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Französisches Kino

Wenn sich die Zungen lösen

Martina Meister

Fanny und Lena (Copyright: Les films de Pierre)

1. Oktober 2024

Es kommt nicht oft vor, dass die deutsch-französische Freundschaft Gegenstand eines Filmes ist und dass man sich schon beim Titel an den sprachlichen und gesellschaftlichen Unterschieden der beiden Nachbarn reiben darf. „Langue étrangère“ heißt der jüngste und dritte Film der französischen Regisseurin Claire Burger, der dieses Jahr auf der Berlinale zu sehen war, in Frankreich schon angelaufen ist und Ende Oktober auch in die deutschen Kinos kommt. Wer den Originaltitel mit „Fremdsprache“ übersetzt, liegt allerdings falsch. Der deutsche Verleiher hat sich für „Tandem“ entschieden und hinterhergeschickt: „In welcher Sprache träumst Du?“

In welcher Sprache sie träume? Gute Frage. Als Fanny, 17, bei ihrer Austauschpartnerin Lena in Leipzig ankommt, träumt sie gar nicht, sondern verkriecht sich im verwaisten Kinderzimmer des chaotischen Haushalts der alleinerziehenden Gastmutter Susanne, hysterisch-brillant gespielt von Nina Hoss. Sie verbringt schlaflose Nächte, nascht im Hochbett Süßigkeiten und schaut Filme, während sich ihre Austauschpartnerin Lena auf Partys tummelt oder mit ihren politisch engagierten Freunden die Welt rettet.

„Ma correspondante ne me correspond pas“, sagt die zerbrechliche Fanny ihrer Mutter am Telefon. Auch das ein wunderbares Wortspiel und eine enorme Herausforderung für jeden Übersetzer. Lena entspricht ihr nicht, die Austauschschülerinnen tauschen sich nicht aus. Das schöne französische Wort correspondante stammt noch aus Zeiten, als man sich monatelang Briefe geschickt, eine wahre Korrespondenz geführt hat, bevor man in die Fremde fuhr. Heute ahnt man höchstens am Instagram- oder TikTok-Account der anderen, ob man sich etwas zu sagen hat.

Fanny und Lena könnten kaum unterschiedlicher sein. Deshalb will es zwischen den beiden Mädchen erstmal nicht so richtig funken. Lena lässt die sichtbar depressive und völlig unpolitische Fanny abblitzen. Bei der dünnen Kommunikation muss Google-Translate helfen: „Komm raus, es ist spät, Mama hat was zu essen gemacht.“ „Sors, il est tard, maman a préparé quelque chose à manger“, übersetzt das Handy mit der Stimme eines Automaten. In Wahrheit spricht Lena Französisch, aber wenn man die Kommunikation verweigern will, geht das besser ohne die Kenntnis der Sprache der anderen.

Lügen und Liebe

Copyright: Les films de Pierre

In „Tandem“ geht es um deutsch-französische Missverständnisse, aber auch um Annäherungen, um Lügen, um eine lesbische Liebe über sämtliche Grenzen hinweg, um Klimawandel und Demokratie und die Schwierigkeiten junger Frauen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. In Frankreich ist der Film von der Kritik als einer der schönsten dieses Herbstes gefeiert worden. Die Rollen der Mütter sind von zwei Stars besetzt: Nina Hoss und Chiara Mastroianni. Für die beiden jungen Hauptdarstellerinnen, die Französin Lilith Grasmug und die deutsche Josefa Heinsius, könnte sich „Tandem“ als Start einer großen Kino-Karriere erweisen. Mastroianni hat ihre Filmtochter respektvoll als Ferrari bezeichnet.

Halbwertszeiten von Vorurteilen

Regisseurin Claire Burger, die im lothringischen Forbach, ganz nah an der deutschen Grenze aufgewachsen ist, gibt zu Protokoll, dass sie einen Film über die Schwierigkeiten der Jugend machen wollte und über das, was junge Europäerinnen heute verbindet. Mit ihrem Film geht sie der Frage nach, wie man sich angesichts der Demokratie, die in Gefahr ist, und der Umwelt, die bereits verloren scheint, verhält: Verbuddeln, einigeln oder doch kämpfen, sich engagieren?

„Tandem“ hat zwei Schauplätze. In Leipzig beschwört Burger die DDR-Vergangenheit herauf, die Zeit der Montagsdemonstrationen und richtet den Scheinwerfer auf den erstarkten Rechtsextremismus. In Straßburg mischen sich die beiden Frauen unter die Demos gegen die französische Rentenreform und stellen fest, dass sie sich unter lauter Alten befinden und dass die Black-Block-Szene aufregender ist. Diese politische Überzeichnung mag man für etwas platt, mitunter sogar für melodramatisch halten. Sie entspricht aber der Sichtweise der jungen Protagonistinnen, die von einem Extrem ins andere fallen, die sich erst nicht mögen, dann lieben. Es ist ein Alter, da man sich nicht lange mit Feinhalten aufhält und Vorurteile eine kurze Halbwertszeit haben.

