Rüstung und Verteidigung:
„Große Rüstungsprojekte lassen sich mit Frankreich nicht realisieren.“

Die Bundeswehr hat vor wenigen Tagen ihr 70. Jubiläum gefeiert. Zu diesem Anlass hat dokdoc mit Sönke Neitzel über die Lage der Truppe, notwendige Reformen, deutsch-französische Großprojekte und Europas Chancen in der Verteidigungspolitik gesprochen.
dokdoc: Generalstabschef Fabien Mandon hat letzte Woche für Schlagzeilen gesorgt, als er sagte: „Wenn dieses Land einbricht, dann deshalb, weil es nicht bereit ist zu akzeptieren, dass wir unsere Kinder verlieren werden. Weil es – man muss die Dinge beim Namen nennen – nicht bereit ist, wirtschaftliche Einschnitte hinzunehmen, da die Prioritäten auf die Rüstungsproduktion gelegt werden müssen.“ Wie blicken Sie darauf?
Neitzel: Das sind sehr drastische Worte. Sie zeigen, dass der Generalstabschef sich der Verantwortung Frankreichs bewusst ist. Er erkennt auch, dass französische Soldaten möglicherweise an der NATO-Ostgrenze kämpfen müssen. Kämpfe bedeuten jedoch, dass Menschen sterben – Kriege fordern immer Menschenleben. Genau das sage ich auch hier in Deutschland: Jeden Schritt, den wir nicht sorgfältig planen, könnten wir mit dem Blut unserer Soldaten bezahlen. Insofern stimme ich mit dem französischen Generalstabschef in dieser Einschätzung vollkommen überein.
dokdoc: In seinem Buch „Zeiten ohne Wende“ kommt Christian Schweppe zu dem Schluss, dass Deutschland „trotz allem nicht wirklich sicherer geworden“ und in vielen Bereichen immer noch „wehrlos“ ist. Teilen Sie diese Einschätzung? Hat sich seit dem Machtwechsel in Berlin etwas verändert?
Neitzel: Die Dinge verändern sich gerade. Das Wichtigste ist natürlich das Geld: Deutschland verfügt inzwischen über deutlich höhere Mittel – sogar mehr als Frankreich oder Großbritannien. Doch die zentrale Frage bleibt: Woran messen wir Deutschland? Geht es darum, woher wir kommen – mit einer anderen strategischen Kultur – oder geht es darum, ob wir heute kampffähig sind?
dokdoc: Sie denken gern in großen historischen Kategorien und verweisen immer wieder auf General Gerhard von Scharnhorst, wenn es darum geht, Wege aufzuzeigen, wie Deutschland „kriegstüchtig“ werden kann. Können Sie erläutern, was Sie darunter verstehen?
Neitzel: In Deutschland zeigt sich eine andere Lage als in Frankreich: Die Bundeswehr hat 70 Jahre Frieden erlebt und nie richtig gekämpft. Es gab keinen Algerienkrieg oder andere Operationen, in denen die Streitkräfte wirklich im Kombat standen – mit Ausnahme von zwei Jahren in Afghanistan. Das war aber sehr limitiert. Diese lange Friedensperiode und die Aussetzung der Wehrpflicht haben zu einer enormen Bürokratie in der Bundeswehr geführt. Mehr als die Hälfte der Soldaten arbeitet heute nicht im Kernauftrag, sondern in Stäben, Ämtern und Behörden. Das muss dringend geändert werden. Ein historisches Beispiel zeigt, wie grundlegende Reformen gelingen können: Scharnhorst lernte während der Befreiungskriege von den Franzosen. Anfangs scheiterte er, die Armee von Grund auf neu zu strukturieren – die Niederlage bei Jena war nicht nur militärisch, sondern auch politisch einschneidend. Erst danach konnte er als Chef der Militärkommission umfassende Reformen umsetzen. Heute bleibt seine Idee relevant: Scharnhorst dachte außerhalb bestehender Strukturen und strebte grundlegende Veränderungen an, nicht nur kleine Anpassungen. Wenn wir wieder handlungsfähig sein wollen, müssen wir ebenfalls lernen, uns schnell anzupassen. Reformen dürfen nicht innerhalb des bestehenden Systems stehen bleiben – wir müssen das System selbst infrage stellen und grundlegende Veränderungen umsetzen. Bisher sind dazu weder die Bundeswehr noch die deutsche Politik bereit.

