Neue Wege der Diplomatie:
Locarno als Labor deutsch-französischer Verständigung

Neue Wege der Diplomatie: Locarno als Labor deutsch-französischer Verständigung
  • VeröffentlichtOktober 8, 2025
Mit den Verträgen von Locarno blühte für kurze Zeit die Hoffnung auf nachhaltigen Frieden in Europa auf (Copyright: Alamy)
Mit den Verträgen von Locarno blühte für kurze Zeit die Hoffnung auf nachhaltigen Frieden in Europa auf (Copyright: Alamy)

Vor 100 Jahren fand die Locarno-Konferenz statt. Historikerin Yvonne Blomann zeigt, wie persönliche Begegnungen, diplomatisches Geschick und Sicherheitsgarantien die Grundlage für stabile Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich legten.

 

Andreas Noll: Frau Blomann, in Ihrer Dissertation haben Sie sich mit den deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert aus kulturhistorischer Perspektive beschäftigt. Sie untersuchen dabei vor allem diplomatische Praktiken – also Kommunikationsformen, Verhandlungsstile und institutionelle Rahmenbedingungen. Warum haben Sie sich gerade die Locarno-Konferenz näher angesehen?

 

Yvonne Blomann: Weil ich sie bemerkenswert finde – zum einen wegen der materiellen Vertragsinhalte, die an sich spannend sind, und vor allem wegen der Umgangsformen und des Aushandlungsprozesses, die historisch besonders aufschlussreich sind.

 

Noll: Nach dem Ersten Weltkrieg waren die deutsch-französischen Beziehungen stark belastet. Welche Faktoren haben das Verhältnis vergiftet und wie entwickelten sich die Beziehungen bis zur Locarno-Konferenz?

 

Blomann: Das deutsch-französische Verhältnis war belastet, weil Deutschland Artikel 231 des Versailler Vertrags nicht akzeptierte, während Frankreich den Vertrag als zu lax empfand und sein Sicherheitsbedürfnis nicht erfüllt sah. Bis zur Ruhrkrise 1923 ging der „Krieg in den Köpfen“ unvermindert weiter. Ab 1923/24 stabilisierte sich Deutschland wirtschaftlich durch den Dawes-Plan, und neue politische Akteure eröffneten Chancen für Verständigung. 1925 ergriff das Deutsche Reich mit dem sogenannten Februar-Memorandum die diplomatische Initiative und unterbreitete Frankreich den Vorschlag über einen Sicherheitspakt und die Garantie der deutschen Westgrenze, den Paris nach einem erneuten Regierungswechsel im Frühjahr 1925 wieder aufgriff. Das Auswärtige Amt verfolgte von Anfang an ernsthaft die Ziele des Memorandums, um aktiv in den Friedensprozess eingebunden zu sein.

 

Noll: Der Locarno-Prozess erreichte im Herbst 1925 seinen Höhepunkt. Auf welcher Ebene begann er zunächst?

 

Blomann: Nach der Initiierung durch den deutschen Außenminister Gustav Stresemann und seinen Staatssekretär Carl von Schubert im Wesentlichen auf Botschafterebene. Die Botschafter von Berlin, Paris und London hatten eine Schlüsselrolle als Mittler zwischen den Regierungen. Sie überbrachten nicht nur Nachrichten, sondern lieferten auch Interpretationen, bewerteten, wie Botschaften aufgefasst wurden, und sorgten für vertrauensbildende Maßnahmen. Ziel war es, das latente Misstrauen zwischen Berlin und Paris abzubauen – ein Misstrauen, das 1925 trotz positiver Entwicklungen noch stark ausgeprägt war.

 

Außenminister Gustav Stresemann und Staatssekretär Carl von Schubert in Locarno (Copyright: Wikimedia Commons)
Außenminister Gustav Stresemann und Staatssekretär Carl von Schubert in Locarno (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Noll: Wie hat sich die Rolle der Botschafter zu dieser Zeit verändert?

 

Blomann: Ab 1919 wandelte sich die Diplomatie stark. Es gab nun nicht mehr nur das Profil des „klassischen“ Botschafters, sondern auch Juristen, Ökonomen, Pressevertreter und gewählte politische Mandatsträger, die miteinander interagierten. Anders als im 19. Jahrhundert hatten diese Akteure sehr unterschiedliche berufliche Hintergründe und waren unterschiedlich sozialisiert. Neue Berufe, etwa Konferenzdolmetscher, wurden notwendig. So wurde die Diplomatie insgesamt differenzierter und professioneller.

 

Noll: Bedeutete das einen Einflussverlust für die Botschafter?

 

Blomann: Ja, viele fühlten sich anfangs in den Hintergrund gedrängt, weil politische Mandatsträger nun direkt verhandelten. Im Locarno-Prozess zeigte sich aber, dass die Botschafter weiterhin unverzichtbar waren. Sie bereiteten die Gespräche vor, beobachteten die Stimmung in den Hauptstädten, verfassten detaillierte Berichte über politische Entwicklungen und die Medienlandschaft und ermöglichten so den Regierungen, fundiert und angemessen zu reagieren.

