Deutsch-französische Beziehungen:
„Fortschritt ist auch unter schwierigen Umständen möglich“


Roland Theis ist Vorsitzender der Deutsch-Französischen Parlamentariergruppe. Im Gespräch mit dokdoc spricht er über Chancen und Herausforderungen der deutsch-französischen Zusammenarbeit – von Alltagsfragen in den Grenzregionen über gemeinsame Infrastruktur und Verteidigungsprojekte bis hin zu außenpolitischen Differenzen.
dokdoc: Herr Theis, Sie sind seit wenigen Tagen Vorsitzender der Deutsch-Französischen Parlamentariergruppe. Warum war es Ihnen persönlich wichtig, diese Position gleich zu Beginn Ihrer Abgeordnetenzeit zu übernehmen?
Roland Theis: Die Parlamentariergruppe bietet die Möglichkeit, jenseits von Fraktionen und Parteigrenzen den Dialog auf parlamentarischer Ebene zu vertiefen. Dabei geht es auch darum, über die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich hinweg einen kontinuierlichen Dialog zu initiieren und zu pflegen, der das gegenseitige Verständnis stärkt – und das halte ich für besonders wichtig. Sie wissen, ich bin Saarländer. Wir verstehen uns oft als eine Art Brücke, ein Scharnier zwischen Deutschland und Frankreich – dank unserer geografischen Lage, unserer Geschichte und der besonderen Verantwortung, die sich daraus ergibt. Diese Aufgabe auch im Deutschen Bundestag wahrzunehmen, empfinde ich als sehr reizvoll und zugleich bedeutsam.
dokdoc: Sie sind viel in der Grenzregion unterwegs und kennen genau die Hindernisse, mit denen die Menschen auf beiden Seiten der Grenze täglich konfrontiert sind. Was hat sich seit dem Abschluss des Aachener Vertrags für sie verbessert?
Theis: Der Aachener Vertrag hat eine wichtige Institution für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit geschaffen: den Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Dieses Gremium ist insofern ein Novum, als dort Vertreter aller staatlichen und kommunalen Ebenen aus Deutschland und Frankreich an einem Tisch sitzen. Gerade in der Praxis ist das entscheidend, weil die unterschiedlichen Strukturen auf beiden Seiten – der deutsche Föderalismus mit kommunaler Selbstverwaltung einerseits und die komplexe französische Administration andererseits – die Zusammenarbeit oft schwer verständlich und unüberschaubar machen. Zudem ist es positiv, dass der Aachener Vertrag der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ein eigenes Kapitel widmet. Dennoch zeigt die Erfahrung aus meiner Grenzregion, dass Fortschritte oft schwer zu erzielen sind. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren gab es leider nur wenige Durchbrüche, und neue Herausforderungen kommen hinzu – meist nicht aus Absicht, sondern aufgrund fehlender Kenntnis der Realitäten.
dokdoc: Können Sie uns dafür ein konkretes Beispiel nennen?
Theis: Lassen Sie mit einem positiven Beispiel anfangen, etwa die Doppelbesteuerung von Entgeltersatzleistungen wie dem Kurzarbeitergeld. Früher mussten Arbeitnehmer, die in Deutschland Kurzarbeitergeld erhielten, dieses in Frankreich versteuern – was faktisch zu einer Doppelbesteuerung führte und Tausende Familien belastete. Diese Problematik konnte letztlich gelöst werden, auch dank der EU-Kommission, die ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland initiierte. Solche Probleme gilt es künftig zu vermeiden. Daher ist die Gesetzesfolgenabschätzung für Grenzregionen so wichtig: Sie soll verhindern, dass neue Hürden entstehen, etwa durch unterschiedliche nationale Umsetzungen gemeinsamer EU-Richtlinien. Ein Beispiel: Die französische Crit’Air-Umweltplakette und die deutsche Plakette basieren auf derselben Richtlinie, sind aber unterschiedlich umgesetzt. Das führt dazu, dass Handwerker auf beiden Seiten der Grenze mit zwei Plaketten unterwegs sein müssen – völlig unnötig. Es ist frustrierend, wenn Deutschland und Frankreich groß über gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sprechen, aber in alltäglichen Fragen die praktische Zusammenarbeit scheitert. Wenn die Menschen in Grenzregionen das Gefühl haben, Europa erschwere ihr Leben, wird es schwer, die Bevölkerung anderswo von dessen Nutzen zu überzeugen.