dokdoc: Im Wahlkampf versprach Friedrich Merz, aus der Bundeswehr die „stärkste konventionelle Armee Europas“ zu machen. Dafür werden nun enorme finanzielle Mittel bereitgestellt. Sind diese Investitionen aus Ihrer Sicht ausreichend?
Neitzel: Ich glaube, dass ein Verteidigungshaushalt von 3,5 % ausreichen muss. Das Problem liegt aber nicht in der Summe, sondern in der Effizienz: Ohne Reformen wird dieses Geld verschwendet. Ich fordere seit 2022 immer wieder eine grundlegende Modernisierung der Bundeswehr, und auch der Bundesrechnungshof hat dies im Mai dieses Jahres betont. Doch solche Berichte zeigen im Parlament kaum Wirkung. Politik, Kabinett und Bundestag scheinen nicht wirklich zu verstehen, worum es geht. Wir erleben eine Politik- und Verwaltungskultur, die sich durchwurschtelt und alles einfach mit Geld „zuzuschütten“ versucht. Boris Pistorius will immerhin bis Ostern einen Reformplan für die Rüstung vorlegen – doch er ist seit drei Jahren Minister. Warum erst jetzt? Und selbst dieser Plan betrifft nur einen Teilbereich: die Rüstung. Personal, Personalstruktur und Organisationskultur – Faktoren, die jede Innovation entscheidend beeinflussen – bleiben außen vor.
dokdoc: „Wer nicht europäisch kauft, bereitet die Probleme von morgen vor“, warnte Emmanuel Macron im Mai 2023 auf dem Globsec-Forum in Bratislava. Wer profitiert derzeit am stärksten von den steigenden Verteidigungsausgaben in Europa?
Neitzel: Wenn Macron von „europäisch kaufen“ spricht, meint er in Wahrheit: französisch kaufen. Frankreich verfolgt eine knallharte Interessenpolitik und verpackt diese in ein europäisches Mäntelchen. Das ist ein grundlegendes Problem, denn Frankreich sieht sich in gewisser Weise als die „USA Europas“ – und stößt damit bei vielen Partnern auf Widerstand.
Deshalb würde ich bestimmte Großprojekte unbedingt abbrechen: Es macht schlicht keinen Sinn, solche Programme gemeinsam mit Frankreich umzusetzen. Mit anderen europäischen Ländern kann Kooperation funktionieren, aber nicht in dieser Form mit Frankreich. Ein Beispiel ist der Kampfhubschrauber Tiger – ein komplettes Desaster. Dennoch hat man sich aus politischen Gründen immer wieder auf solche Projekte eingelassen. Eine Zusammenarbeit mit Frankreich mag in kleineren Bereichen möglich sein, etwa bei Raketen. Bei großen Rüstungsprojekten halte ich sie jedoch für nicht realisierbar. Frankreich will zwar unbedingt an solchen Programmen festhalten – doch in dieser Form wird es nicht funktionieren.

