Cocoriki:
Wenn Karotten sterben und Giraffen sprechen

Cocoriki: Wenn Karotten sterben und Giraffen sprechen
  • VeröffentlichtAugust 22, 2025
Antrag auf Übernahme der französischen Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung (Copyright: Alamy)
Antrag auf Übernahme der französischen Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung (Copyright: Alamy)

„Die Karotten sind gekocht“, „wichtige Botschaft für Nestor: Die Giraffe hat einen langen Hals“, „der Hahn wird dreimal krähen“. Diese Sätze ergeben wenig Sinn, nicht wahr? Das ging den deutschen Soldaten 1944 ebenso. Cokoriki erklärt.

 

2017 entschied ich mich, die französische Staatsangehörigkeit zu beantragen, da dies nun endlich möglich war, ohne die deutsche ablegen zu müssen. Nach viel Papierkram kam dann 2018 die letzte Etappe: Ein Gespräch mit einer Beamtin, in dem ich mein Wissen über die französische Landeskunde und Geschichte unter Beweis stellen musste. Die ersten Fragen betrafen liberté, égalité, fraternité, die Devise Frankreichs. Ich sollte erklären, was unter Brüderlichkeit und laïcité, der Trennung von Kirche und Staat, zu verstehen ist. Dann kamen Fragen über die Geschichte:

– „Der 11. November ist in Frankreich ein Feiertag, wissen Sie warum?“, so die Beamtin.

– „Tja, das hat direkt mit Deutschland zu tun, l’armistice, das ist der Gedenktag für den Waffenstillstand von 1918, der das Ende des Ersten Weltkrieges einläutete.“

Pokerface der Beamtin und schon kam die nächste Frage:

– „Auch der 8. Mai ist ein Feiertag, warum?“

– „Was soll ich sagen? Dank oder wegen der Deutschen ist auch dieser Tag ein Feiertag. Es ist der Tag des Sieges über Nazi-Deutschland, des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa“, sagte ich, um die Atmosphäre etwas zu entspannen, was jedoch keine Wirkung zeigte.

Mit demselben Pokerface stellte sie die nächste Frage:

– „Was versteht man unter l’appel du 18 juin?“

Nun war ich es, der ein Pokerface aufsetzte, um meine leichte Irritation zu verbergen. Hat die Dame etwa nur Fragen über die deutsch-französische Geschichte auf Lager? Will sie mich provozieren? Mit ernster Miene beantwortete ich auch diese Frage, sowie einige weitere zu französischen Persönlichkeiten und der Europäischen Union und wurde dann entlassen. Meine Antworten müssen richtig gewesen sein, denn einige Monate später wurde ich zu einer Zeremonie im Panthéon eingeladen, wo mir die Unterlagen ausgehändigt wurden, die bewiesen, dass ich nun Franzose war.

Einige Cokoriki-Leser, die vielleicht ebenfalls vorhaben, die französische Staatsangehörigkeit zu beantragen, möchten nun sicher wissen, was es denn mit dem Appel du 18 juin auf sich hat, an den auch dieses Jahr durch eine Zeremonie mit dem französischen Staatspräsidenten und dem Premier Minister erinnert wurde.

 

Ici Londres

Der Appell des 18. Juni 1940, ausgestrahlt über den Londoner Rundfunksender BBC, war die erste Rede von General de Gaulle an die Franzosen im besetzten Frankreich. Er bekräftigte darin seine Entschlossenheit, den Kampf fortzusetzen, und verwendete zum ersten Mal den legendären Ausdruck „une France libre“ (ein freies Frankreich). Leider sind von dieser Rede, der viele weitere folgten, keine Aufzeichnungen erhalten. 2005 wurde der Appell vom 18. Juni von der UNESCO sogar in die Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen, die seit 1997 dokumentarische Dokumente von universellem Interesse auflistet.

 

