Frankreich:
Vorgezogene Präsidentschaftswahlen als Allheilmittel?

Frankreich: Vorgezogene Präsidentschaftswahlen als Allheilmittel?
  • VeröffentlichtSeptember 15, 2025
Präsidentschaftswahl 2022 in Remiremont (Copyright: Wikimedia Commons)
Präsidentschaftswahl 2022 in Remiremont (Copyright: Wikimedia Commons)

Die Forderungen nach einem Rücktritt Emmanuel Macrons sind in den vergangenen Tagen immer lauter geworden. Doch ist die Präsidentschaftswahl in Frankreich nicht selbst Teil des Problems?

 

Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs der elf Präsidentschaftswahlen seit 1965 verdeutlichen die Wucht des populistischen Aufschwungs. Ab Mitte der 1980er-Jahre wurde dieser besonders spürbar. Frankreich stand im März 1983 vor erheblichen wirtschaftlichen und finanziellen Problemen: Abwertungen, Kapitalflucht, Haushaltsdefizite sowie Handels- und Zahlungsbilanzdefizite. Präsident François Mitterrand und Premierminister Pierre Mauroy sahen sich daher gezwungen, einen radikalen Kurswechsel einzuleiten. Statt der im Wahlkampf angekündigten „Politik des Bruchs“ setzte Mitterrand nun auf einen strikten Sparkurs. Das stieß auf Widerstand bei den Wählern und zeigte sich bereits 1983 bei Kommunalwahlen sowie 1984 bei den Europawahlen (11 %).

Bei den Parlamentswahlen von 1986 mussten die Sozialisten den Preis dafür zahlen: Sie verloren und François Mitterrand war zur Kohabitation mit der Rassemblement pour la République unter Parteichef Jacques Chirac gezwungen. In diesem Jahr gelang dem Front National der Durchbruch: Die Partei von Jean-Marie Le Pen zog mit 35 Abgeordneten ins Parlament ein – vor allem dank der Einführung der Verhältniswahl. Es folgte die Präsidentschaftswahl von 1988, die den populistischen Aufschwung noch deutlicher machte: Jean-Marie Le Pen erreichte 14,5 % der Stimmen. Damals konnte man dies noch als Protestwahl und Ausdruck vorübergehender Unzufriedenheit deuten. Doch die folgenden Jahre zeigten, dass der populistische Aufschwung anhielt.

Zwischen 1988 und 2022 sticht nur die Wahl von 2007 heraus: Sie brachte einen Rückgang der Enthaltungen und eine höhere Beteiligung zugunsten der Regierungskandidaten – auf Kosten von Jean-Marie Le Pen. Doch 2007 blieb eine Ausnahme in der ansonsten protestgeprägten Logik der Präsidentschaftswahlen. 2012 legten die populistischen Stimmen erneut zu und erreichten ein Drittel der abgegebenen Stimmen. 2017 kamen sie im ersten Wahlgang bereits auf fast die Hälfte (48,4 %), 2022 übertrafen sie diese Marke deutlich mit 57,8 %. Damit stellten sie erstmals die Mehrheit.

 

Populistischer Aufschwung und Krisenjahre

Das Schrumpfen der Wählerbasis der Regierungsparteien seit der Präsidentschaftswahl 2017 ist unübersehbar. Zählt man zu den populistischen Stimmen auch die Enthaltungen sowie die leeren und ungültigen Stimmzettel – jeweils im Verhältnis zur Zahl der Wahlberechtigten –, ergibt sich ein Anteil von 60,9 % im Jahr 2017 und sogar 69,6 % im Jahr 2022. Diese Werte verdeutlichen eindrücklich, wie weit die Regierungsparteien inzwischen an den Rand gedrängt wurden. Binnen nur 15 Jahren überflügelte der FN/RN die traditionelle Rechte, während auf der linken Seite LFI unter Jean-Luc Mélenchon zur dominierenden Kraft aufstieg (19,6 % der Stimmen 2017, 22 % im Jahr 2022). Da jedoch weiterhin die moderaten Parteien regieren, erscheint ihre Legitimität seither brüchig. Sie geraten besonders dann unter Druck, wenn sie versuchen, die Staatsfinanzen durch Einsparungen im öffentlichen Bereich – vor allem bei den Sozialausgaben – zu stabilisieren.

