Shoah:
„Wir wussten: Wenn es jetzt nicht geschieht, geht dieses Wissen verloren“

Von 1974 bis 1984 war Corinna Coulmas Claude Lanzmanns Mitarbeiterin bei der Entstehung von Shoah. Sie recherchierte, übersetzte, führte Gespräche, bereitete Begegnungen vor und bildete zusammen mit Lanzmann und Irene Steinfeldt das Herz des Projekts. 40 Jahre nach der Erstausstrahlung des Films haben wir mit ihr gesprochen.
Andreas Noll: Frau Coulmas, wie haben Sie Claude Lanzmann kennengelernt?
Corinna Coulmas: Ich habe ihn im Herbst 1973 durch reinen Zufall kennengelernt – bei einer Party bei Freunden. Ich hatte gerade Pourquoi Israël gesehen, es war das erste Mal, dass ich das Israel sah, das ich liebte. Ich hatte fast ein Jahr dort gelebt und war nach Frankreich zurückgekehrt – und dann kam dieser Mann herein. Ich dachte sofort: „Den brauche ich.“ Ich habe hebräisch mit ihm gesprochen, was er nicht kannte, er hat daraufhin sofort mein Französisch korrigiert. Zwei Tage später stand er vor meiner Tür.
Noll: Und worum ging es bei diesem Treffen?
Coulmas: Er erzählte mir: „Man hat mir gesagt, ich soll einen Film über den Holocaust machen. Ich möchte ihn auf der Höhe des Geschehens machen. Verstehst du, was ich meine?“ Ich sagte ja. Dann meinte er: „Lass alles fallen, was du gerade machst.“ Er gab mir eine große Liste von Lektüre. Danach verschwand er für vier Monate nach Jerusalem – er hatte gesagt, er käme in zwei Monaten zurück. Ich hatte keine Adresse, kein Telefon, keine Möglichkeit, ihn zu erreichen. Nach drei Monaten meinte mein Vater: „Du solltest dir vielleicht eine neue Arbeit suchen.“ Ich hatte vorher als Redakteurin bei der AFP gearbeitet, aber ich hatte, wie Claude es gewünscht hatte, alles fallen lassen und mich nur diesem Projekt gewidmet. Schließlich kam er zurück und wir begannen zu arbeiten.
Noll: Was war Ihr erster Eindruck von ihm – als Mensch, als Regisseur und als Denker?
Coulmas: Zunächst merkte man seine Intensität – die gewaltige Kraft seines Denkens und die Wahrhaftigkeit seiner Gedanken.
Noll: Welche Atmosphäre herrschte während der Recherchen und Gespräche, die Sie geführt haben?
Coulmas: Wir haben uns vier Jahre lang vorbereitet. Wenn wir zu dritt waren – Irene Steinfeldt war ebenfalls dabei, sie kam von ganz anderer Seite – hatten wir eine unglaublich intensive Zusammenarbeit. Irene und ich sind heute noch befreundet. Sie ist in Jerusalem geboren und zweisprachig Hebräisch-Deutsch. In Rehavia, ihrem Viertel in Jerusalem, sprach man hauptsächlich Deutsch, weil dort deutschstämmige Juden, sogenannte „Jecke“ lebten – auch Irenes Eltern gehörten dazu. Die Arbeit war aufreibend. In den ersten drei Jahren haben wir gelesen, resümiert und recherchiert, wie an der Universität. Ich habe lange Zeit in Deutschland die Gerichtsakten studiert, denn so konnte man auch die Leute finden. Irene war, wie gesagt, zweisprachig – Deutsch und Hebräisch – und ihr Englisch war fast ebenso gut. Ich brachte noch Italienisch dazu. Insgesamt arbeiteten wir in fünf Sprachen.
Noll: Der Impuls zu Shoah kam 1973 aus Israel. Was hat Claude Lanzmann damals an diesem Auftrag gereizt?