Plakataufruf und BBC-Mikrofon des Appells vom 18. Juni, Paris, Armeemuseum (Copyright: Wikimedia Commons)
Plakataufruf und BBC-Mikrofon des Appells vom 18. Juni, Paris, Armeemuseum (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Laurence Fruneau, eine alte Dame, die zunächst meine Schülerin war und dann eine enge Freundin wurde, erzählte mir immer wieder von diesem Moment, den sie als Kind erlebt hatte: „Après le dîner, papa nous demandait, à ma sœur et moi, de bien fermer les volets et de verrouiller la porte. Ensuite, il allumait la radio et cherchait la bonne fréquence. Dès qu’on entendait Ici Londres ou les Français parlent aux Français, un silence majestueux s’installait dans le salon. Nous n’étions plus seul à la maison, toute la France était avec nous“ („Nach dem Abendessen bat Papa mich und meine Schwester, die Fensterläden zu schließen und die Tür zu verriegeln. Dann schaltete er das Radio ein und suchte nach der richtigen Frequenz. Sobald Ici Londres oder Les Français parlent aux Français zu hören war, herrschte eine majestätische Stille in unserem Wohnzimmer. Plötzlich waren wir nicht mehr allein zu Hause, ganz Frankreich war bei uns“). Die Tatsache, dass mir eine Französin diese Geschichte sechzig Jahre nach dem Krieg erzählte – mir, einem Deutschen – berührte mich sehr. Gab es einen schöneren Beweis der deutsch-französischen Aussöhnung? Nun verstand ich auch, warum Laurence, das Wort libre immer mit besonderer Ehrfurcht aussprach. Sie zollte diesem Adjektiv Respekt wie keinem anderen Wort.

 

Krieg über das Radio

Alliierte Radiosender zu hören war im besetzten Frankreich verboten. Wer erwischt wurde, dem drohte im besten Fall eine Geldstrafe und die Beschlagnahme des Radiogerätes, im schlimmsten Falle eine Gefängnisstrafe und eine Verurteilung zur Zwangsarbeit. Die Deutschen hatten erkannt, dass die Résistance das Medium Radio gezielt nutzte, um zahlreiche verschlüsselte Botschaften über die BBC zu verbreiten – darunter: „Les carottes sont cuites“. Aus dem Trésor de la langue française erfährt man, dass die französische Sprache voll von Ausdrücken um die Karotte ist. Im 18. Jahrhundert bedeutete „nur von Karotten leben“, sparsam zu leben, und ‚seine Karotten kochen lassen‘ stand für sterben. 1944 kam eine weitere Bedeutung hinzu: Die Mitteilung, sie seien „gekocht“, kündigte die bevorstehende Landung der Alliierten an.

Ähnlich der seltsame Satz: „Message important pour Nestor: la girafe a un long cou“, der den Beginn des Guerillakrieges ebenfalls ankündigen sollte. „Nestor“ war der Kampfname von Jacques Poirier (1922-2005), der während des Zweiten Weltkriegs ein französischer Agent der SOE (Special Operations Executive) war. Was es mit der Giraffe auf sich hatte, das wird wohl ein Geheimnis bleiben, es sei denn ein Cokorikileser weiß mehr…

Auch die dem Gedicht Chanson d’automne von Paul Verlaine entnommene Zeile Les sanglots longs des violons de l’automne wurde am 1. Juni 1944 als Geheimbotschaft gesendet. Sie zählt heute zu den bekanntesten chiffrierten Mitteilungen jener Zeit, da sie ebenfalls das baldige Eintreffen der Alliierten in der Normandie signalisierte. Bekannt wurde sie nicht zuletzt durch den US-amerikanischen Kriegsfilm Der längste Tag (The Longest Day, 1962), in dem sie – etwas vereinfacht – als allgemeiner Appell an die Résistance dargestellt wird.

 

Skulptur von Charles de Gaulle in Paris (Copyright: Depositphotos)
Skulptur von Charles de Gaulle in Paris (Copyright: Depositphotos)

 

Ebenso bekannt, wie der Appell des 18. Juni, sind noch zwei weitere Daten: Der 24. August für la libération de Paris, die Befreiung von Paris durch die 2. französische Panzerdivision unter General Leclerc. Der 25. August für de Gaulles Rede vor dem Pariser Rathaus: „Paris, Paris outragé, Paris brisé, Paris martyrisé, mais Paris libéré!“ („Paris, Paris empört, Paris gebrochen, Paris gemartert, aber Paris befreit!“). Übrigens: Dieses Jahr plant das Pariser Rathaus eine Gedenkzeremonie, die sich über zwei Tage erstrecken wird. Un rendez-vouz à ne pas manquer!

Also, liebe zukünftige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger: Ob Karotten, Giraffen, Violinen oder Panzer – wer all das parat hat, braucht beim Einbürgerungsgespräch das Pokerface der Beamtin nicht zu fürchten.

 

Der Autor

Frank Gröninger
Copyright: Frank Gröninger

Der in Hessen geborene Frank Gröninger wohnt seit 1993 in Paris, wo er als Lehrer für Deutsch und interkulturelle Beziehungen unter anderem für das französische Außenministerium und Sciences Po, dem Institut für politische Wissenschaften arbeitet. 2021 erschien sein Buch „Douce Frankreich: die Abenteuer eines Deutschen in Paris“, sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, 2022 sein zweites Buch, „Dessine-moi un(e) Allemand(e)“.

 

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