Deutsch-französische Beziehungen:
„Ich war so dankbar, dass ich diese Hand ergreifen konnte.“

Deutsch-französische Beziehungen: „Ich war so dankbar, dass ich diese Hand ergreifen konnte.“
  • VeröffentlichtOktober 30, 2025
Ulrich Wickert bei der NDR Talk Show am 21. Juni 2024 in Hamburg (Copyright: Alamy)
Ulrich Wickert bei der NDR Talk Show am 21. Juni 2024 in Hamburg (Copyright: Alamy)

Ulrich Wickert gilt als „außergewöhnlicher Freund Frankreichs“. In seinem letzten Buch „Salut les amis“ erzählt er von historischen Momenten der deutsch-französischen Freundschaft und gibt Einblicke in die feinen Nuancen der bilateralen Beziehungen.

 

Andreas Noll: Herr Wickert, Sie beschreiben in Ihrem Buch „Salut les amis“ den Handschlag von Verdun-Douaumont als etwas, das bleibt: ein historisches Zeichen der Versöhnung. Wann wurde Ihnen klar, dass es sich um einen wirklich historischen Moment handelte?

 

Ulrich Wickert: Man muss sich diese Szene vorstellen: trübes, trauriges Wetter, zwei Männer stehen vor einem Sarg, geschmückt mit den Fahnen beider Länder. Bevor die Nationalhymnen gespielt werden, erklingt die Totenklage – das ist schon sehr, sehr eindrucksvoll. Jeder, der dort steht, weiß sofort, was das bedeutet. Douaumont ist ein Gräberfeld mit 130.000 Gebeinen von Deutschen und Franzosen, die in Massengräbern bestattet wurden, weil man nicht mehr unterscheiden konnte, wer wer war.

 

Noll: Wie wichtig war dieses Treffen mit François Mitterrand – und die Zusammenarbeit zwischen den beiden Staatsmännern?

 

Wickert: Es kam zu diesem Treffen in Verdun, weil Helmut Kohl im Juni 1984 nicht zu den Feierlichkeiten in der Normandie eingeladen worden war. Deutschland war damals noch geteilt – und wenn Kohl eingeladen worden wäre, hätte man auch Erich Honecker einladen müssen. François Mitterrand war ein Mensch, der in bemerkenswerter Weise historisch dachte. Es war ein ganzer Tag voller bedeutsamer Ereignisse, und der Abschluss war dieser Handschlag auf dem großen Gräberfeld. Ich habe Mitterrand später gefragt, wie es dazu kam – denn viele sagten hinterher, das sei inszeniert gewesen. Der Staatspräsident sagte daraufhin: „Ich wollte aus meiner Vereinsamung heraustreten“. Und Kohl erzählte mir später: „Ich war so dankbar, dass ich diese Hand ergreifen konnte.“

 

Gedenkplatte in Erinnerung an das Treffen Kohl-Mitterrand am 22. September 1984, Douaumont (Copyright: Wikimedia Commons)
Gedenkplatte in Erinnerung an das Treffen Kohl-Mitterrand am 22. September 1984, Douaumont (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Noll: In Ihrem Buch erwähnen Sie weitere symbolische Gesten zwischen deutschen und französischen Staatsmännern. Gerhard Schröder nahm 2004 als erster Kanzler an den Erinnerungsfeierlichkeiten zum D-Day teil, 2009 war Angela Merkel als erste Kanzlerin bei den Gedenkfeiern zum Ende des Ersten Weltkriegs dabei. Dennoch bleiben es, wie Sie schreiben, „Augenblicke, die vergehen“. Woran liegt das Ihrer Ansicht nach?

 

Wickert: Ich glaube, das ist einfach eine Frage der Gewohnheit. Interessanterweise hatte Jacques Chirac den gerade erst im Herbst 1998 gewählten Kanzler Gerhard Schröder zur Gedenkfeier zum Ende des Ersten Weltkriegs eingeladen. Schröder sagte jedoch ab – mit der Begründung, man sei dafür noch nicht bereit. Als Schröder dann 2004 an den Feierlichkeiten in der Normandie teilnahm, wurde auch das ein besonderer Moment zwischen ihm und Chirac. Solche symbolischen Gesten kehren immer wieder – später etwa, als Bundespräsident Joachim Gauck Oradour-sur-Glane besuchte, jenen Ort, den 1944 die Waffen-SS verwüstet hatte.

