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Nach der Wahl

„Stillstand können wir uns in Europa nicht leisten“

Ein Gespräch mit Sandra Weeser

Copyright: Depositphoto

12. Juli 2024

Sandra Weeser ist Mitglied des Deutschen Bundestages seit 2017 und eine glühende Fürsprecherin der deutsch-französischen Zusammenarbeit, für die sie sich auf parlamentarischer Ebene einsetzt. Mit ihr haben wir über die Parlamentswahl, das Erstarken der Extremisten und die „Kunst“, Koalitionen zu schmieden, gesprochen.

dokdoc: Frau Weeser, Sie sind Deutsch-Französin, kennen beide Seiten also sehr gut. In den vergangenen Jahren hat man immer wieder den Eindruck gehabt, Deutschland und Frankreich seien „Freunde, die sich nicht verstehen können“? Würden Sie Bruno Le Maire, der dieses Zitat 2018 geprägt hat, Recht geben?

Sandra Weeser: „Freunde, die sich nicht verstehen können“, finde ich zu stark ausgedrückt. Aber wir sind tatsächlich sehr unterschiedlich z.B. in der Kultur, wobei ich glaube, dass die Deutschen der Lebensart der Franzosen immer eine gewisse Bewunderung entgegenbringen. Aber zu behaupten, dass man nicht gut befreundet sein kann, das würde ich abstreiten – und meine Freunde in Frankreich sicherlich auch.

dokdoc: Das ist sozusagen die untere Ebene. Wie sieht es in der hohen Politik aus?

Weeser: Auf Regierungsebene bestehen schon lange enge Beziehungen. Es werden oftmals nur Scholz und Macron beleuchtet, die vom Temperament her nicht bestens zueinander passen. Aber auf Arbeits- und Regierungsebene arbeitet man sehr gut und auch geräuschlos zusammen. Und wenn man Verständnis für die andere Kultur mitbringt, dann funktioniert es noch besser. (lacht)

dokdoc: Die Wahl ist jetzt knapp eine Woche her. Empfinden Sie Erleichterung oder Ernüchterung?

Sandra Weeser in der Assemblée Nationale, 22. Januar 2023 (Copyright: Tristan Unkelbach/Maurice Kubitschek)

Weeser: Beides. Die Erleichterung ist schon da, weil der RN – anders wie in den Tagen vor der Wahl von vielen Beobachtern heraufbeschworen – die absolute Mehrheit in der AN klar verfehlt hat. Ich bin aber gleichzeitig geschockt über das Abschneiden des Nouveau Front Populaire mit LFI als stärkster Kraft und Mélenchon als führender Persönlichkeit – Mélenchon ist ganz klar antisemitisch, er ist gegen die EU und NATO. Er als Premierminister würde nicht viel Gutes für Deutschland und Europa mitbringen. Insofern ist die Hoffnung da, dass es gelingt, die anderen Parteien ohne die Ränder zusammenzubringen, von den Sozialisten hin bis zu den Republikanern, und dass man dann versucht, eine funktionsfähige Regierung auf die Beine zu stellen. Das wird eine große Herausforderung sein, denn die Franzosen sind in Koalitionen nicht so geübt, wie andere in Europa.

dokdoc: Der RN hat am 7. Juli mehr als 10 Millionen Stimmen bekommen, 3 Millionen mehr als der NFP, und landete trotzdem auf Platz 3. Marine Le Pen sagte daraufhin: „Die Flut steigt weiter. Diesmal war sie noch nicht hoch genug, aber sie wird steigen. Darum ist unser Erfolg nur verzögert“. Wie groß ist aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass der RN am Ende von der Instabilität profitiert, auf welche Frankreich zusteuert?

Weeser: Ganz gefährlich könnte es tatsächlich werden, wenn die Gesellschaft merkt, dass die Regierung, die an die Macht kommen wird, es nicht schafft, die Probleme anzugehen oder die richtigen Lehren aus der Wahl zu ziehen.

dokdoc: Emmanuel Macron ist für seine Entscheidung, das Parlament aufzulösen, vielfach kritisiert worden. Wenig später haben Sie in den sozialen Medien die Frage gestellt: „Ist Macron ein „Pyromane“ oder steckt eine Strategie hinter der Auflösung der Nationalversammlung?“ Wie stehen Sie heute dazu? Brauchte Frankreich diese Krise, um im 21. Jahrhundert anzukommen?

Weeser: Es ist natürlich schon so, dass unter dem Druck der Ereignisse Dinge möglich werden, die vorher nicht möglich waren. Wir haben das auch in Deutschland gesehen. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine und später der Großoffensive der Hamas gegen Israel hat sich bei uns im Verteidigungsbereich so viel bewegt, was vorher überhaupt nicht denkbar gewesen wäre. Und dass das gerade mit den Grünen und der SPD möglich war, grenzt nahezu an ein Wunder.

dokdoc: Wir sprachen vorhin von der möglichen Bildung einer „Koalition“ in Frankreich. Wie geht das? Was könnten Sie an der Stelle der französischen Seite empfehlen?