dokdoc: Ja aber im Kern wollte der französische Staatspräsident auf etwas anderes hinweisen.
Neitzel: Macron kann man so lesen, dass er auf ein reales Problem hinweist. Seit Jahrzehnten sprechen die Europäer davon, einen gemeinsamen europäischen Rüstungsmarkt zu schaffen – doch es passiert praktisch nichts. Einen Plan, wie das funktionieren soll, sehe ich nicht. Jeder redet von Europa, aber jeder verfolgt seine nationalen Interessen. Sinnvoll wäre es, etwas wie einen „militärischen Airbus“ zu schaffen: eine gemeinsame europäische Firma für militärische Hightech, etwa Kampfflugzeuge, die Europa gegenüber den USA konkurrenzfähig macht – so wie es im zivilen Bereich gelungen ist. Solche Pläne sind bislang jedoch nicht erkennbar.
dokdoc: In der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie von 2023 wird Deutschlands Rolle als „logistische Drehscheibe“ für die NATO herausgestrichen. Wie ist es um die zivile Infrastruktur in Deutschland bestellt?
Neitzel: Deutschlands Infrastruktur wurde über Jahrzehnte vernachlässigt. Zwar wird inzwischen viel investiert, aber diese Maßnahmen wirken erst langfristig – teilweise erst in Jahrzehnten. Müssten wir heute große Truppenmengen von West nach Ost verlegen, stießen wir auf erhebliche Probleme. Immerhin geht man das Thema an, nicht zuletzt, weil es in Europa kein militärisches Schengen gibt und Truppentransporte in manchen Ländern noch immer 45 Tage vorher angemeldet werden müssen. Daran wird jetzt gearbeitet, die Verfahren sollen beschleunigt werden. Doch der Weg bleibt weit – für Deutschland ebenso wie für ganz Europa. Das Niveau des Kalten Krieges liegt in weiter Ferne. Die Probleme sind erkannt. Aber anders als Frankreich sind wir ein föderaler Staat – mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten. Einige Bundesländer kooperieren eng mit der Bundeswehr, andere weniger; die Prioritäten divergieren. Fortschritte wird es geben, aber käme es tatsächlich zu einem Krieg, stünden wir vor großen Herausforderungen.
dokdoc: Kann Deutschland – Stand heute – seine Beistandspflicht erfüllen?
Neitzel: Ja und nein – die Frage ist immer, was genau damit gemeint ist. Natürlich verfügt Deutschland über eine Bundeswehr: acht Brigaden, Eurofighter, eine Marine – und diese Kräfte können grundsätzlich kämpfen. Entscheidend ist jedoch das Szenario. Im Falle eines plötzlichen Kriegsausbruchs wäre die Bundeswehr durchaus in der Lage, etwa die Panzergrenadierbrigade 37 an die Ostflanke zu verlegen. Diese Truppe ist ausgebildet, modern ausgerüstet und kampffähig. Gegen 5.000 russische Soldaten wäre Deutschland auch verteidigungsfähig. Selbst 100.000 Gegner wären beherrschbar – vorausgesetzt, die NATO bündelt ihre Kräfte. Gleichzeitig bestehen massive Lücken – das ist unbestreitbar. Und diese Lücken würden im Ernstfall Menschenleben kosten. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Bundeswehr ist grundsätzlich einsatzfähig – aber ihre Leistungsfähigkeit variiert stark je nach Szenario.

dokdoc: Auch die französischen Streitkräfte kämpfen derzeit mit erheblichen Mängeln und Defiziten, die aufgrund knapper Finanzen nur sehr langsam oder gar nicht behoben werden können. Was macht Sie dennoch optimistisch, wenn Sie auf Europa blicken?
Neitzel: Europa hat ein enormes Potenzial. Wir sind 500 Millionen Menschen und verfügen über große Wirtschaftskraft – und nun hängt alles von politischer Führung ab. Träfe unsere politische Elite die richtigen Entscheidungen, etwa bei einer echten europäischen Rüstungskooperation, könnte Europa enorme Stärke und Innovationskraft mobilisieren. Alle Beteiligten müssten bereit sein, etwas aufzugeben – die Deutschen, die Franzosen, die Italiener, die Briten. Nur so könnten wir vorankommen. Das Potenzial ist da. Es liegt nun an der Staatskunst, es zu heben und zur Entfaltung zu bringen.
dokdoc: Herr Neitzel, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Unser Gast

Sönke Neitzel ist Professor für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam, der derzeit einzigen Professur für Militärgeschichte in Deutschland. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Militär- und Gewaltgeschichte der Moderne, internationale Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie die Geschichte der Bundeswehr im internationalen Kontext.