 

Gerhard Schröder und Jacques Chirac am 6. Juni 2004 in Caen (Copyright: Alamy)
Gerhard Schröder und Jacques Chirac am 6. Juni 2004 in Caen (Copyright: Alamy)

 

Noll: 2016, 100 Jahre nach der Schlacht von Verdun, gab es eine „Neuauflage“ dieser deutsch-französischen Treffen, diesmal mit Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron. Die Feierlichkeiten wurden auf Wunsch des französischen Präsidenten vom deutschen Regisseur Volker Schlöndorff inszeniert. In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass deutsche und französische Politiker Sie oft um Rat gefragt haben, welche Symbole man bei solchen Gelegenheiten verwenden sollte. Was denken Sie über das Thema symbolische Gesten für die heutige Politikergeneration? Sollte man darauf verzichten, oder hat sich das überlebt?

 

Wickert: Wir sind inzwischen über die Zeit der Kriege hinweg. Das Treffen zwischen Helmut Kohl und Francois Mitterrand war ein sehr wichtiger Schritt. Kleinere Schritte wie Oradour zeigen, wie wichtig es ist, dass wir uns zu den Taten bekennen, die dort begangen wurden – und deutlich machen, dass wir die Verantwortung dafür anerkennen. Aber ich glaube nicht, dass sich eine so große symbolische Geste wie die zwischen Mitterrand und Kohl noch einmal wiederholen lässt.

 

Angela Merkel und Emmanuel Macron am 10. November 2018 auf der Lichtung von Rethondes (Copyright: Alamy)
Angela Merkel und Emmanuel Macron am 10. November 2018 auf der Lichtung von Rethondes (Copyright: Alamy)

 

Noll: Es gibt aber noch eine andere Konstante in den deutsch-französischen Beziehungen: die Rede in der Sprache des anderen. Charles de Gaulle hat 1962 bei seinem Deutschlandbesuch diese Tradition „begründet“. Der damalige Dolmetscher von Konrad Adenauer erzählte mir im Interview, de Gaulle habe die Rede auswendig gelernt, weil er keine Brille tragen wollte und den Text nicht lesen konnte. Dass französische Präsidenten deutsche Worte in ihre Reden einflechten, hat seitdem Tradition. Praktisch hat jeder es versucht, aber keiner so konsequent wie Emmanuel Macron.

 

Wickert: Macrons Rede in Dresden war eine Wiederholung der Rede von September 1962 an die deutsche Jugend in Ludwigsburg. Damals sagte er den jungen Menschen: „Ihr seid die Kinder eines großen Volkes.“ Man muss es sich vorstellen: 17 Jahre nach Kriegsende war das enorm bedeutend. Macron griff diese Tradition auf und sprach ebenfalls auf Deutsch. Aber in den Beziehungen zwischen Präsidenten und Kanzlern gab es immer wieder Probleme – etwa zwischen Georges Pompidou und Willy Brandt, Jacques Chirac und Angela Merkel oder Nicolas Sarkozy und der Bundeskanzlerin. Sarkozy fand sie absolut schrecklich und machte böse Witze über sie. Einmal hat sie es mitbekommen. Macron und Scholz verstehen sich auf persönlicher Ebene gut, besonders auf literarischem Gebiet. Ich kenne niemanden, der so viel liest wie Scholz. Er kennt sogar den letzten Goncourt. Aber das Problem ist, dass Macron ein großartiger Kommunikator ist, während Scholz jemand ist, der sich alles ganz genau anhört und dann fragt: „Was bedeutet das?“

 

Noll: Der Versuch, neuer Formen der Zusammenarbeit zu erfinden, gehört ebenfalls zu den Konstanten der deutsch-französischen Beziehungen. Vor ein paar Jahren war das Thema Ministeraustausch hoch im Kurs. Es wurde einmal ausprobiert – auf beiden Seiten. Danach gab es nie wieder eine Fortsetzung. Was erlebt ein deutscher Minister bei einer französischen Kabinettssitzung?

 

Wickert: Das läuft sehr anders. Es beginnt schon damit, dass der Präsident die Kabinettssitzung leitet und man an einem großen, vornehm eingerichteten Tisch sitzt. Ich habe es einmal gesehen, als ich als Korrespondent in Paris einen Bericht über den Élysée-Palast und den Kabinettssaal gemacht habe. Dort kommen die Diener mit dem Lineal, damit der Abstand zwischen den Sitzen auf den Zentimeter genau stimmt. Das Ganze ist sehr hierarchisiert: Die Minister sitzen alle im Saal, und wenn der Präsident kommt, müssen alle aufstehen. Dann wird das Wort vom Präsidenten verteilt – ganz anders als bei uns, wo Kabinettssitzungen häufig sehr schnell ablaufen, weil vieles schon vorher besprochen wurde. Im französischen Kabinett entscheidet der Präsident, wer das Wort bekommt.