Coulmas: Es ging um das Schicksal eines Volkes – das er auf der Höhe des Geschehens zeigen wollte, etwas, das noch nie zuvor so gemacht worden war. Man hatte ihn darum nach Pourquoi Israël gebeten, da man begriffen hatte, dass er den richtigen Blick dafür hatte.
Noll: In seiner Autobiografie sagt Lanzmann, dass er über die Shoah eigentlich nichts wusste. Wie ging das Team damit um?
Coulmas: Wir wussten zunächst nur das, was allgemein bekannt war. Dann haben wir uns drei Jahre lang hingesetzt und unser Wissen systematisch erweitert. Die einzige Möglichkeit, die Zeugen sprechen zu lassen – ob Täter oder Opfer – bestand darin, dass wir genauso viel wussten wie sie selbst. Wir mussten die Orte, die Fakten und die Zusammenhänge kennen. Gleichzeitig war es wichtig, den Zeugen zu vermitteln: „Ich bin nicht hier, um zu richten, ich bin hier, um zuzuhören.“ Nur so konnte man sie begleiten, ihnen Raum geben und im Interview selbst zurücktreten, damit sie das Erlebte wieder aufleben lassen konnten. Der gesamte Film baut ja genau darauf auf: dem Wiedererleben von Geschichte.
Noll: Wie sah die Recherchearbeit da konkret aus und wie gingen diese Interviews konkret vonstatten?
Coulmas: Claude ging nach Polen, Irene und ich nach Deutschland, da wir deutschsprachig waren. Wir teilten die Arbeit pragmatisch nach geografischen Regionen auf. Von den unzähligen Interviews, die wir führten – gerade mit den Tätern, aber auch mit anderen – wurden wir meistens abgewiesen. Ich würde sagen, 80 bis 90 % der Versuche scheiterten. Oft kamen wir nicht einmal dazu, etwas zu erklären. Insbesondere die Frauen reagierten äußerst misstrauisch.
Noll: Haben Sie sich vorher angekündigt oder einfach geklingelt?
Coulmas: Nein, wir haben uns nicht angekündigt. Das hätte ohnehin keine Chance gehabt. Wir klingelten einfach und hofften – manchmal hat es geklappt.
Noll: Und wie haben Sie sich auf die Gespräche mit den Opfern vorbereitet?
Coulmas: Genau in der gleichen Weise. Man musste alles lesen, alles genau wissen, zu den Orten gehen, um zu verstehen, was die Menschen erlebt hatten. Man musste wissen, was sie verloren hatten, welches Trauma sie erlitten hatten, und mit großer Vorsicht an diese Gespräche herangehen.
Noll: Es heißt, dass viele Opfer unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht über ihre Erlebnisse gesprochen haben. Hatten Sie den Eindruck, dass es für viele tatsächlich das erste Mal war, über ihr Schicksal zu sprechen?
Coulmas: Ja, diesen Eindruck hatte ich. Ich erinnere mich besonders an einen unserer wichtigsten Zeugen, Richard Glazar. Wir waren damals in Basel, und ich habe einmal allein mit ihm zu Abend gegessen. Ich war noch sehr jung, etwa 24, und er sagte zu mir: „Wissen Sie, meiner Tochter, die genauso alt ist wie Sie, konnte ich nie davon erzählen.“ Ich fragte ihn: „Aber wenn sie in meinem Alter ist – warum nicht?“ Da sagte er: „Weil Sie alles wissen. Sie kennen die Orte, die Abläufe. Ich muss Ihnen nichts Grundsätzliches erklären. Und es geht über meine Kräfte, das Ganze noch einmal vollständig zu beschreiben.“ Das war entscheidend: Man konnte nur „hineinspringen“ – durch das Wissen, das wir uns angeeignet hatten, und dessen wir uns in unseren Interviews bedienten.

