Caen:
Ein helles Licht in der Normandie

Caen: Ein helles Licht in der Normandie
  • VeröffentlichtOktober 14, 2025
Die Abbaye aux Hommes (Copyright: Hilke Maunder)
Die Abbaye aux Hommes (Copyright: Hilke Maunder)

Hell leuchtet Caen unter dem hohen Himmel der Normandie. Wilhelm der Eroberer hätte seine Stadt kaum wiedererkannt. Die Kelten nannten sie Catumagos – „Schlachtfeld“. 2025 feiert Caen sein Millennium und präsentiert sich erneut als das, was es immer war: ein Labor der Erneuerung.

 

Eine stete Brise vom Ärmelkanal streicht über die mächtigen Mauern des Château Ducal, das im Burghügel heute eine riesige Tiefgarage birgt, begrünt als Bio-Wiese mit blühenden Blumen und Sträuchern, die Insekten anlocken. Und genau hier entstand eine kleine Siedlung Catumagos, die im Jahr 1025 erstmals in den Archiven erwähnt wurde. Doch die wahre Geschichte von Caen beginnt erst mit einem Bastard, der Weltgeschichte schrieb.

 

Wilhelms Vermächtnis: Festung, Abteien und Stadtgeschichte

Um 1060 ließ Wilhelm der Eroberer das Château Ducal errichten und erwählte Caen zur Hauptstadt seines Herzogtums. Hier, auf dem zentralen Hügel über der träge fließenden Orne, entstand eine der größten Festungsanlagen Europas – ein steinerner Traum von Macht, der England erobern sollte. Die imposanten Mauern umschließen heute noch 5,5 Hektar und bergen in ihrem Inneren die Kirche Saint-Georges aus dem 12. Jahrhundert, den alten Gerichtssaal der normannischen Herzöge und mit dem Musée de Normandie und dem Musée des Beaux-Arts zwei bedeutende Museen.

 

Bronzestatue von Wilhelm dem Eroberer und Mathilde von Flandern (Copyright: Hilke Maunder)
Bronzestatue von Wilhelm dem Eroberer und Mathilde von Flandern (Copyright: Hilke Maunder)

 

Die Pierre de Caen, der helle Kalkstein aus den Brüchen vor den Toren der Stadt und Baumaterial der Burg, wurde ein Exportschlager. Dieser goldgelb leuchtende Stein schmückt den belgischen Königspalast in Brüssel, wanderte über den Kanal nach London für den Bau der Tower Bridge und des Tower of London – und reiste später über den Atlantik für die Saint Patrick’s Cathedral von New York.
Wilhelm und seine Gemahlin Matilda von Flandern, deren Liebesheirat unter Verwandten die Kirche empörte, schenkten der Stadt als Sühne zwei prächtige Abteien. 1,5 Kilometer trennen die Abbaye aux Hommes von der Abbaye aux Dames – eine architektonische Liebeserklärung in romanischem Stein, getrennt und doch ewig verbunden. Seit November 2022 reiten beide wieder vereint durch die Zeit: als filigrane Drahtskulptur vor der Église Saint-Pierre, geschaffen vom einheimischen Künstler Claude Quiesse – das erste gemeinsame Denkmal des legendären Paares nach fast 1000 Jahren.

 

Abbaye aux Dames - Innenansicht (Copyright: Hilke Maunder)
Abbaye aux Dames – Innenansicht (Copyright: Hilke Maunder)

 

Die Abbaye aux Hommes ist ein Paradebeispiel romanischer Architektur in der Normandie. Ihre robuste Steinkonstruktion mit dicken Mauern und Rundbögen überragen zwei geradezu grazile Türme aus dem 13. Jahrhundert. 1063 begann der Bau unter Wilhelms persönlicher Aufsicht. Als der Eroberer 1087 starb, war sein steinernes Vermächtnis nahezu vollendet.

Seine letzte Ruhestätte im Chor der Abteikirche zieht bis heute Besucher aus aller Welt an. Das dazugehörige Benediktinerkloster wurde während der Französischen Revolution säkularisiert und 1804 in ein Lycée umgewandelt. Seit 1960 nutzt die Stadtverwaltung die ehrwürdigen Räumlichkeiten als Rathaus.

Bei der Abbaye aux Dames von Mathilda ist die Handschrift der Architektur zarter, eleganter, mit feineren Details. In der Abteikirche Sainte-Trinité ruht die Herzogin im Chor unter schwarzem Marmor, umgeben von einer Atmosphäre, die noch heute ihre königliche Würde ausstrahlt.