 

Verleihung des Winfried-Preises der Stadt Fulda an Ulrich Wickert, 29. September 2024 (Copyright: Wikimedia Commons)
Verleihung des Winfried-Preises der Stadt Fulda an Ulrich Wickert, 29. September 2024 (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Noll: Die Idee, dass deutsche Minister mal hineinschauen, um mehr über die französischen Befindlichkeiten zu erfahren, war an sich nicht schlecht…

 

Wickert: Ja, aber viel wichtiger sind inzwischen die Beamtenaustausche: Deutsche Diplomaten arbeiten für ein Jahr im französischen Außenministerium – und umgekehrt. Ein französischer Diplomat, der ein Jahr lang in Deutschland gearbeitet hat, versteht viel mehr über das Land als jemand, der nur Deutsch studiert hat. Genau das sind die wirklich wichtigen Dinge.

 

Noll: In Ihrem Buch erwähnen Sie mehrfach Ihren Freund Claude Martin. Er war acht Jahre französischer Botschafter in Deutschland, unter anderem während des Umzugs der Botschaft von Bonn nach Berlin. Martin hat 2023 ein Buch über die deutsch-französischen Beziehungen geschrieben. Er kritisiert, dass viele Institutionen der Freundschaft „inhaltsleer“ geworden seien. Warum?

 

Wickert: Er hat gemerkt, dass viele Dinge, die ihm wichtig waren, nicht mehr stattfanden. Damals waren die Gipfeltreffen der Regierungen oft nur noch eine Formsache. Mit Scholz wurden sie wieder zu Arbeitssitzungen umgewandelt. Macron wollte unbedingt den Aachener Vertrag – eigentlich schon ein Jahr früher –, aber die Koalitionsgespräche in Deutschland verzögerten das. Der Vertrag war aus meiner Sicht eher eine schöne Geste. Es gibt viele Dinge, bei denen ich mich frage: Wie absurd ist das? Zum Beispiel, dass der Führerschein für Gabelstapler im Nachbarland nicht anerkannt wird.

 

Noll: Sie haben vorhin das Thema Beamtenaustausch zwischen den Außenministerien erwähnt. Christoph Gottschalk war als erster Deutscher im engsten Beraterstab eines französischen Premierministers – nämlich Jean-Pierre Raffarin – mit eigenem Büro in Matignon. Ich habe damals Christoph Gottschalk zu seinen Maßnahmen befragt, damit Deutschland und Frankreich sich besser verstehen. Dazu gehörte unter anderem ein Kinobesuch: Das gesamte Kabinett hat sich damals „Lola rennt“ angeschaut. Zeigt das nicht, dass diese Verständigungsübung mittlerweile fast schon eine tragikomische Komponente hat?

 

Wickert: Das größte Problem ist, dass wir die Kultur des Nachbarn nicht wirklich kennen und Schwierigkeiten in der Kommunikation haben – selbst dann, wenn man Deutsch und Französisch beherrscht. Ein Beispiel: Wenn ein Deutscher einen Franzosen zum Wochenende einlädt, sagt der Franzose „c’est compliqué“ oder „c’est difficile“. Er will damit nicht direkt „nein“ sagen, sondern ausdrücken, dass es nicht geht. Der Deutsche hingegen reagiert mit: „Na, wo ist das Problem? Wir werden es beseitigen.“ Solche Feinheiten muss man verstehen, denn sie wirken sich nicht selten bis auf die höchste politische Ebene aus.

 

Noll: Herr Wickert, ich danke Ihnen für dieses Interview.

 

Dieses Interview ist eine gekürzte Fassung des Franko-viel-Podcastes „Folge 69 – Ulrich Wickert erklärt deutsch-französische Missverständnisse und historische Momente – Franko-viel – Der Frankreich-Podcast vom 11. Oktober 2024.

 

Der Autor

Ulrich Wickert (Copyright: Wikimedia Commons)
Ulrich Wickert (Copyright: Wikimedia Commons)

Ulrich Wickert wurde 1942 in Tokio geboren und wuchs in Japan, Heidelberg und Paris auf. Nach dem Studium der Rechts- und Politikwissenschaften in Bonn und den USA begann er 1968 seine journalistische Laufbahn beim WDR-Fernsehmagazin Monitor. Als ARD-Korrespondent in Washington, Paris und New York prägte er über viele Jahre die Auslandsberichterstattung der ARD. Besonders mit seinen Analysen und Büchern über Frankreich – darunter Frankreich, die wunderbare Illusion – gilt Wickert als profunder Kenner des Landes und seiner Gesellschaft.

Von 1991 bis 2006 war er Erster Moderator der Tagesthemen. Heute lebt er in Hamburg und arbeitet als Autor von Sachbüchern und Kriminalromanen.

 

 

 

 

 

 

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