Wie die Stasi

„Tandem“ wirft auch ein Licht auf die Rolle der Mütter beim Erwachsenwerden der Kinder, wenn sexuelles, gesellschaftliches und politischen Erwachen zusammenfallen. Beide sind auf ihre Weise bemüht, aber überfordert. In Leipzig lebt Lena allein mit ihrer Mutter Susanne. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Ihr Opa provoziert sie damit, dass er die AfD wählt. Der Lebensgefährte der Mutter ist gerade mit einer jüngeren abgehauen und ausgezogen. Hoss spielt eine zerbrochene Frau, die Trost im Alkohol sucht und der es nicht mehr gelingt, den Anschein zu bewahren. Lena ist manchmal mehr Mutter als Tochter. Wenn sie die Mutter auffordert, weniger zu trinken und zu rauchen, kontert diese: „Du bist ja wie die Stasi, Du willst mich kontrollieren.“

Szene aus dem Film (Copyright: Les films de Pierre)

Spitzname Blabla

Fanny hingegen kommt aus einem Intellektuellenhaushalt, beide Eltern sind Übersetzer im EU-Parlament. Ihr Leben ist oberflächlich betrachtet so langweilig, dass sie sich zur Mythomanin entwickelt und Lügen erzählt, um die Aufmerksamkeit ihrer Mitschüler zu bekommen. Die geben ihr den Spitznamen Blabla. Es ist der Beginn eines Teufelskreises, bei dem die Hoffnung auf Anerkennung und Freundschaft mit Mobbing beantwortet wird. Ihre Mutter Antonia (Chiara Mastroianni) ist vom psychischen Leid ihrer Tochter überfordert. Auch sie glaubt ihr inzwischen nicht mehr. Schon gar nicht, wenn die Tochter den Lügen des Vaters auf die Schliche kommt, der offensichtlich fremdgeht.

Auslöser für den Film war die Corona-Pandemie, als Regisseurin Claire Burger, die auch das Drehbuch geschrieben hat, das psychische Leid junger Menschen um sich herum sah. „Ich wollte eine einfache Frage beantworten“, sagt Burger im Interview. „Was empfindet man in diesem Alter, wenn von allen Seiten Probleme auftauchen, politische Fragen, die ein Gefühl von Ohnmacht auslösen können, wo doch in diesem Moment alles mit Politik, mit Intimität, mit Familie und Kultur zusammenhängt?“

Burger hat ein einfühlendes „Porträt der europäischen Jugend“ gezeichnet, das Porträt einer verängstigten Generation, die zwischen Umweltsorge, Populismus, Rechtsruck und angesichts aufgelöster Grenzen und verschwimmender Identitäten ihren Platz in der Gesellschaft finden will. Genauer müsste man sagen: das Porträt einer Generation junger Frauen auf der Suche nach Sinn, denen die Familien keinen Beistand mehr zu leisten vermögen.

Die Mechanik der Liebe

Die Annäherung von Fanny und Lena wirkt nicht kitschig, sondern wie eine natürliche Bewegung, bei der Ablehnung in Freundschaft umschlägt, Freundschaft in Liebe. Stundenlang sitzen sie zusammen im Jacuzzi in Susannes Garten in Leipzig, der einzige Luxus, den sich die Mutter noch leistet, obwohl die Temperaturen winterlich sind. Im Wasser gerät alles in Fluss. Le nuage. Aber die Wolke. Die Wolke, aber das Volk. Der Fuß, wiederholt Fanny und man ahnt an der Art, wie sie das sagt, dass die deutsch-französische Freundschaft im Fall der jungen Frauen kein leeres Wort bleiben wird. Denn la langue ist auf Französisch nicht nur die Sprache, sondern auch die fremde Zunge, die jeder Franzose mithört. Die Vorurteile fallen, die Zungen lösen sich.

Als Fanny ihre Freundin Lena später durch das Gebäude des Europa-Parlaments in Straßburg führt, erklärt sie der Deutschen, dass die Treppe dort das deutsch-französische Paar abbilde. „Paar klingt gut“, kontert Lena, „bei uns heißt das deutsch-französische Freundschaft“. Sie hätte auch Motor sagen können, denn bei diesem ungleichen Paar gelten die Franzosen immer als die Romantiker, während die Deutschen die Rolle der pragmatischen Mechaniker innehaben. Es gehört zum Verdients dieses Films, mit diesen Klischees aufzuräumen: Es gibt ein Alter, da es völlig egal ist, ob man rechts oder links des Rheins lebt. Die Probleme sind dieselben. Die Hoffnungen auch.

Die Autorin

Martina Meister arbeitet seit über zwanzig Jahren als Korrespondentin aus Frankreich, anfangs schrieb sie vorwiegend über kulturelle, kulturpolitische und gesellschaftliche Themen, seit 2015 ist sie politische Korrespondentin von WELT & WELT AM SONNTAG. Sie hat François Duby aus dem Französischen übersetzt, das Onlinemagazin „Mad about Paris“ gegründet und ist Autorin des Buches „Filou oder glücklich mit Hund“.

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