 

Noll: Die eigentliche Konferenz fand vom 5. Bis 16. Oktober statt. Inwiefern war Locarno in Organisation und Ablauf anders als frühere Konferenzen?

 

Blomann: Locarno wollte bewusst keine klassische, große Konferenz sein. Man wollte sich von den komplexen, technisch ausdifferenzierten Konferenzen wie Versailles, Genua oder London abheben, die oft Hunderte Teilnehmer, Delegationen und Dolmetscher erforderten. Stattdessen war Locarno kleiner und persönlicher organisiert: Die Gespräche waren zielgerichtet, die Teilnehmerzahl überschaubar, und die Diplomatie stärker auf Kooperation und direkte Verständigung ausgerichtet – auch wenn die Komplexität durch die Vielzahl der Akteure und Themen weiterhin eine Herausforderung darstellte.

 

Noll: Wie viele Personen waren in Locarno dabei?

 

Blomann: In Locarno galt das Credo: nur die wichtigsten Personen – Außenminister, ihre Stäbe, Juristen und persönliche Referenten – alles sehr klein gehalten. Bereits im Juni, zu Beginn des Notenwechsels, machte der deutsche Staatssekretär Carl von Schubert dem französischen Botschafter klar: Notenwechsel schön und gut, aber ein Abschluss erfordert persönliche Treffen im kleinen Kreis. Die Franzosen bestanden darauf, dass die Briten eingebunden werden. Auch der Tagungsort spielte eine Rolle: Genf war zunächst im Gespräch, wurde jedoch abgelehnt, da Gustav Stresemann dort einen schweren Stand gehabt hätte. Lausanne kam ebenfalls nicht in Frage. Schließlich schlug Schubert kleinere Orte wie Luzern vor, da Stresemann dort theoretisch einen Kuraufenthalt absolvieren könnte. Letztlich fiel die Wahl auf Locarno, nahe der italienischen Grenze.

 

Noll: Der private Charakter der Konferenz war also zentral. Wie sah der Alltag in Locarno konkret aus – dominierten informelle Treffen oder eher die offiziellen Verhandlungen?

 

Blomann: Beides. Es gab zwei wesentliche Hotels: das Hotel Esplanade für die deutsche Delegation, das Grand Hotel für die Alliierten, und den Justizpalast als offiziellen Verhandlungsort. Die Infrastruktur war für eine so kleine Stadt wie Locarno in kürzester Zeit beeindruckend ausgebaut worden: Telegrafen, Telefonverbindungen, Presseunterkünfte, Sitzungssäle. Es entwickelte sich ein zweigleisiges System: offizieller Sitzungssaal und private Treffen auf Hotelzimmern, bei Frühstücken oder Ausflügen auf dem Lago Maggiore. Außenminister und Dolmetscher diskutierten dort sensible Punkte ohne die große Delegation. Oft waren diese privaten Treffen entscheidender als die formellen Verhandlungen.

 

Blick auf das Hotel Esplanade (Copyright: Wikimedia Commons)
Blick auf das Hotel Esplanade (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Noll: Und wie war es um die Sprachkompetenzen der Delegationen bestellt?

 

Blomann: Ganz unterschiedlich. Anders als im 19. Jahrhundert sprachen nicht alle Konferenzteilnehmer Französisch. Jeder Regierungschef, jeder Außenminister hatte seinen eigenen Werdegang. Französisch wurde als Konferenzsprache gewählt, doch Stresemann verstand nur minimal Französisch, Aristide Briand kein Deutsch. Dolmetscher wie Oswald Hesnard und Paul Schmitt waren entscheidend. Schmitt war einer der ersten speziell ausgebildeten Konferenzdolmetscher des Auswärtigen Amts und übersetzte für Gustav Stresemann.

 

Noll: Welche Punkte waren vorab geklärt, und welche strittigen Fragen mussten in Locarno noch gelöst werden?

 

Blomann: Der Locarno-Prozess baute auf Vorarbeiten und juristischer Expertise auf. Deutsche, britische und französische Juristen hatten Vertragsentwürfe bereits in London konzipiert. In Locarno ging es um die konkrete Ausgestaltung und um juristische und politische Feinheiten. Verhandelt wurden in Locarno die Garantie der deutschen Westgrenze, Schiedsverträge mit Frankreich, Belgien, Polen und der Tschechoslowakei sowie Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund und die damit verbundenen Verpflichtungen. Die Ostgrenze blieb offen, den beiden osteuropäischen Staaten Polen und der Tschechoslowakei kam nur eine marginale Rolle zu. Trotz Debatten über die Kriegsschuld oder das Rheinland konnte der Fokus auf Kernfragen wie den Westpakt und die Schiedsverträge gelegt werden.

 

Noll: Gab es am Ende eindeutige Gewinner, oder mussten Kompromisse zulasten einer Partei gemacht werden?

