Cocoriki:
Wes Brot ich ess, des Lied ich sing
Gibt es wohl ein Lebensmittel, das man mehr mit Frankreich und den Franzosen assoziiert als das Baguette? Schon 1979, auf meiner ersten Reise nach Frankreich fiel mir auf, dass die Leute immer ihr längliches Brot mit sich herumtrugen. Warum hatte ihr Brot eigentlich diese Form? Cocoriki wollte es nicht bei der Antwort belassen, die mir meine Eltern damals gegeben hatten und hat versucht herauszufinden, was es mit dem Baguette auf sich hat.
Mittwoch, 16. Oktober 2024, Weltbrottag: Sobald ich auf dem Heimweg die Bäckerei meines Viertels betrete, begrüßt mich Bäckerin Valérie, die mit ihrem Ehemann Jean-Paul (alle nennen ihn nur Popole) jeden im Viertel kennt, mit einem fröhlichen Bonjour Monsieur Baltique. Sie hatte mir diesen Namen vor einigen Jahren gegeben, als ich bei ihr das sogenannte „pain baltique“ gekauft habe, ein Brot aus geröstetem Roggenmehl, Weizenkleie, Weizenmehl, natürlichem Sauerteig und einer Vielzahl von Körnern. „Ihr pain baltique erinnert mich sehr an das Schwarzbrot, das wir in Deutschland haben“, hatte ich damals zu ihr gesagt. Sie hätten es auch „le germanique“ nennen können. Verwundert hatte mir Valerie geantwortet: Ein germanisches? Na, das kauft doch niemand. Das ist Brot, kein Auto, cher Monsieur! Seitdem war ich also Monsieur Baltique.
Hauptsache Norden
Seit kurzem gibt es in meinem Viertel auch noch eine andere Bäckerei. Die Besitzer des Ladens sind drei ehemalige Studenten einer Wirtschaftshochschule, die nach fünf Jahren in einer Firma ihre Arbeit hingeschmissen haben, um „etwas mit den Händen zu machen, etwas Echtes“. Sie nennen sich Boulangerie bio & créative, was sicher erklärt, warum das Brot das Dreifache kostet. Auch dort wird mein Lieblingsbrot verkauft, allerdings heißt es dort „le scandinave“, en bon allemand: das Skandinavische – manchmal auch „le nordique“, „das Nordische“, niemals aber „le germanique.“ Nach meiner Erfahrung mit Valérie outete ich mich jedoch nicht mehr als Deutscher Brotesser.
Käme in Deutschland jemand darauf, das Baguette als „das Italienische“ zu verkaufen? Unvorstellbar, Baguette und Frankreich, das gehört einfach zusammen. Und da war sie wieder die Frage meiner Kindheit: Warum haben die Franzosen eigentlich so eine besondere Form für ihr Brot gewählt? Darüber gibt es genauso viele Legenden wie es Namen für Schwarzbrot gibt.
Die mysteriöse Geburtsstunde des Baguettes
Die einen behaupten, das Baguette sei in den 1900er Jahren während des Baus der Pariser Metro erfunden worden. Zu dieser Zeit wurden Arbeitskräfte aus ganz Frankreich angeworben. Es kam häufig zu Kämpfen zwischen Arbeitern aus der Bretagne und der Auvergne, die dann schnell zu den Messern griffen, die sie zum Schneiden ihrer Brotlaibe bei sich hatten. Um Verletzungen zu verhindern, sollen die Projektleiter die Bäcker gebeten haben, ein Brot zu entwerfen, das ohne Messer gebrochen werden kann.
Die zweite Legende besagt, man verdanke das Baguette Napoleon, der zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die Bäcker beauftragt haben soll, ein Brot zu erfinden, das leichter und weniger sperrig als das traditionelle Brot ist und somit in den Taschen der Soldaten transportiert werden konnte.
Eine dritte Theorie geht auf Karl Marx zurück, der behauptet haben soll, die Bäcker seien wie „weiße Bergarbeiter“, da sie auf unmenschliche Weise die ganze Nacht hindurch schufteten. Ein Arbeiterkampf begann und so kam es 1919 zu einem Gesetz, das es den Bäckern verbot, nachts zu arbeiten. Da man aber trotzdem Brot brauchte, kam man auf folgende Idee: Man stieg von Sauerteig auf Hefe um und formte lange, dünne Stäbe, wodurch in nur 20 Minuten gebacken werden konnte.
Welche der drei Erklärungen ist wohl die richtige? Tja, wer die Wahl hat, hat die Qual.
Marie-Antoinette, Stäbchen und VGE
Die französische Geschichte ist voll von Erzählungen um Brot, wie jene über Marie-Antoinette, die dem hungernden Volk gesagt haben soll: Sie haben kein Brot? Dann sollen sie eben Kuchen essen. Eine Geschichte, von der man heute weiß, dass sie erfunden ist. Auch beim Erlernen der französischen Sprache stößt man immer wieder auf Besonderheiten, was das Wort Baguette betrifft. Schwingt ein Dirigent im Konzert seinen Taktstock, dann sprechen die Franzosen von seinem „Baguette“ und in chinesischen Restaurants versucht man mit Baguettes, Stäbchen, zu essen. Das Baguette kann sogar zum Politikum werden: So stellte François Mitterrand im Präsidentschaftswahlkampf 1981 seinem Rivalen Valéry Giscard d’Estaing die Frage, ob er den Preis für ein Baguette kenne, um dessen Abgehobenheit von den wahren Sorgen des Volkes zu zeigen. Seitdem gehört die Frage nach dem Preis für Brot oder andere Grundnahrungsmittel zu den klassischen Fragen eines Wahlkampfes.
Hoffnung auf den Grand Prix
Seit 1994 organisiert die Stadt Paris den Grand Prix de la baguette de tradition française, bei dem jedes Jahr das beste Baguette gekürt wird. Der Gewinner bekommt 4 000 Euro und wird für ein Jahr einer der offiziellen Lieferanten des Élysée Palastes: ein größeres Prestige kann man sich kaum vorstellen. Valérie und Popole nehmen jedes Jahr an diesem Wettbewerb teil, haben es bisher aber nicht auf das Siegertreppchen geschafft. Vielleicht sollten sie sich mal mit ihrem pain baltique, scandinave, nordique bzw. germanique bewerben. Meine Stimme hätten sie.
Der Autor
Der in Hessen geborene Frank Gröninger wohnt seit 1993 in Paris, wo er als Lehrer für Deutsch und interkulturelle Beziehungen unter anderem für das französische Außenministerium und Sciences Po, dem Institut für politische Wissenschaften arbeitet. 2021 erschien sein Buch „Douce Frankreich: die Abenteuer eines Deutschen in Paris“, sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, 2022 sein zweites Buch, „Dessine-moi un(e) Allemand(e)“.