dokdoc: Der Vertrag von Aachen nannte 15 Projekte, die prioritär umgesetzt werden sollten, unter anderem die Verbesserung grenzüberschreitender Bahnverbindungen. Welche Fortschritte gibt es hier?
Theis: Wir sind auf beiden Seiten der Grenze im Gespräch darüber, wie wir Prioritäten setzen und dafür sorgen, dass zentrale Verkehrsverbindungen verbessert werden. Historisch gesehen war das Bahnnetz in der französischen Grenzregion vor 100 Jahren deutlich besser ausgebaut als heute. Ein Beispiel aus meiner Region: Im Dreieck Saarbrücken-Metz- Luxemburg gibt es massive Pendlerströme. Die Autobahn von Metz nach Luxemburg ist jeden Morgen überlastet, während es für den öffentlichen Nahverkehr von Saarbrücken nach Luxemburg nur Busverbindungen gibt. Diese Busse sind zwar gut, ersetzen aber keinen echten Pendlerverkehr. Ich habe kürzlich wieder den Bundesverkehrsminister darauf angesprochen, der die Situation in Grenzregionen wie Luxemburg gut kennt. Ich mache seit vielen Jahren Politik – bereits in meiner ersten Legislaturperiode im saarländischen Landtag haben wir über solche Themen gesprochen. Damals hieß es oft, das sei langfristig nur möglich. Doch das ist keine Entschuldigung: Brückenbauprojekte über den Rhein oder ähnliche Infrastrukturmaßnahmen müssen umgesetzt werden. Deutschland hat aktuell viele Mittel für Infrastruktur mobilisiert. Diese müssen jetzt auf die Straße und auf die Schiene gebracht werden.
dokdoc: Frankreich erlebt seit über einem Jahr eine Phase politischer Instabilität. Welche Auswirkungen hat das auf die deutsch-französische Zusammenarbeit – insbesondere auf die Initiativen, die Friedrich Merz und Emmanuel Macron gemeinsam anstoßen wollen?
Theis: Das Tandem Merz-Macron zieht in die gleiche Richtung. Merz hat zudem den unschätzbaren Vorteil, dass er mit einer Saarländerin verheiratet ist (lacht). Solche persönlichen Aspekte spielen zwar nur eine Nebenrolle – entscheidend ist, dass die politische Zusammenarbeit funktioniert. Politische Instabilität kann Beziehungen zwischen Staaten bremsen. Das haben wir in Deutschland selbst erlebt. Gleichzeitig dürfen wir uns nicht hinter innenpolitischen Schwierigkeiten verstecken. Historische Beispiele zeigen, dass Fortschritt auch unter schwierigen Umständen möglich ist: In der Vierten Republik gab es über 20 Kabinette und wechselnde Mehrheiten, und trotzdem gelang es Robert Schuman gemeinsam mit Konrad Adenauer, die Grundlagen für die Montanunion und die Römischen Verträge zu legen – Verträge, auf denen wir bis heute aufbauen. Hätte man sich damals von Umfragen und innenpolitischen Hürden leiten lassen, wären viele dieser Schritte nie gegangen worden. Das zeigt: Wir brauchen Mut und dürfen uns nicht von kurzfristigen Schwierigkeiten lähmen lassen.

dokdoc: Das Rüstungsprojekt FCAS stellt beide Länder vor große Herausforderungen. Beim letzten deutsch-französischen Ministerrat in Toulouse konnten keine nennenswerten Fortschritte erzielt werden. Zwischenzeitlich hieß es, Deutschland prüfe Alternativen zu Frankreich, worauf Dassault-Chef Eric Trappier reagierte: „Wir können alles allein machen“. Was bedeutet das für die Zukunft solcher Großprojekte?
Theis: Ich vertraue darauf, dass eine kluge Lösung gefunden wird. Über manche öffentliche Äußerungen, auch aus der Industrie, kann man nicht glücklich sein – hier wäre mehr Abstimmung wünschenswert. In Berlin und Paris sollten wir uns auf das konzentrieren, was uns verbindet. Es kann notwendig sein, bei einzelnen Projekten Abstriche zu machen, doch der Gewinn gemeinsamer Lösungen überwiegt meist die Nachteile. Die fehlende Harmonisierung kostet immense Ressourcen – weniger Effizienz, weniger Synergie, weniger gemeinsame Kampfkraft. Das können wir uns weder finanziell noch sicherheitspolitisch leisten. Hinzu kommt die unterschiedliche Auffassung von Souveränität: Frankreich denkt europäischer, Deutschland stärker transatlantisch. Die Welt verändert sich, und beide Länder müssen ihre Perspektiven erweitern.

