Neue Publikation:
Europas Chance im „Weltenbeben“

Neue Publikation: Europas Chance im „Weltenbeben“
  • VeröffentlichtDezember 5, 2025
Martin Kobler als UN-Sondergesandter für Libyen, 2016 (Copyright: European Union 2016 – Source: EP)
Martin Kobler als UN-Sondergesandter für Libyen, 2016 (Copyright: European Union 2016 – Source: EP)

Trump, Putin & Co. erschüttern die internationale Ordnung. Ex-Diplomat Martin Kobler zeigt, warum dieses „Weltenbeben“ Europas große Chance ist. Mut, Eigenständigkeit und Diplomatie können dem Kontinent helfen, sich als eigenständiger Akteur zu behaupten.

 

Über die aktuellen Umbrüche in der Weltpolitik gibt es inzwischen eine ganze Reihe von interessanten Analysen. Martin Koblers Buch mit dem Titel „Weltenbeben“ ragt aus mehreren Gründen heraus. Der eine ist schon im Untertitel zu erkennen: „Europas Chance auf neue Strahlkraft“. Wird denn nicht üblicherweise die angebliche Machtlosigkeit Europas beschworen, in den Bemühungen um einen Frieden in der Ukraine und im Nahen Osten, oder im Handelsstreit mit den USA? Kobler legt überzeugend dar, dass die Europäische Union in der internationalen Politik sehr wohl eine eigenständige Rolle spielen kann und soll, neben den als „Triumvirat“ bezeichneten Großmächten USA, China und Russland. Sie kann dies aber nur tun, wenn Deutschland und Frankreich eine aktive Führungsrolle übernehmen.
Koblers Buch besitzt auch deshalb einen Mehrwert, weil er die Analysen von Politikwissenschaftlern und Think Tanks ergänzt durch die Erfahrungen eines Diplomaten, der sich gleich an mehreren Brennpunkten der internationalen Politik bewährt hat, etwa als deutscher Botschafter in Ägypten, Irak und Pakistan sowie als Vertreter der UNO in Afghanistan, als Leiter der VN-Friedensmission im Ostkongo oder VN-Sondergesandter in Libyen. Seine Aussagen über die Möglichkeiten und Grenzen von Diplomatie haben auch deshalb Gewicht, weil er als Kabinettschef des früheren Außenministers Joschka Fischer außenpolitische Entscheidungsprozesse aus sehr großer Nähe beobachten konnte. Er unterliegt dabei nicht der Versuchung mancher Diplomaten-Kollegen, sich in autobiographischen Anekdoten zu verlieren, sondern er unterlegt seine Analysen mit konkreten und anschaulichen Beispielen.

Copyright: Europa Verlag
Copyright: Europa Verlag

Europas Rolle zwischen Großmächten

Koblers These: Das „Weltenbeben“ hat drei „Väter: Putin, Trump, Xi“. Alle drei verletzen die Regeln, die der Westen mit seiner liberalen, „wertebasierten Ordnung“ aufgestellt hat. Europa findet seine Rolle und Identität in der Verteidigung dieser Regeln und Werte, und darin, dass es anders ist als die Großmächte USA, Russland und China. Dies sollte sich vor allem im Verhältnis Europas zu den Staaten des globalen Südens beweisen, die die Glaubwürdigkeit des Westens anzweifeln. Kobler lenkt den Blick auf die Vereinten Nationen, deren Charta die universellen Regeln enthält und deren wichtigste Aufgabe die Wahrung des Friedens in der Welt ist. Der Krieg gegen die Ukraine hat wieder einmal gezeigt, dass der Sicherheitsrat nicht in der Lage ist, seine wichtigste Aufgabe wahrzunehmen. Interessant ist Koblers Hinweis auf die Rolle der Generalversammlung, deren Resolution „Uniting for Peace“ es ihr im Jahre 1950, mitten im Korea-Krieg, erstmals ermöglichte, Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens zu empfehlen, als der Sicherheitsrat wegen des Veto-Rechts nicht handlungsfähig war.

Der Plenarsaal im Hauptquartier der Vereinten Nationen, New York (Copyright: Wikimedia Commons)
Der Plenarsaal im Hauptquartier der Vereinten Nationen, New York (Copyright: Wikimedia Commons)

In einer solchen Situation wächst die Bedeutung der Generalversammlung, wie auch die Einberufung einer Sondersitzung am 27. Februar 2022, drei Tage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine zeigte. Die Generalversammlung forderte Russland mit 141 von 193 Stimmen auf, den Krieg zu beenden und sich aus ukrainischem Territorium zurückzuziehen. Kobler schildert die Probleme einer Reform des Sicherheitsrates und verweist zu Recht darauf, dass nicht der Westen, sondern der Süden eine stärkere Repräsentation in ihm braucht.

Nahostkonflikt und deutsche Diplomatie

Nicht nur wegen der aktuellen und heftigen öffentlichen Diskussion in Deutschland über das Verhältnis zu Israel ist das Kapitel über den israelisch-palästinensischen Konflikt von besonderem Interesse. Der Krieg in Gaza rief in Erinnerung, dass dieser Konflikt der zentrale im Nahen Osten ist. Kobler hatte in der Folge der sogenannten Oslo-Abkommen von 1993 die Aufgabe, die Deutsche Vertretung bei der palästinensischen Autonomiebehörde aufzubauen und zu leiten. Er kennt beide Seiten des Konflikts und muss zu dem Schluss kommen, dass letztlich nicht nur Palästinenser, sondern auch Israelis Ansprüche auf das Land zwischen Jordan und Mittelmeer hegen. Deshalb ist der Konflikt existenziell. Außenminister Joschka Fischer wollte damals einen europäischen Beitrag zu einer Friedenslösung, zusammen mit den USA, den Vereinten Nationen und Russland. 2002 wurde das „Nahost-Quartett“ gegründet. Europa hatte bereits 1980 mit der „Erklärung von Venedig“ der Europäischen Gemeinschaft (EG) das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser anerkannt. Die Zwei-Staaten-Lösung liegt in dieser Logik, aber heute in weiter Ferne. Kobler sieht eine mögliche Lösung darin, das Prinzip der Trennung der beiden Völker mit dem Prinzip der Kooperation zu verbinden. So kommt er jenseits der Diskussion um Zwei- oder Ein-Staaten-Lösung zum Vorschlag einer Konföderation der zwei Staaten mit offenen Grenzen und gemeinsamen Institutionen. Der Bundesregierung empfiehlt Kobler, die Rolle eines Brückenbauers zwischen Israel und der arabischen Welt zu übernehmen. So könnte Deutschland internationale Glaubwürdigkeit gewinnen.

