Zeitfragen:
Der Antisemitismus ist zurück!

Zeitfragen: Der Antisemitismus ist zurück!
  • VeröffentlichtNovember 26, 2025
Marsch gegen den Antisemitismus, Paris, 12. November 2023 (Copyright: Alamy)
Marsch gegen den Antisemitismus, Paris, 12. November 2023 (Copyright: Alamy)

Seit Oktober 2023 nehmen antisemitische Übergriffe in Frankreich dramatisch zu. Neue Strömungen greifen zusammen, Hass breitet sich in Politik, Kultur und Universitäten aus – und die Demokratie steht auf dem Prüfstand.

 

2019 habe ich auf Anfrage deutscher Kollegen einen kurzen Text über den Stand des Antisemitismus in Frankreich geschrieben. Wenn ich ihn heute wieder lese, wird deutlich, wie sehr sich die Situation seitdem verschärft hat. Schon damals war die Zunahme antisemitischer Taten unübersehbar. Die offiziellen Zahlen belegen dies, auch wenn sie die Realität unterschätzen, da viele Übergriffe, Drohungen und feindselige Handlungen nicht gemeldet werden. Zwischen 1994–2004 und 2004–2013 hatte sich die Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle verdreifacht. 50 % der als rassistisch eingestuften Taten richteten sich bereits damals gegen Juden, obwohl diese weniger als 1 % der Bevölkerung ausmachten. Morde an jüdischen Menschen hatten bereits traurige und besorgniserregende Aufmerksamkeit gefunden: Von 2003 bis 2018 wurden zwölf Menschen getötet, weil sie Juden waren. Ihre Tode – teilweise unter besonders grausamen Umständen, etwa der Mord an den kleinen Mädchen der Ozar-Hatorah-Schule in Toulouse 2012 oder die dreiwöchige Folter durch die „Gang der Barbaren“ an Ilan Halimi 2006 – lösten jedoch nicht dieselbe Betroffenheit aus wie die Anschläge des Jahres 2015.

 

Historische Strömungen des Antisemitismus

Damals ließ sich eine Konvergenz dreier antisemitischer Strömungen beobachten. Die erste war der historische Antisemitismus der extremen Rechten – nationalistisch, katholisch und antirepublikanisch – dessen letzte Inkarnation Jean-Marie Le Pen darstellte. Nachdem er jahrzehntelang marginal gewesen war, hatte er sich allmählich ins Zentrum des öffentlichen Lebens vorgearbeitet. Die zweite Strömung stammte aus Teilen der muslimischen Bevölkerung, deren junge Generationen, sozialisiert in Frankreich und ausgebildet im nationalen Bildungssystem, bereits stärker antisemitische Vorurteile und Feindseligkeit zeigten als ihre Vorgänger. Schließlich entwickelte die extreme Linke nach 1968 eine Solidarität mit den Palästinensern, die zunehmend an historische linke Strömungen erinnerte, welche Juden als Kapitalisten und Kolonisatoren ablehnten, wie etwa Proudhon oder Blanqui. Seit den Anschlägen von 1972 in München auf israelische Athleten wurden die Palästinenser als universelle Opfer betrachtet.

 

Der 7. Oktober 2023 als Katalysator

Fast sieben Jahre nach dieser Analyse und zwei Jahre nach dem 7. Oktober 2023 stellt sich die Frage, wie die aktuelle Lage einzuschätzen ist. Besonders prägnant sind drei Entwicklungen: die Zunahme antisemitischer Vorfälle; die wachsende Aggressivität der extremen Linken, während antisemitische Äußerungen in der Rhetorik der extremen Rechten marginal bleiben; die anhaltende Verbreitung antisemitischer Einstellungen innerhalb muslimischer Strömungen, vor allem unter jungen Generationen; und schließlich die massive Ausbreitung solcher Tendenzen in der Kulturszene, insbesondere an Universitäten. François Rastier hat dies kürzlich analysiert und Beispiele eines neuen Obskurantismus gezeigt, der das Konzept der Universität als Ort freier Wissenssuche in Frage stellt.

Zur Veranschaulichung einige Zahlen: Bereits am 7. Oktober, noch bevor Israel überhaupt reagierte, stieg die Zahl antisemitischer Vorfälle explosionsartig – auf 563 im Oktober und 504 im November. Das waren in nur drei Monaten so viele wie in den drei vorangegangenen Jahren zusammen. Es scheint, als löse die mediale Aufmerksamkeit für Morde an Juden eine Zunahme von Übergriffen aus – ein Phänomen, das bereits 2012 nach dem Anschlag auf die Schule in Toulouse und 2015 nach dem Anschlag auf den Hypercacher zu beobachten war.

 

Das Hyper-Cacher-Geschäft, Porte de Vincennes, nach seiner Wiedereröffnung, 29. März 2015 (Copyright: Wikimedia Commons)
Das Hyper-Cacher-Geschäft, Porte de Vincennes, nach seiner Wiedereröffnung, 29. März 2015 (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Antisemitismus in Politik und Kultur

Die Führung des Rassemblement National hält sich mit antisemitischen Äußerungen zurück, während die opportunistischen Stellungnahmen von La France Insoumise darauf abzielen, die Stimmen junger Muslime aus den Banlieues zu gewinnen.