Claude war ein Meister der kleinen Dinge. Er fragte sehr präzise: „Dann sind Sie zehn Schritte gegangen – wohin genau führte dieser Weg?“ Er ging topografisch vor, das war seine Art. Jeder von uns hatte seine eigene Methode, an die Gespräche heranzugehen. Wichtig war immer, dem Gegenüber zu zeigen: Ich weiß, was geschehen ist. Ich kenne die Umgebung, die Abläufe. Ich bin hier, um zuzuhören, nicht um zu richten. Nur so konnte man sie behutsam einladen, zu sprechen. Für viele Opfer war dieses Sprechen eine Befreiung – und zugleich eine entsetzliche Prüfung. Zeugnis abzulegen gehört zu den wichtigsten Dingen im Judentum. Und doch mussten wir oft insistieren, auch wenn eine innere Stimme sagte: „Lass sie doch in Frieden.“ Aber wir wussten: Wenn es jetzt nicht geschieht, geht dieses Wissen verloren. Niemand wird es je erfahren.
Noll: Lanzmann sagte einmal: „Gefühle werden oft durch Gesten ausgelöst, aber umgekehrt auch: Das Ausführen einer Handlung kann Erinnerungen hervorrufen.“ Waren Sie beim Dreh der Szene mit Abraham Bomba, dem Friseur von Treblinka dabei, und wie hat diese Rekonstruktion auf Sie gewirkt?
Coulmas: Ja, ich war bei allen Drehs anwesend, außer bei Suchomel und Murmelstein, den ich aber später in Rom gut kennengelernt habe. Was Bomba betrifft, war uns seine Geschichte bis ins Detail bekannt, Claude hatte mehrere Vorinterviews mit ihm geführt, erst in den USA und dann in Israel. Seine Idee, Bomba im Friseurladen drehen zu lassen, war von ihm akzeptiert worden. Als Claude diese Idee hatte, begriffen wir alle sofort, dass das die richtige Art und Weise war, in Bomba die Geschehnisse wieder aufleben zu lassen; Bomba mitinbegriffen, der ja mehrfach kommentiert: I told you it would be very difficult. Es war also ein offenes Spiel. Vielleicht noch eine Präzisierung: Bomba wurde bei einem Herrenfriseur gedreht, weil ihm das Schneiden von Frauenköpfen nach der Shoah nicht mehr möglich war.
Noll: Claude Lanzmann hat entschieden, keine Archivbilder zu verwenden. Wie haben Sie diesen Entschluss damals erlebt? War das für Sie nachvollziehbar?
Coulmas: Das war vollständig nachvollziehbar. Archivbilder nutzen sich ab. Wenn man etwa eine Grube mit 200 Leichen sieht, wirkt das auf die Dauer weniger bestürzend, als wenn eine Person ihre Geschichte selbst erzählt. Dann merkt man: Das hätte ich sein können. Bei den abgemagerten Leichen in den Gruben kann man sehr schnell Distanz wahren – bei den persönlichen Berichten hingegen nicht.
Noll: Wie wurde aus den Recherchen und Tonaufnahmen diese filmische Erzählung?
Coulmas: Wir hatten Hunderte von Stunden Material. Am Ende dauerte es fünf Jahre, bis daraus ein Film entstand. Von vornherein war nicht festgelegt, womit man beginnen würde. Als Srebnik auf dem Fluss gedreht wurde, wusste Claude, damit würde er seinen Film beginnen. Wie er auch das Ende mit Simha Rotten und Antek wusste, nachdem er sie gesehen hatte. Alles andere war ein langsames Suchen und Aufbauen, Schritt für Schritt.
Noll: Das Jüdische Museum Berlin zeigt bis Mitte April eine Ausstellung, die die Entstehung von Shoah hörbar macht. 152 bisher unbekannte Audiokassetten sind nun öffentlich zugänglich. Welche neuen Einblicke liefert dieses Material, die im Film selbst nicht sichtbar sind?