Lehren aus Afghanistan

Die Interventionen westlicher Staaten in Afghanistan, dem Irak und Libyen, später auch in Mali, gelten heute als so eklatante Fehlschläge, dass die Ära dieser Art von Außenpolitik zumindest in Europa vorbei scheint. Kobler zieht für den deutschen Einsatz in Afghanistan eine bittere Bilanz, die sich auch an die damals beteiligten Bundesregierungen richtet. Warum wurden keine Entscheidungen getroffen, als klar wurde, dass der Einsatz in Afghanistan seine militärischen und zivilen Ziele nicht erreichen konnte? „Fachleute und Verantwortungsträger, die erkannten, dass die Mission in eine Sackgasse geraten war, dass die neuen staatlichen Strukturen fragil blieben, dass Korruption, fehlende Legitimität und lokale Machtverhältnisse alle Bemühungen untergruben, wagten es nicht, diese Wahrheiten anzusprechen.“ Es ist zu befürchten, dass diese Art von politischer Kultur weit verbreitet ist. Jeder erfahrene Diplomat ist sich dessen bewusst.

US-Außenminister John Kerry, Italiens Außenminister Paolo Gentiloni und UN-Sondergesandter für Libyen Martin Kobler in Wien, 16. Mai 2016 (Copyright: Wikimedia Commons)
US-Außenminister John Kerry, Italiens Außenminister Paolo Gentiloni und UN-Sondergesandter für Libyen Martin Kobler in Wien, 16. Mai 2016 (Copyright: Wikimedia Commons)

Im Herzen Afrikas

Schließlich führt der Leiter der VN-Friedensmission im Ostkongo den Leser in das Herz von Afrika. Kobler bezeichnet diese Aufgabe als die „größte Herausforderung meiner Laufbahn bei der UNO“. Die Einzelheiten sind packend zu lesen, seine Schlussfolgerungen von großer Aktualität. Die Enttäuschung des Westens über das Abstimmungsverhalten afrikanischer Staaten bei den Resolutionen über den Ukraine-Krieg sollte der Erkenntnis weichen, dass diese Staaten nationale Interessen haben, die respektiert werden wollen. Das hatte schon die Bewegung der Blockfreien seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts gelehrt. Afrika sieht die angestrebte Partnerschaft mit Europa noch nicht „auf Augenhöhe“ (EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen). Es nimmt wahr, dass Europa auch seine eigene Interessenpolitik in Afrika betreibt.

Martin Kobler mit einem Blauhelm der MONUSCO-Interventionsbrigade, Nord-Kivu, 28. Oktober 2013 (Copyright: Wikimedia Commons)
Martin Kobler mit einem Blauhelm der MONUSCO-Interventionsbrigade, Nord-Kivu, 28. Oktober 2013 (Copyright: Wikimedia Commons)

Europas Chancen und Strahlkraft

Kobler will „aus seinen Erinnerungen größere Zusammenhänge erkennen“. Diese Methode verschafft dem Leser einen beträchtlichen Erkenntnisgewinn über die internationale Politik. Seine Schlussfolgerungen aber für die Rolle der Diplomatie könnten missverstanden werden, gerade wenn er sie am Beispiel des Krieges gegen die Ukraine exemplifiziert: „Wir sollten unsere Kraft auch auf Diplomatie richten, auf Dialog und Gesprächskanäle, statt nur auf ein Aufrüsten“. Westliche Staatschefs haben dies wiederholt versucht, Präsident Selenskyj hat sich zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen über einen Waffenstillstand bereit erklärt, Präsident Putin aber verweigert sich einem Dialog, setzt den Krieg fort und bleibt bei seiner Forderung nach Kapitulation der Ukraine. Die westliche Doktrin im Kalten Krieg hat sich als richtig erwiesen: Abschreckung und Dialog. Diplomatie sollte in der Tat der Verantwortungsethik folgen.
Koblers Plädoyer für Europa und seine Chance in der multipolaren Welt machen seine Analyse zu einem „notwendigen“ Buch, einer Lektüre, die dringend empfohlen wird. Die „Strahlkraft“ Europas, von der Kobler spricht, besteht darin, die eigenen Werte glaubwürdig zu leben. Sie bedeutet außerdem, dass Europa vom Zuschauer zum Gestalter der internationalen Politik wird, auf die weltpolitische Bühne tritt. Das aktuelle „Weltenbeben“ gibt Europa hierzu die Chance.

 

Der Autor

Hans-Dieter Heumann (Copyright: privat)
Hans-Dieter Heumann (Copyright: privat)

Der ehemalige Botschafter Dr. Hans-Dieter Heumann war Diplomat unter anderem in Washington, Moskau und Paris und bekleidete Leitungsfunktionen im Auswärtigen Amt sowie im Verteidigungsministerium. Bis 2015 leitete er die Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Heute ist er Associate Fellow am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

 

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