 

Marine Le Pen und Jordan Bardella beim Marsch gegen den Antisemitismus, Paris, 12. November 2023 (Copyright: Wikimedia Commons)
Marine Le Pen und Jordan Bardella beim Marsch gegen den Antisemitismus, Paris, 12. November 2023 (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Besonders auffällig ist die zunehmende Verbreitung antisemitischer Tendenzen in der Kulturszene. Laut dem Europäischen Observatorium für Online-Hass haben Angriffe auf jüdische Künstler seit Oktober 2023 um 35 % zugenommen. Boykottkampagnen, Absagen von Einladungen und das Auslassen jüdischer Co-Autorinnen und Co-Autoren in wissenschaftlichen Veröffentlichungen häufen sich. Strömungen des intersektionalen oder postfeministischen Diskurses haben den Juden zum Inbegriff des „weißen, dominanten Mannes“ gemacht – zum absoluten Feind. Jüdische Studierende verbergen aus Angst zunehmend sichtbare Zeichen ihrer jüdischen Identität.

Die meisten französischen Juden sind fassungslos. Sie sehen sich einer Reihe diffamierender Gleichsetzungen gegenüber: Juden = Zionisten = Israelis = Anhänger der Politik Netanjahus = Völkermörder. So werden Juden zu Völkermördern erklärt – und damit gelten alle gegen sie gerichteten Maßnahmen als legitim.

Doch jeder dieser Begriffe ist problematisch. „Die Juden“ sind in jeder Hinsicht vielfältig – hinsichtlich ihrer sozialen Bedingungen, ihrer politischen Überzeugungen und ihres Verhältnisses zum Judentum. Sie pauschal als „die Juden“ zu bezeichnen, bedeutet, sie zu essenzialisieren. Auch der Begriff „Zionismus“ ist problematisch: In seinem ursprünglichen Sinn, der Rückkehr der Juden ins Heilige Land, trifft er auf französische Juden nicht zu. Sie sind weder Zionisten noch Israelis (im Sinne von Staatsbürgern Israels), sondern französische Staatsbürger. Viele pflegen zwar spirituelle, emotionale oder historische Beziehungen zu Israel, doch dies ist Ausdruck der Freiheit eines jeden Bürgers.

Die Israelis selbst wiederum stehen der Politik von Premierminister Netanjahu teilweise kritisch gegenüber: Monatelang demonstrierten sie jeden Abend gegen seine Machtbefugnisse und seine Versuche, die Autorität des Obersten Gerichts einzuschränken. Heute hat der Kriegszustand die Proteste abgeschwächt, doch die Opposition bleibt stark, und ein erheblicher Teil der Bevölkerung kritisiert die Politik Netanjahus scharf – insbesondere die Mehrheit der israelischen Wissenschaftsgemeinschaft.

Auch der Begriff „Völkermord“, der in der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung bestimmte Erinnerungen wachruft, ist problematisch, wenn er auf eine Politik angewandt wird, die zwar kritisierbar und bedauerlich, aber nicht auf die Vernichtung eines Volkes ausgerichtet ist – selbst wenn sie mit Gewalt durchgesetzt wird. Die militärische Überlegenheit löst die politischen Probleme nicht und macht Israel in der aktuellen Lage auch international nicht akzeptabler.

 

Spaltung und demokratische Herausforderungen

Es ist offensichtlich, dass die französischen Juden gespalten sind – teilweise sogar in sich selbst. Kritik an der Politik des israelischen Premierministers zu üben und zugleich die Existenz Israels zu bejahen, wird nahezu unmöglich, obwohl viele genau diese Haltung teilen. Überzeugte Anhänger Netanjahus werfen Kritikern seiner Politik Antisemitismus vor, selbst wenn diese tief mit dem Judentum, seinen Traditionen und Werten verbunden sind. In dieser allgemeinen Verwirrung verlieren die Worte ihre Bedeutung, und die Leidenschaften entgleiten jeder Kontrolle. Nuancen werden abgelehnt, und die Komplexität der Lage wird ignoriert.

 

Straßenschild im Square Sainte-Odile in Paris, zum Gedenken an Myriam Monsonégo ermordet an ihrer jüdischen Schule Ozar Hatorah in Toulouse am 19. März 2012 (Copyright: Wikimedia Commons)
Straßenschild im Square Sainte-Odile in Paris, zum Gedenken an Myriam Monsonégo, ermordet an ihrer jüdischen Schule Ozar Hatorah in Toulouse am 19. März 2012 (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Die Schlussfolgerungen von 2019 bleiben dennoch gültig: Die Entwicklung des Antisemitismus, selbst unter dem Deckmantel des Antizionismus, zeugt vom Rückgang demokratischer Überzeugungen und des Respekts vor den Prinzipien und Institutionen, die die Republik tragen. Antisemitismus ist eine Konstante der europäischen Geschichte; tritt er politisch auf, wird er zu einer politischen Frage – wie unsere englischsprachigen Freunde sagen – und zeigt die Schwächung demokratischer politischer Macht sowie den Zerfall der Gesellschaft. Die Veränderungen seit 2019 sollten nicht nur Besorgnis über das Schicksal der Juden hervorrufen, sondern auch über das der Demokratie insgesamt.

 

Dieser Artikel ist eine leicht überarbeitete Version eines Beitrags, der auf der Online-Plattform unseres Partners Telos unter dem Titel „Le retour de l’antisémitisme“ veröffentlicht wurde.

 

Die Autorin

Dominique Schnapper (Copyright: Wikimedia Commons)
Dominique Schnapper (Copyright: Wikimedia Commons)

Dominique Schnapper ist eine französische Soziologin und Politikwissenschaftlerin. Sie war Mitglied des Conseil constitutionnel und lehrte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Staatssoziologie, den Bürgerrechten und der Situation von Minderheiten in Frankreich. Sie hat zahlreiche Publikationen zu Demokratie, Gesellschaft und Antisemitismus veröffentlicht. Für ihre wissenschaftliche Arbeit und ihr gesellschaftliches Engagement wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

 

This site is registered on wpml.org as a development site. Switch to a production site key to remove this banner.