Coulmas: Das Material ist für Historiker von ungeheurem Wert, weil viele Dinge, die wir recherchiert hatten, nicht in den Film aufgenommen wurden. Es gab zahlreiche Einschränkungen: Wir bekamen zum Beispiel kein Visum für die Sowjetunion und konnten die Einsatzgruppen daher nicht direkt thematisieren. Damit ging dieses wichtige Thema mehr oder weniger verloren. Ein weiteres Beispiel: Ich hatte ein umfangreiches Dossier über den Vatikan erstellt, das ebenfalls bedeutend für die Haltung der Welt gegenüber der Vernichtung der Juden war. Am Ende des Drehs war jedoch klar, dass wir uns auf die Vernichtung beschränken würden. Deshalb wurde in Italien nicht mehr gedreht. Ich hatte auch Primo Levi interviewt – ich habe drei Tage bei ihm in Turin verbracht und kenne genau den Ort, wo er von der Höhe seiner Treppe in den Abgrund gesprungen ist. Auch darauf mussten wir verzichten. Solche Entscheidungen mussten getroffen werden, auch wenn einzelne Figuren wie Levi eine Schlüsselrolle hätten einnehmen können.
Noll: „Ich machte zwar den Film, aber der Film machte auch mich“, hat Claude Lanzmann gesagt. Wie hat der Film Sie geprägt?
Coulmas: Stellen Sie sich vor: Zehn Jahre habe ich an Shoah gearbeitet und davor bereits zwei bis drei Jahre über die Shoah geforscht. Danach arbeitete ich noch drei bis vier Jahre mit dem Historiker Saul Friedländer. Anschließend widmete ich mich hauptsächlich der Kabbala und unterrichtete sie an der Sorbonne. Aber Shoah war die Grundlage von allem – etwas, das mich bis heute nie loslässt. Ich habe mich immer mit dem Problem von Gut und Böse beschäftigt, auch schon an der Universität. Dieses Projekt war ein entscheidender Markstein in meinem Leben.

Noll: Was bedeutet „erinnern“ im Jahr 2025 – 100 Jahre nach Lanzmanns Geburt, 80 Jahre nach Kriegsende, 40 Jahre nach diesem so einschneidenden Film – und in einer Zeit, in der Juden in Europa wieder Angst haben müssen?
Coulmas: Erinnerung ist im Judentum absolut zentral. Den Befehl „Zakhor – erinnere dich“, gibt es bereits in der Bibel. Anschließend zieht er sich durch die Jahrhunderte. Erinnerung bedeutet nicht, etwas bloß wieder hervorzuholen, sondern es lebendig zu machen und lebendig zu halten. Die Erinnerung wandelt sich und passt sich der Zeit an. Sie ist kein toter Besitz, den man bewahrt – sie ist lebendig und schafft Neues. Das muss man begreifen.
Noll: Frau Coulmas, ich danke Ihnen für dieses Interview.
Dieses Interview ist eine gekürzte Fassung des Franko-viel-Podcastes „Folge 91 – Claude Lanzmann: 100 Jahre – ‚Shoah‘ und das Erbe eines Jahrhundertfilms“ vom 16. November 2025.
Unser Gast

Corinna Coulmas wurde 1948 in Hamburg als Tochter eines griechischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. Sie wuchs in Deutschland auf und studierte in Hamburg sowie in Paris. 1971 hielt sie sich in Jerusalem auf, 1972 in Florenz, um ihre Doktorarbeit über die jüdische Gemeinde in Florenz zu verfassen. Von 1974 bis 1985 war sie Assistentin von Claude Lanzmann bei den Dreharbeiten zu Shoah. Anschließend arbeitete sie mit dem Historiker Saul Friedländer an der UCLA. Später unterrichtete sie Kabbala an der Sorbonne und arbeitet seitdem als freie Schriftstellerin. Sie veröffentlichte zahlreiche Arbeiten auf Französisch und Deutsch, darunter vornehmlich eine Anthropologie der fünf Sinne, „Métaphores des 5 sens dans l’imaginaire occidental“.
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