Jean Asselborn:
Mehr als „nur ein kleiner Luxemburger“

Der Autor Michael Merten hat eine Biografie über den langjährigen luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn verfasst. In seinem Gastbeitrag erläutert er die Vermittlerrolle, die Asselborn gemeinsam mit Jean-Claude Juncker auf EU-Ebene übernommen hat – insbesondere mit Blick auf das deutsch-französische Verhältnis.
Es ist ein grandioser Blick auf das Tal der Vaucluse mit seinen Lavendelfeldern, den das Fahrradhotel in Sault seinen Gästen von der Terrasse aus bietet. In der Ferne überragt der Mont Ventoux, ersehntes Ziel so vieler Rennradfahrer, alle anderen Berge der Region. Auch wir wollen den Giganten der Provence in Kürze bezwingen. Doch jetzt, an diesem Nachmittag Mitte August 2024, heißt es erst einmal, aus den Höhen der Provence in die Tiefen der europäischen Politik einzusteigen.
Tritt für Tritt
Wir, das sind zwei Menschen mit gemeinsamem Hobby – dem Rennradfahren – ansonsten aber sehr unterschiedlicher Prägung und Herkunft: Es sind Jean Asselborn, Luxemburger Chefdiplomat zwischen 2004 und 2023 und zeitweise der dienstälteste Außenminister der EU, und ich, ein deutscher Journalist, der seit 2019 im Großherzogtum arbeitet und für das Luxemburger Wort über internationale Politik schreibt. Doch in diesem Sommer 2024 begleite ich Jean Asselborn bei einem ungewöhnlichen Projekt: Im Jahr nach seinem Ausscheiden aus dem Amt verfasse ich seine Biografie – allerdings nicht, wie in solchen Fällen üblich, als klassisches Schreibtischprojekt. Vielmehr will ich den Politiker und Menschen Asselborn anhand seiner großen Passion vorstellen. Als Erzählgerüst für mein Buchprojekt dient daher seine Sommertour 2024, eine knapp 1.000 Kilometer lange Radreise von Schengen, jenem kleinen, aber symbolträchtigen luxemburgischen Grenzort, nach Südfrankreich. Ein strammer Ritt mit dem Höhepunkt zum Schluss: dem Erklimmen des 1.909 Meter hohen Mont Ventoux.

Rückhalt für Merkel
So führen wir auf jener Terrasse in Sault eines unserer vielen Unterwegs-Bilanzgespräche, bei dem wir auf wichtige Stationen in seinem politischen Leben eingehen. Eine der prägendsten ist der Flüchtlingssommer 2015, als Luxemburg die EU-Ratspräsidentschaft innehatte und plötzlich die Migrationspolitik mit koordinieren musste. Asselborn zählte seinerzeit zu den Unterstützern der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich gegen eine Schließung der Grenzen aussprach. Eine Kostprobe aus dem Buch: „Vielfach ist Merkel für ihre drei Worte angefeindet worden: ‚Wir schaffen das.‘“ Der Luxemburger kann das nicht nachvollziehen: „Was hätte ein normal tickender Mensch denn Anderes gesagt?“, stellt er mir eine rhetorische Frage. An jenem 31. August sei er in Paris gewesen und habe mit dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande gesprochen. „Wir waren uns beide einig: Hier hat Deutschland etwas gemacht, was dazu führt, dass das Bild, das man im 20. Jahrhundert von dem Land hatte, korrigiert wird. Voila, c’est tout“, sagt Asselborn in bestimmtem Tonfall. Man merkt ihm an, wie nahe ihm das Thema geht. Wenn die Kanzlerin anders entschieden hätte, wäre die Lage auf dem Balkan eskaliert, ist er überzeugt.