dokdoc: Ja, aber bei solchen Projekten geht es auch um unterschiedliche strategische Kulturen…
Theis: Ja, und genau deshalb ist es entscheidend, die Zusammenarbeit kulturell zu stärken. In der Rüstungsindustrie haben Staat und Unternehmen auf beiden Seiten unterschiedliche Rollen. Politisch wie wirtschaftlich müssen wir diese Unterschiede offen besprechen und eine gemeinsame Kultur entwickeln. Häufig fehlt interkulturelle Kompetenz, obwohl sie für den Projekterfolg entscheidend ist – ähnlich wie bei internationalen Projekten mit China. Diese fehlende Sensibilität führt sonst zu Enttäuschungen und Schuldzuweisungen. Gerade im Verteidigungsbereich ist diese Grundlagenarbeit besonders wichtig. Wir planen Projekte, die erst in 40 Jahren zum Tragen kommen, während aktuelle sicherheitspolitische Herausforderungen in Wochen gemessen werden. Bei der Beschaffung müssen wir also schneller, effizienter und europäischer werden – davon profitieren alle Unternehmen in der Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie. Politik muss jedoch die Grundlagen schaffen, damit diese Zusammenarbeit wirklich funktioniert.
dokdoc: Emmanuel Macron hat am 22. September Palästina als Staat anerkannt. Deutschland fährt einen anderen Kurs, auch mit Blick auf mögliche Sanktionen gegen Israel. Welche Folgen hat das für die deutsch-französischen Beziehungen und für Europa?
Theis: Ich glaube, dies ist eines der kompliziertesten Themen in der Außenpolitik. Ich möchte die französische Position nicht bewerten, sondern unsere deutsche Haltung darstellen und erklären, warum sie so wichtig ist. Erstens: Für uns, die CDU/CSU-Fraktion, und ich denke für die Mehrheit der deutschen Politik, ist das Existenzrecht Israels unverhandelbar. Es ist ein zentraler Pfeiler deutscher Staatsräson. Wichtig ist, sich den Ausgangspunkt der aktuellen Eskalation vor Augen zu führen: den 7. Oktober 2023, als die Hamas ein Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung in Dörfern rund um den Gazastreifen, auf Festivalgeländen und in Kibbuzim verübte. Eine politische Lösung wäre näher, wenn die Hamas entwaffnet würde und die Gewalt gegen Israel beendet wäre. Gleichzeitig müssen wir die humanitäre Lage im Blick behalten. Auch wenn die Hamas die Hauptverantwortung trägt, hat Israel ebenfalls eine Verpflichtung gegenüber der Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Deshalb hat der deutsche Außenminister, ebenso wie der Bundeskanzler, die Art der Kriegsführung Israels kritisch bewertet – eine Kritik, die in Israel ernst genommen wird und Teil einer verantwortungsvollen, langfristigen deutschen Haltung ist. Langfristig verfolgen wir die Zweistaatenlösung. Die Voraussetzungen dafür sind heute jedoch nicht erfüllt, was unsere Position von der französischen unterscheidet. Entscheidend ist, dass unsere Positionen kompatibel genug bleiben, damit Europa in diesem Konflikt mit einer gemeinsamen Stimme sprechen kann. Unterschiedliche Perspektiven sind möglich, aber Europa darf nicht als gespalten wahrgenommen werden. Nur so kann die EU eine konstruktive Rolle bei der Beilegung dieses Konflikts spielen – auch wenn eine Lösung derzeit noch weit entfernt ist.
dokdoc: Die Kommunalwahlen sind morgen, die Präsidentschaftswahlen bereits übermorgen. Eine Neuauflage des Front Républicain, wie bei den Parlamentswahlen 2024, gilt als unwahrscheinlich – ein Sieg des Rassemblement National als möglich. Was stimmt Sie als Deutsch-Franzose dennoch optimistisch?
Theis: Mit Blick auf die Kommunalwahlen macht mich optimistisch, dass ich viele Lokalpolitiker in Frankreich kenne, die das Vertrauen der Menschen genießen, weil sie hervorragende Arbeit leisten. Bürgermeister und Verantwortliche auf Ebene der Departements und Regionen spielen dabei eine zentrale Rolle für die deutsch-französischen Beziehungen. Der Austausch auf dieser Ebene stabilisiert die Partnerschaft zusätzlich. Demokratie bedeutet, dass das Ergebnis vorher ungewiss ist – das ist Teil des Prozesses. Mein Wunsch ist, dass Deutschland und Frankreich in den nächsten anderthalb Jahren eine dynamische Zusammenarbeit entwickeln und konkrete Ergebnisse erzielen. Diese sollten den Menschen zeigen, wie wichtig ein gutes Miteinander zwischen unseren Ländern ist und welche zentrale Rolle Europa dabei spielt, unseren Wohlstand, unsere Freiheit und unsere Sicherheit zu sichern. Gelingt uns das, wäre das der beste Beitrag für proeuropäische Mehrheiten – sowohl in Frankreich als auch in Deutschland. Genau das ist die Aufgabe der Politik: kontinuierlich daran zu arbeiten.
dokdoc: Herr Theis, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Die Fragen stellte Landry Charrier.
Das Interview haben wir vor dem Sturz der Regierung Lecornu (6.10.2025) geführt.
Unser Gast

Roland Theis ist seit Februar 2025 Abgeordneter des Saarlands (Wahlkreis St. Wendel) im Bundestag. Er ist Mitglied der Ausschüsse für Europäische Angelegenheiten und Verteidigung, Mitglied des Präsidiums der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung, Vorsitzender der Deutsch-Französischen Freundschaftsgruppe im Bundestag, Mitglied des CCT/AGZ und Dozent an der Sciences Po Paris, Campus Nancy. Zuvor war er Mitglied des Landtags des Saarlands und hatte außerdem Positionen als Staatssekretär im Ministerium der Justiz des Saarlands sowie als Beauftragter des Landes für Europafragen inne.