 

Aus L’Express. Ausgabe vom 29. April 2017 (Copyright: Depositphotos)
Aus L’Express. Ausgabe vom 29. April 2017 (Copyright: Depositphotos)

 

Der Aufstieg des Protests war in den vergangenen zwanzig Jahren so stark, dass gleich drei Mal ein populistischer Kandidat die Stichwahl erreichte: 2002, 2017 und 2022. Zwar stellte sich die Mehrheit der Wähler am Ende stets gegen die Populisten, doch das „Bollwerk“ verlor spürbar an Kraft. Zwischen 2017 und 2022 halbierte sich der Abstand zwischen den beiden Finalisten, während die Enthaltung um fast drei Punkte stieg. 2022 wurde Emmanuel Macron nur noch von 38,52 % der Wahlberechtigten wiedergewählt – gegenüber 62 % für Jacques Chirac im Jahr 2002.

Zwischen 1965 und 1981 beherrschten die Regierungsparteien unangefochten die politische Bühne. Damals war es leichter, auf die Forderungen der Wähler einzugehen oder sie sogar zu bestärken. In Zeiten schwachen Wachstums, prekären Lebensverhältnissen, demografischer Alterung und wachsender Defizite hingegen gewannen die Populisten zunehmend die Oberhand. Ab Mitte der 1980er-Jahre prägte diese populistische Logik die Präsidentschaftswahlen deutlich.

 

Schrumpfende Regierungsparteien und Protestwähler

Die Aussicht auf die nächste Präsidentschaftswahl treibt die französischen Politiker unaufhaltsam dazu, der Kooperation die Konkurrenz vorzuziehen – trotz der angespannten öffentlichen Finanzen. Eigentlich sollte die Präsidentschaftswahl der Moment sein, in dem die großen Streitfragen des Landes entschieden werden. Doch ist es vorstellbar, dass ein direkt vom Volk gewählter Präsident massiv defizitäre Haushalte sanieren könnte? Es ist schwer vorstellbar, dass ein Präsidentschaftswahlkampf Antworten liefert, die geeignet sind, wirksame Maßnahmen zur Stabilisierung der Finanzen hervorzubringen.

Fast alles an der Präsidentschaftswahl widerspricht den grundlegenden Bedingungen für Konsens und Reform: die Hyperpersonalisierung der Macht, ihre autoritäre Tendenz und ihr plebiszitärer Charakter. Deshalb haben populistische Kandidaten einen klaren Vorteil gegenüber jenen, die Reformen im Interesse künftiger Generationen durchsetzen wollen. Unter der faktisch präsidentiellen Fünften Republik liegt das Demokratiedefizit nicht daran, dass Parteichefs oder Abgeordnete nicht diskutieren oder verhandeln könnten, sondern daran, dass sie kurz vor einer Präsidentschaftswahl kein Interesse daran haben. Die Verkürzung des Mandats von sieben auf fünf Jahre hat diesen systemischen Mangel noch verschärft: Der Fünfjahresrhythmus erhöht die Häufigkeit der Präsidentschaftswahlen und verstärkt die lähmende Wirkung der Vorkampagnen. Sie blockieren sinnvolle Debatten und verhindern notwendige Entscheidungen.

Die Präsidentschaftswahl prägt stark die Art der politischen Reden und Regierungsprogramme. Sie trägt maßgeblich zur Verschuldung bei. Aufgrund ihrer „schöpferischen“ Züge kann sie wirtschaftliche und finanzielle Zwänge nicht berücksichtigen: Sie ist blind für solche Zwänge und darauf ausgelegt, zu geben, nicht zu nehmen.

