart intensive Symbiose eingehen.

 

Staunen am Ozean

Zwischen Locmariaquer und Arzon markiert die nur einen Kilometer breite den Ausgang des geschützten Golfes von Morbihan. Kraftvoll strömt das Wasser hinaus in die offene, wilde Baie de Quiberon am Atlantik. 14 Kilometer lang reckt sich die Halbinsel Quiberon wie ein schmaler Finger in den Ozean.

Mehr als zehn Menhire stehen im Süden der Halbinsel. In der Inselhauptstadt Quiberon hat der fünf Meter hohe Menhir der Rue Pouligner bis heute eine Aufgabe: Er dient als Monument aux Morts. Der Menhir von Manémeur beschattet ein großer Maulbeerbaum. Das Spektakulärste aber sind die Dolmen-Stätten direkt am Klippenrand. In Port Blanc thronen die prähistorischen Grabkammern über der Steilküste. Von den einst rechteckigen oder D-förmigen Kammern sind heute meist nur noch Grundsteine und wenige Tragsteine sichtbar, doch die Lage über der tosenden Brandung verleiht ihnen eine ungeheure Dramatik.

Bei Saint-Pierre-Quiberon besitzt Kerbourgnec noch einen Steinkreis und fünf Steinreihen. Der Cromlech ist im Vergleich zu Carnac ein Winzling, doch seine  Lage ist einzigartig. Nur hier verläuft ein Alignement mit 23 Menhiren bis zum Strand – und ins Meer hinein. Einige Menhire sind sogar erst bei Ebbe zu sehen!

 

Was Austernschalen verraten

Dicht besiedelt waren zur Megalithzeit auch die Ufer der Rivière d’Auray. Ab Auray bildet sie einen Loc’h genannte Ria und damit ein salzhaltiges Binnenmeer, das ungeheuer reich an Austern, Muscheln und Fischen, war. Dass sie bereits in der Vorzeit eine Delikatesse waren, verrieten Muschel- und Austernschalen in den Siedlungen den Archäologen.

 

Saint-Goustain am Ufer des Loc'h (Copyright: Hilke Maunder)
Saint-Goustain am Ufer des Loc’h (Copyright: Hilke Maunder)

 

Heute trifft man sich abends im Hafenviertel Saint-Goustan von Auray und genießt ein Plat de fruits de mer an der Kaikante. Der Hafen war im Mittelalter einer der wichtigsten Umschlagsplätze der Südbretagne. Heute trifft man sich hier zum Apero, stöbert in kleinen Gassen in Boutiquen und Galerien, entdeckt auf den Terrassen der Cafés und Restaurants die lokale Meeresküche – oder hockt sich mit Freunden auf Poller und genießt ein Feierabendbier an der Kaikante, während die langen Strahlen der tiefstehenden Sonne die alten Fassaden verzaubern.

 

Das Vorzeit-Erbe der Rhuys-Halbinsel

Wer mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist, kann am nächsten Tag zur Fähre von Locmariaquer radeln und mit dem Passeur des Îles in 25 Minuten zum Port Navalo bei Arzon auf der Presqu’île de Rhuys übersetzen. Mit dem Auto muss der gesamte Golf umrundet werden, um die Halbinsel zu erreichen.

Bei Arzon zeigt der Menhir de la Pierre des Trois Paroisses, wie prähistorische Monumente über Jahrhunderte ihre praktische Bedeutung bewahrten: Der 2,8 Meter hohe Steinkoloss diente über Jahrhunderte als Grenzmarkierung zwischen drei Pfarreien.  Das große überdachte Ganggrab von Le Net und der Dolmen in Port Maria so dicht am Meer, dass sie heute Klimaforschern Aufschluss geben können vom Anstieg des Meeresspiegels seit der Vorzeit.

An der Spitze der Halbinsel thront der Cairn du Petit-Mont 36 Meter über dem Meer. Der 6.000 Jahre alte Cairn birgt mehrere Dolmen mit kunstvoll gravierten Kammern. Von hier schweift der Blick über Belle-Île, Houat und Hoëdic zur Pointe de Kerpenhir bei Locmariaquer – ein Panorama, das bereits die Steinzeit-Menschen fasziniert haben muss.

 

Von der Vision zum Welterbe

Der Weg zum UNESCO-Welterbe war lang: 2013 gründete sich der Verein Paysages de Mégalithes, um alle Akteure der Region zu vereinen. Über ein Jahrzehnt dauerte die Vorbereitung, bevor das Dossier im Januar 2024 beim Welterbe-Zentrum eingereicht wurde. Die Anerkennung macht das Morbihan zu Frankreichs 54. UNESCO-Welterbestätte. Die Auszeichnung würdigt nicht nur einzelne Monumente, sondern die gesamte megalithische Kulturlandschaft. 4.600 Großmonumente sind allein in der Bretagne bekannt – mehr als in ganz Deutschland, wo sich ähnliche Anlagen vor allem in Norddeutschland finden. Doch nirgendwo erreichen sie die Dichte und Vielfalt des Morbihan. Das erste Welterbe der Bretagne ist das Zeugnis einer Zivilisation, die vor Jahrtausenden zu außergewöhnlichen kulturellen und technischen Leistungen fähig war. Eine Rundreise durch das Département Morbihan führt zu den Ursprüngen europäischer Kultur – und zu Menschen, die vor 7.000 Jahren mit einfachsten Mitteln Monumente für die Ewigkeit schufen.

 

Die Autorin

Hilke Maunder
Hilke Maunder (Copyright: Lara Maunder)

Hilke Maunder, 1961 in Hamburg geboren, kam nach ihrem Anglistikstudium und Volontariat 1989 als Redakteurin zu den Lübecker Nachrichten in Mecklenburg, ging als Korrespondentin nach China, Vietnam, in Baltikum und Australien und berichtet seit 2010 aus Frankreich. 2014 wurde sie für ihre Arbeit und ihren Blog „Mein Frankreich“ mit der Médaille de Tourisme ausgezeichnet, 2023 mit dem Gutedelpreis.

 

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