 

Blomann: Die westlichen Beteiligten sahen die Verträge als Erfolg an. Die beiden osteuropäische Staaten waren unzufrieden, da eine Garantie ihrer Grenzen nicht erreicht wurde. Nationalistische Gegner in Deutschland und Frankreich kritisierten die Verträge, doch Stresemann und Luther sicherten die Zustimmung im Reichstag durch gezielte Kommunikation. Unterzeichnet wurden die Verträge am 1. Dezember 1925 in London; der Name „Locarno-Verträge“ wurde von den Akteuren bewusst gewählt und betont die kooperative Arbeitsweise am Lago Maggiore.

 

Noll: Das Zusammenspiel und das gegenseitige Verständnis – wie prägend war das für die deutsch-französischen Beziehungen?

Blomann: Die Verständigungspolitik war stark personengebunden. Mit dem Tod von Schlüsselakteuren, Gustav Stresemann 1929, Aristide Briand 1932, gingen viele dieser Formen verloren. Heute zeigt sich im deutsch-französischen Verhältnis, etwa seit dem Élysée-Vertrag 1963, dass stabile bilaterale Zusammenarbeit möglich ist, wenn Personal harmoniert und institutionelle Formen kontinuierlich gepflegt und mit Leben gefüllt werden.

 

Noll: Können wir aus den Sicherheitsgarantien von damals noch etwas lernen – auch mit Blick auf heutige Konflikte?

 

Blomann: Ja, eine zentrale Lehre ist: Sicherheitsgarantien funktionieren nur, wenn die beteiligten Staaten bereit sind, sie auch umzusetzen. Allein schriftliche Zusicherungen reichen nicht aus. Ein Beispiel aus der Geschichte: Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland 1936 stellte eine Vertragsverletzung dar, Frankreich, handelte aber nicht, weil Großbritannien nicht mitgezogen wäre. In solchen Fällen werden Garantien wirkungslos. Für heutige Konflikte bedeutet das: Vereinbarungen müssen von Anfang an durch konkrete Handlungsbereitschaft und politische Verlässlichkeit begleitet werden, sonst bleiben sie symbolisch und schützen niemanden.

 

Noll: Wurde innerhalb der Delegationen darüber diskutiert, welche Konsequenzen die Sicherheitsgarantien haben könnten?

 

Blomann: Die Garantien waren das maximal Mögliche, auf das man sich einigen konnte. Man war sich der politischen Instabilität in Deutschland und Frankreich bewusst, sodass man nicht davon ausgehen konnte, dass zukünftige Regierungen automatisch den gleichen Kurs verfolgen würden. Ziel der Verträge war es daher, so weit wie möglich eine rechtliche und politische Verpflichtung zu schaffen, die künftige Regierungen zum Handeln zwingt – auch wenn eine vollständige Umsetzung der Garantien nie absolut sicherzustellen war. Sie sollten als Rahmen dienen, der den Handlungsspielraum der Regierungen einschränkt und die Ernsthaftigkeit der Vereinbarungen betont.

 

Die französische Delegation. In der Mitte Außenminister Aristide Briand (Copyright: Wikimedia Commons)
Die französische Delegation. In der Mitte Außenminister Aristide Briand (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Noll: Welche Bedeutung hatte Locarno für die deutsch-französischen Beziehungen, speziell für die Zusammenarbeit zwischen Stresemann und Briand?

 

Blomann: Locarno ist besonders bedeutend, weil die Konferenz nicht nur bestehende materielle Vereinbarungen bestätigte, sondern vor allem neue Formen der Kommunikation und Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich etablierte. Der Prozess erstreckte sich über mehrere Monate und schuf tragfähige Grundlagen für eine dauerhafte bilaterale Zusammenarbeit, die in den kommenden Jahren vertieft und ausgebaut wurde. Jedoch blieb nicht genug Zeit für eine Institutionalisierung der damals praktizierten Formen und damit eine Entkoppelung vom politischen Personal. Die vielversprechende Annäherung Mitte der 1920er Jahre sollte ihre Initiatoren nicht überleben.

 

Dieses Gespräch ist eine gekürzte Fassung des Franko-viel-Podcastes #83 – Stresemann, Briand und Locarno – Die Premiere einer neuen Diplomatie vom 4. Juli 2025.

 

Unser Gast

Yvonne Blomann (Copyright: privat)
Yvonne Blomann (Copyright: privat)

Yvonne Blomann studierte Frankoromanistik, Geschichte, Politikwissenschaften und Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Université du Québec à Montréal (Kanada). Promoviert wurde sie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Kulturgeschichte der Diplomatie, die Geschichte der internationalen Beziehungen, speziell der deutsch-französischen Beziehungen, die NS-Vergangenheit deutscher Behörden und die Didaktik des bilingualen Sachfachunterrichts. Ihre Dissertation, Diplomatie durch Sprache? Deutsch-französische Begegnungen im 20. Jahrhundert, erscheint als Band 139 der Pariser Historischen Studien im Verlag Heidelberg University Publishing und wurde 2024 mit dem Dissertationspreis der AG Internationale Geschichte im VHD ausgezeichnet.

 

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