 

Nicolas Sarkozy im Wahlkampf, 12. April 2007 (Copyright: Wikimedia Commons)
Nicolas Sarkozy im Wahlkampf, 12. April 2007 (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Fallen der Präsidentschaft

Die Präsidentschaftswahl hat eine eigene politische Kultur geprägt und in den öffentlichen Diskurs eingebracht: ihre Rituale, Codes, Symbole und ihre „magische“ Sprache – etwa Ausdrücke wie „die Begegnung eines Mannes mit einem Volk“, „die Königswahl“, „die höchste Magistratur“, „der Herr der Uhren“ oder „der Honeymoon“. All dies vermittelt den Eindruck, dass der Präsident eine wundersame Lösung in Händen hält, die es den Franzosen erlauben würde, Knappheit und die Notwendigkeit, Ressourcen zu erwirtschaften, zu ignorieren. Kein Wunder, dass parlamentarische Koalitionen heute oft auf Widerstand stoßen, wenn sie ein Budget durchsetzen wollen, das das Volk ablehnt – möglicherweise zu Unrecht.

Die große Verfassungsreform von Charles de Gaulle im Jahr 1962 führte die Direktwahl des Präsidenten durch das Volk ein. Indem er dies per Referendum und nicht über den verfassungsmäßigen Weg des Kongresses (Art. 89) durchsetzte, legte der Gründer der Fünften Republik zugleich die Weichen für Referendum und Populismus.

 

Krise und die Rolle der Wahl

In Demokratien wird eine Krise meist durch eine Wahl beantwortet. In Frankreich sind wir nun an einem kritischen Punkt: Die Präsidentschaftswahl ist als Instrument der Debatte, der Schlichtung und der Befriedung vielleicht keine Lösung mehr, sondern selbst ein Problem. Die nächste Wahl, die von vielen als einziger Ausweg aus der Krise dargestellt wird, könnte sich eher als ihr tragischer Beschleuniger erweisen. Zeigen uns das nicht die letzten Wahlen? Die Präsidentschaftswahlen von 2017 und 2022, die Parlamentswahlen von 2022, die dem wiedergewählten Präsidenten nur eine relative Mehrheit verschafften, sowie die Parlamentswahlen von 2024, die jede stabile Mehrheit unmöglich machen, sprechen dafür.

 

Ex-Premierminister François Bayrou in der Assemblée Nationale (Copyright : Alamy)
Ex-Premierminister François Bayrou in der Assemblée Nationale (Copyright : Alamy)

 

Die Schwere unserer finanziellen Probleme erlaubt keinen Aufschub mehr. Nie zuvor war diese Debatte in der Gesellschaft so präsent. Ex-Premierminister François Bayrou hat seinen Teil dazu beigetragen – ein Fortschritt. Während wir auf eine Lösung warten, wünschen sich mittlerweile 64 % der Franzosen den Rücktritt des Staatspräsidenten. Gleichzeitig ist die Präsidentschaftswahl selbst Teil des Problems: Sie erschwert die Bildung einer Arbeitsmehrheit und droht, eine Staatskrise heraufzubeschwören. Letztlich könnte die Unfähigkeit, ein Budget zu verabschieden, das den Erwartungen entspricht, selbst zur Auslöserin einer solchen Krise werden.

 

Dieser Text erschien erstmals am 3. September 2025 auf dem Portal von Sciences Po Paris unter dem Titel „L’élection présidentielle, une tragédie française“.

 

Der Autor

Dominique Reynié (Copyright : Erwan Floch)
Dominique Reynié (Copyright : Erwan Floch)

Dominique Reynié ist Professor an Sciences Po und Generaldirektor der Fondation pour l’innovation politique (Fondapol). Er hat zahlreiche Artikel und Bücher zur Staatsräson, zur Öffentlichkeit, zum Populismus, zur Demokratie und zu Europa veröffentlicht.

 

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