 

Die Narben des 2. Weltkriegs

Auf der Place Saint-Etienne-le-Vieux, nur einen Steinwurf von der Abbaye aux Hommes entfernt, erhebt sich ein Gedenkort ganz anderer Art. Die Ruine von Saint-Étienne-le-Vieux bewahrt die Narben des Zweiten Weltkriegs wie ein steinernes Gedächtnis.

1944 war der keltische Name Catumagos erneut traurige Wahrheit geworden. Zwei Monate lang lag Caen im Sommer unter Dauerbeschuss. Britische und kanadische Truppen kämpften erbittert um jeden Meter gegen die deutschen Verteidiger.

Die Schlacht um Caen ist eines der blutigsten Kapitel der Normandie-Invasion. Mehr als 60.000 Einwohner wurden obdachlos, zwei Drittel der mittelalterlichen Altstadt versank in Trümmern. Zwei Millionen Kubikmeter Schutt türmten sich zwischen den gespenstischen Ruinen. Ganze Straßenzüge wurden  ausgelöscht, Jahrhunderte der Geschichte in wenigen Wochen vernichtet.

Nur die beiden Benediktinerabteien überstanden das Inferno nahezu unversehrt – ein Wunder, das Einheimische bis heute als göttlichen Schutz deuten. Das Château Ducal, schwer beschädigt, aber nicht zerstört, wurde von allen Bauten freigeschossen, die im Laufe der Jahrhunderte den Hügel erobert hatten. Heute liegt der Mauerring wie eine steinerne Insel im tosenden Verkehr.

 

Blick auf das Château Ducal (Copyright: Hilke Maunder)
Blick auf das Château Ducal (Copyright: Hilke Maunder)

 

Bürgermeister Yves Guillou und Architekt Marc Brillaud de Laujardière starteten 1946 den beispielhaften Neuanfang der Stadt. Das französische Staatsministerium für Wiederaufbau unter Eugène Claudius-Petit finanzierte einen kühnen Traum: nicht pure Restauration, sondern die Verschmelzung von Geschichte und Moderne. Dieses Projekt wurde, ähnlich wie bei Le Havre unter Auguste Perret, zu einem der ehrgeizigsten städtebaulichen Vorhaben der Nachkriegszeit in Frankreich.

Zunächst mussten das Gelände geräumt, Blindgänger beseitigt und Notunterkünfte errichtet werden. Dann begann die gigantische Verwandlung: Mittelalterliche Landmarken wie das Château Ducal oder die Maison des Quatrans wurden bewusst in ein zeitgenössisches städtebauliches Gefüge eingebettet. Großzügige Boulevards durchschneiden seitdem die Stadtviertel, als Lebensader der Einkaufswelten der Innenstadt verbindet die heute verkehrsberuhigte Rue Saint-Pierre schnurgerade Boutiquen und Cafés, wo sich das Leben zwischen historischen Fassaden und zeitgenössischen Glasfronten abspielt. Moderne Architektur wie die Église Saint-Julien setzt bewusst zeitgenössische Akzente. Das Ziel ist nicht die nostalgische Rekonstruktion des Verlorenen, sondern die Schaffung einer neuen urbanen Identität. Am Stadtrand dokumentiert das Mémorial de Caen auf der Esplanade Général Eisenhower die Befreiung der Normandie mit Filmen, Fotos, Archivmaterial und Multimedia-Installationen. Seit seiner Eröffnung am 6. Juni 1988 zum 44. Jahrestag der Landung in der Normandie leistet es aktive Friedensarbeit.

Bis Anfang der 1960er-Jahre prägten unzählige Baukräne die Skyline der Stadt. Eine beispiellose Synthese entstand – und machte Caen zu dem, was es heute ist: ein einzigartiges Labor der Erneuerung, in dem verschiedene Epochen nicht nur koexistieren, sondern in einen produktiven Dialog treten

 

Die trubelige Mini-Altstadt

Im Quartier du Vaugueux nordöstlich der Église Saint-Pierre pulsiert das Herz der „neuen alten Stadt“. Die mittelalterliche Altstadt von Caen besteht heute nur noch aus einem einzigen Straßenzug – doch was für einem! Die Rue du Vaugueux mit ihrem liebevoll restaurierten Fachwerk ist heute das beliebteste Ausgehviertel von Caen. Zwischen Gotik und Kopfstein sind die Nächte lang – und vibriert das Leben.