Die Migrationskrise von 2015 ist nur eine von vielen europa- und weltpolitischen Krisen, auf die Asselborn und ich in dem Werk zurückblicken. Darunter sind diplomatische Erfolge, etwa die erstmalige Aufnahme Luxemburgs in den UN-Sicherheitsrat 2013/2014, doch meist sind es tatsächlich Krisen, welche in knapp zwei Jahrzehnten das Handeln des früheren Außenministers dominierten. Auf den knapp 320 Seiten meines Buches bette ich diese Rückblicke in den Erzählrahmen der Radreise durch Frankreich mit all ihren Hindernissen und Höhepunkten ein und komme auch immer wieder auf das Privatleben Asselborns zu sprechen. Das im Herbst 2025 erschienene Buch hat mir bereits einiges an Feedback eingebracht. Darunter diese Zuschrift eines Lesers aus Gondenbrett. Er schrieb mir folgenden Hinweis: „Als Journalist werden Sie sicherlich – auch vielen anderen Persönlichkeiten aus Luxemburg und Belgien – festgestellt haben, dass die perfekte Beherrschung von mindestens 2 Sprachen ein nicht zu übersehender Vorteil bei der Kommunikation auf diplomatischer Ebene ist. Die unmittelbare Konversation ohne Zwischenschaltung von Dolmetschern schafft eher persönliche Nähe. Bei Jean Asselborn – ähnlich wie auch bei Jean-Claude Juncker – sind deutsch- und französischsprachige Amtskollegen die ersten Ansprechpartner am Rande offizieller Begegnungen gewesen. Als Ansporn für die jüngere Generation wäre dieses Herausstellen der Mehrsprachigkeit ein Ansporn zum Erlernen von Fremdsprachen, insbesondere der französischen Sprache.“
In beiden Kulturen zuhause
Womit wir bei jenem anderen weltgewandten Luxemburger angekommen sind, der seit Jahrzehnten ein viel geschätzter Ansprechpartner zahlreicher Politiker auf beiden Seiten des Rheins ist. Jean-Claude Juncker war von 1995 bis 2013 Premierminister und von 2014 bis 2019 Präsident der EU-Kommission war. Wie Asselborn und wie fast alle Spitzenpolitiker des Großherzogtums ist er auf quasi muttersprachlichem Niveau in den Sprachen Französisch und Deutsch zuhause, was ihn als Interviewpartner für die Leitmedien beider Länder prädestiniert, ihm aber auch jenen privilegierten Zugang bis in höchste Kreise verschaffte. Nicht selten waren Asselborn und Juncker Vermittler zwischen ganz unterschiedlichen politischen Kulturen, Systemen und Mentalitäten, in denen sie sich souverän bewegten.

In einem Interview für das Luxemburger Wort zum Ausscheiden Angela Merkels aus dem Kanzleramt 2021 erklärte mir der Rekord-Premier einmal: „Das deutsch-französische Verhältnis ist nicht immer von eitel Sonnenschein geprägt“, so Juncker. „Es gehört zum romanesken Narrativ, dass man die deutsch-französische Freundschaft überhöht. Aber es geht auch in den Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich um nationale Interessen; das ist normal. Aber wenn es um Europa geht, versuchen sie beide, so viele gemeinsame Schnittmengen zusammenzutragen, wie sie brauchen, um daraus den Stoff für europäische Kompromisse zu machen. Aber beide streiten über Europa – sehr oft. Und dann brauchen sie manchmal einen beide korrekt interpretierenden Übersetzer. Es kam immer wieder vor, sowohl in Luxemburg als auch später dann in Brüssel, dass beide mich baten, dem anderen doch zu erklären, was er genau meinte, als dieser bestimmte Themen ansprach. Das ist der marginale Nutzen Luxemburgs in dieser deutsch-französischen Zusammenarbeit.“
Es spricht für den Witz des jovialen Vollblutpolitikers Juncker, wenn er seinem Land einen marginalen Nutzen bescheinigt, so wie auch Asselborn in Interview immer wieder betont, dass er „nur ein kleiner Luxemburger“ sei. Dabei waren und sind die beiden Elder Statesmen mit der klaren Kante mitnichten kleine Figuren, sondern wichtige Brückenbauer – besonders dann, wenn der berühmte deutsch-französische Motor ins Stottern gerät.
Der Autor

Michael Merten, Jahrgang 1983, arbeitete schon während seines Studiums der Geschichte und der Politikwissenschaft als Journalist. Seit 2019 ist der gebürtige Trierer Redakteur beim „Luxemburger Wort“, wo er die letzten Jahre der Ära Asselborn aus nächster Nähe erlebte. Er beschäftigt sich intensiv mit internationaler Politik und schreibt vorzugsweise Reportagen und Portraits.