Weeser: Ich habe drei Koalitionsverhandlungen mitgemacht, zwei in Rheinland-Pfalz und eine auf Bundesebene. Daraus sind drei Ampel-Koalitionsverträge geworden, ein Novum in Deutschland. Man könnte z.B. sagen, man nimmt sich vier, fünf Projekte vor, wo man eine relativ große Einigkeit hat und versucht, sie nach vorne zu bringen. Das muss unbedingt versucht werden, denn Stillstand können wir uns in Europa nicht leisten.

dokdoc: Europa lebt von der deutsch-französischen Freundschaft. Wir wissen, Frankreich wird als Impulsgeber und Ideengeber eine Zeit lang wegfallen. Was passiert dann? Kann Deutschland Führung?

Weeser: Ich glaube schon, dass Bundeskanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock oder Verteidigungsminister Boris Pistorius durchaus in den Lead gehen können. Wir haben gemeinsame Projekte, die gut laufen, z.B. die deutsch-französische Initiative zur Bürokratieentlastung auf EU-Ebene, die maßgeblich von liberaler Seite angestoßen wurde. Ich sehe keinen Grund, warum man auf einmal die Bremse ziehen sollte. Ich bin auch zuversichtlich, dass es unseren beiden Ländern gelingt, die gemeinsamen Rüstungsprojekte FCAS und MGCS voranzubringen: Alles andere wäre eine Katastrophe, nicht zuletzt, weil zahlreiche Unternehmen sich langfristig darauf eingestellt haben. Ich leite die Arbeitsgruppe Außen- und Sicherheitspolitik der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung (DFPV) gemeinsam mit Sabine Thillaye: Auch sie ist wiedergewählt worden und mit ein bisschen Glück können wir in den alten Strukturen weiterarbeiten.

dokdoc: Viele Beobachter und Analysten sind der Meinung: Deutschland hat Emmanuel Macron an vielen Stellen im Stich gelassen. Teilen Sie diese Einschätzung? Hätte ein entschlosseneres Eintreten Deutschlands für die deutsch-französische Zusammenarbeit dem Präsidenten zu Hause den Rücken stärken können? Dabei denke ich nicht an öffentliche Stellungnahmen – daran hat es nicht gefehlt – sondern an konkrete Vorschläge, wie man die EU-Integration vertiefen kann.

Weeser: Ich glaube schon, dass Angela Merkel und Olaf Scholz nicht die großen Frankophilen sind und auch ich habe mir manchmal mehr gewünscht. Scholz ist aber Scholz, er ist sehr technokratisch. Seine Fischbrötchen-Offensive in Hamburg (9. Oktober 2023) war gut gemeint, aber nicht unbedingt vom Feinsten. Vielleicht fehlt uns manchmal ein bisschen Takt.

Olaf Scholz und Emmanuel Macron in Hamburg, 9. Oktober 2023 (Copyright: Imago)

dokdoc: Beim Staatsbesuch habe ich mich immer wieder gefragt, wem bzw. welchem Macron man in Deutschland zugejubelt hat…

Weeser: Ich glaube, man hat dem Europäer, dem Visionär, dem charismatischen Macron zugejubelt, demjenigen, der ganz genau weiß, wohin er Europa bringen möchte. Macron symbolisiert schon zum Teil das, was die Deutschen sich bei Scholz teilweise wünschen würden.

dokdoc: Frankreich steht vor einem Chaos-Jahr mit instabilen Regierungen, viel Drama und womöglich Neuwahlen. Welche Rolle soll die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung in diesen turbulenten Zeiten spielen? Wie stellen Sie sich die Zusammenarbeit mit RN und Insoumis-Abgeordneten vor?

Weeser: Die Gesprächskanäle offenhalten, nicht irgendwelche Lektionen erteilen, aber aus unseren Erfahrungen heraus erzählen. Die Bildung der Ampelregierung war nicht einfach und ist auch in der Umsetzung immer wieder eine Herausforderung, und genau das könnte den Franzosen nützlich sein. Und jetzt zu Ihrer zweiten Frage: Wir hatten schon in meiner Arbeitsgruppe einen Abgeordneten des RN – er ist nicht durch extremistische Äußerungen aufgefallen. Nun muss man aber schauen, denn es werden deutlich mehr sein. Aber auch das gehört zu einer Demokratie. Wenn jemand demokratisch gewählt ist, dann muss man das ertragen können, auch wenn seine Äußerungen nicht unbedingt der eigenen Meinung entsprechen. Man muss lernen miteinander umzugehen.

Die Fragen stellte Landry Charrier

Unser Gast

Sandra Weeser (Copyright: Tristan Unkelbach/Maurice Kubitschek)

Sandra Weeser, 54 Jahre alt, verheiratet, 2 Kinder, ist seit 2017 Bundestagsabgeordnete für die Freien Demokraten im Kreis Neuwied/Rheinland-Pfalz. Seit 2019 besitzt sie neben der deutschen auch die französische Staatsbürgerschaft. Als Betriebswirtin war Sandra Weeser beruflich in den USA, Frankreich und Deutschland tätig. Parallel dazu engagiert sie sich seit 2006 auf Kommunal- und Landesebene für die Liberalen. In der aktuellen Legislaturperiode ist Weeser Vorsitzende des Ausschusses für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen sowie Vorstandsmitglied der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung.

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