In den schmalen, teils verwinkelten Gassen haben sich trendige Cafés, Bars, kleine Galerien und Restaurants wie Horace und Le Kechmarra angesiedelt. An den Hauswänden entdeckt man Streetart-Werke zwischen mittelalterlichen Erkern und bunten Fensterläden. Studenten aus 60 Nationen treffen auf einheimische Kreative, Start-up-Gründer auf internationale Köche, Künstler auf Geschäftsleute. Das Quartier ist zu einem Schmelztiegel geworden, in dem die Grenzen zwischen Alltag, Nachtleben, Lebenskunst und künstlerischem Schaffen verschwimmen.

 

Die Place Saint-Sauveur in der Altstadt (Copyright: Hilke Maunder)
Die Place Saint-Sauveur in der Altstadt (Copyright: Hilke Maunder)

 

Die Ateliers Intermédiaires verkörpern diesen kreativen Geist perfekt. Seit 2009 engagiert sich das Kollektiv in bildenden, darstellenden und hybriden Kunstformen und versteht ihre Werkstätten an der Rue Dumont d’Urville als Plattform und Labor für Tanz und Theater, Malerei, Musik und Multimedia. Hinzu kommen Pop-up-Workshops, offene Künstlergruppen sowie Ateliers wie Le Biscuit, das als Keramik-Café regelmäßig Ateliers anbietet. Auch die Hochschule ésam Caen/Cherbourg betreibt zahlreiche offene Studios, regelmäßige Ateliers und kollaborative Projekte rund um Kunst und Grafik. Hier wird die Philosophie der Stadt greifbar: aus dem Vorhandenen etwas Neues schaffen, ohne die Wurzeln zu kappen.

Neben festen Adressen gibt es auch immer wieder temporäre Kunstaktionen. Von Streetart-Festivals bis hin zu Pop-up-Ausstellungen, kollaborativen Werkstätten und Workshops entstehen ständig neue kreative Impulse für Künstler wie Gilles Bourg, der als Heula-Postkartenstar weltberühmt wurde. Seit mehr als 40 Jahren lässt der Autodidakt aus Caen mit farbenfrohen, poppigen Darstellungen normannischer Kühe und Landschaften das „gute alte Landleben“ und das Wetter in der Normandie humoristisch aufleben.

 

Das Millennium-Fest: Eine Stadt wird zur Bühne

250 vielfältigen Veranstaltungen prägen das Jubiläumsjahr und verwandeln Caen in einen lebendigen, pulsierenden Kunstparcours. Den Auftakt bildete im März ein spektakuläres Videomapping des Kollektivs B959, das die Feierlichkeiten am Château Ducal eröffnete. Erst im Dezember endet das kulturelle Festprogramm – dann sorgen ausgefallene Lichtkunstwerke vom 10. bis 21. Dezember für ein großes Finale und tauchen die Innenstadt in ein magisches Lichtermeer.

Bis dahin verwandelt rund 50 zeitgenössische Künstler die gesamte Stadt in eine Open-Air-Galerie. Jeder Winkel wird zur Bühne, jede Fassade zur Leinwand. Licht- und Kunstinstallationen erobern öffentliche Plätze, temporäre Ateliers entstehen in leerstehenden Geschäften, Workshops bringen moderne Kreativität an Orte, wo seit Jahrhunderten Geschichte geschrieben wurde.

1000 Jahre nach der ersten Erwähnung als Catumagos ist Caen das geworden, was es immer war: ein Ort der Verwandlung. Aus dem keltischen Schlachtfeld wurde die Hauptstadt der Normandie, aus den Trümmern des Krieges ein Modell des Wiederaufbaus, aus der Universitätsstadt ein Labor der Kreativität, aus der Gedenkstätte ein Zentrum der Friedensarbeit. Das Jubiläumsjahr 2025 ist mehr als ein Blick zurück. Es ist das Versprechen einer Stadt, die sich immer wieder neu erfindet, ohne ihre Seele zu verlieren.

 

Die Autorin

Hilke Maunder
Hilke Maunder (Copyright: Lara Maunder)

Hilke Maunder, 1961 in Hamburg geboren, kam nach ihrem Anglistikstudium und Volontariat 1989 als Redakteurin zu den Lübecker Nachrichten in Mecklenburg, ging als Korrespondentin nach China, Vietnam, in Baltikum und Australien und berichtet seit 2010 aus Frankreich. 2014 wurde sie für ihre Arbeit und ihren Blog „Mein Frankreich“ mit der Médaille de Tourisme ausgezeichnet, 2023 mit dem Gutedelpreis.

 

 

This site is registered on wpml.org as a development site. Switch to a production site key to remove this banner.