Ländlicher Raum:
Im ländlichen Raum dominiert der Konformismus
Benoît Coquard befasst sich seit vielen Jahren mit der Soziologie und dem Wahlverhalten des ländlichen Raums in Nordosten Frankreichs. Für dokdoc erklärt er, welche Prozesse am Werk sind und warum der Rassemblement National dort überdurchschnittlich hohe Ergebnisse erzielt.
Die Wahlergebnisse, die der Rassemblement National (RN) in den vergangenen zehn Jahren erzielt hat, sind vor allem in den von Krisen geprägten Industrieregionen überdurchschnittlich hoch. In die von mir im Nordosten untersuchten Dörfer ziehen nur wenige Neubürger. Dort altert die Bevölkerung schneller als in den Landstrichen, die in der Nähe von Großstädten und an der Küste liegen und als besonders attraktiv gelten. Bei jeder Wahl zeigt sich eine wachsende Polarisierung zwischen letzteren – bekannt dafür, dass sie den RN ablehnen – und den ländlichen Gebieten, in denen die Partei von Marine Le Pen und Jordan Bardella bereits im ersten Wahlgang die Mehrheit erringt.
Ein Gefühl der Zugehörigkeit
Mithilfe einer ethnografischen Langzeitstudie (s. u.a.: Ceux qui restent. Faire sa vie dans les campagnes en déclin, 2019) konnte ich die Gründe für die Vorlieben der ländlichen Unterschicht detailliert freilegen. Ich konzentrierte mich dabei vor allem auf die Art, wie Menschen Freundschaften schließen oder sich bekämpfen, einander helfen oder miteinander konkurrieren. So konnte ich die Entwicklung eines kollektiven Bewusstseins nachvollziehen und dabei aufzeigen, wie das Gefühl der Zugehörigkeit und gemeinsame Interessen zur Verfestigung ihrer politischen Tendenzen führen. Während früher ein „Wirgefühl“ in der Dorfgemeinschaft zum Ausdruck kam, dominieren heute eher Sprüche wie „jetzt sind wir erstmal dran“, „nur wir“ oder „wir zuerst“, womit die enge Familie bzw. die „echten Kumpel“ gemeint sind. Solche Sprüche machen deutlich, was durch die Zerstörung ländlicher Industriearbeitsplätze auf der Strecke geblieben ist. Die ländliche Unterschicht sehnt sich einerseits zwar nach einer Zeit zurück, in der „man sich nicht in die Quere kam“ und „du einem Chef die Meinung geigen und am nächsten Tag einen neuen finden konntest“. Gleichzeitig hat sie sich an die neue Zeit angepasst, eine Zeit, in der die Konkurrenz innerhalb der Dorfgemeinschaft immer größer wird. Jobs bekommt man nur noch auf Empfehlung von Verwandten oder mit „Vitamin B“, le fameux piston. Die meisten jungen Leute gehen eine Partnerschaft ein, finden einen Job und entwickeln ihre eigenen Strategien, um sich mithilfe ihrer Kumpeltruppe (die in klarer Abgrenzung zu „den anderen“ steht) durchzuschlagen.
Stigmatisierung und Abgrenzung
In einer solchen Konstellation nimmt die Stigmatisierung derjenigen, die von der Stütze leben, immer größere Ausmaße an. Je mehr Arbeitsplätze in einem Dorf oder einem Kanton verloren gehe, desto mehr wird die Figur des Arbeitslosen zu einem abstoßenden Beispiel. Der Begriff des „Sozialfalls“ wird im Alltagsleben immer gängiger. Er richtet sich gegen Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen, die von der „Stütze“ leben; mit denen wollen die „Kumpel“ mit ihren sicheren Arbeitsplätzen und Eigentumswohnungen nichts zu tun haben. „Wer nicht arbeitet, ist nichts wert“ wurde mir immer wieder versichert. Dies ist eine der Grundursachen für die Zustimmung zu der vom RN propagierten Weltanschauung. Letzterer hat die Stigmatisierung der „Sozialhilfeempfänger“ zum Fundament seines Diskurses gemacht und sie mit der Einwanderungsproblematik verkoppelt. Nun gibt es aber oft kaum Einwanderung bzw. Menschen mit Migrationshintergrund in diesen Regionen. Das hindert viele nicht daran, sich diesen Diskurs zu eigen zu machen und in ihren lokalen Konflikten zwischen „Sozialfällen“ und „guten Menschen“ zu instrumentalisieren. Zu behaupten, man könne es mit vereinten Kräften gemeinsam schaffen, wird als naiv etikettiert: Typisch „Hab-dich-lieb Bärchis“ wurde mir immer wieder entgegnet. Damit meint man: typisch Linke! Das „jetzt sind wir erstmal dran“, das im ländlichen Raum weit verbreitet ist, erinnert in vielerlei Hinsicht an den historischen Slogan des Front National (heute Rassemblement national): Les Français d’abord (Die Franzosen zuerst).
Die Erlöserin?
Die Landbevölkerung mit Affinität zum RN sagte mir, Marine Le Pen sei „die einzige“, die es mit der Konflikthaftigkeit und der gnadenlosen Konkurrenz unserer Epoche aufnehmen könne: Letztere habe ja zu den großen sozialen Verwerfungen des 20. und 21. Jahrhunderts geführt. Die Linke nutzte dieses Konfliktpotenzial gleichermaßen in den 1970er und 1980er Jahren – als die Kommunistische Partei noch stark war. Auch sie bemühte den Diskurs des „Wir“ (die „Arbeiterklasse“) gegen „die anderen“ (die „Bosse“, „die Bourgeoisie“). Der RN verspricht nun, dass die Einwanderer, Ausländer, „Sozialfälle“ und „Von-der-Stütze-Lebenden“ noch schlechter behandelt würden, sollten sie an die Macht kommen. Sie werden dann zur sogenannten „Minderheit des Schlimmsten“ gehören, was ihnen – den Vertretern des „Wir“ – die Möglichkeit eröffnen wird, sich allein durch ihre Andersartigkeit aufzuwerten.
Lokalfürsten und Konformismus
Auch dies kennzeichnet das, was zahlreiche Arbeiter und Angestellte auf dem Lande praktizieren. Die Beobachtungstudien, die ich in den vergangenen Jahren durchgeführt habe, haben gezeigt, dass sie nicht selten Freundschaften mit Handwerkern, Kleinunternehmern und Landwirten schließen: d.h. mit „Akteuren“ des ländlichen Lebens, die – ihnen ähnlich – zwar „nur“ über einen niedrigen Bildungsabschluss verfügen, dafür aber wohlhabender sind. Was sie zusammenbringt, lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Sie teilen eine gemeinsame Abneigung gegen das Bildungswesen, Freizeitaktivitäten, gemeinsame Vorstellungen von einem „perfekten“ Familienleben, aber auch eine Vorliebe fürs Do-it-yourself. Sie bilden das ländliche ökonomische Kleinbürgertum und können durch ihre Affinität und Nähe die unteren Bevölkerungsschichten in ihren Weltanschauungen beeinflussen. Kurzum: Sie setzen sich auf der Grundlage einer gefestigten wirtschaftlichen und symbolischen Dominanz durch, und bekommen kaum Widerspruch. So mancher erzählte mir, man wage es kaum, öffentlich zu erklären, man sei nicht mit dem RN einverstanden; es bestünde die Befürchtung, von diesen „Lokalfürsten“ als „Sozialfall“ abgekanzelt zu werden. Da jeder jeden kennt, verhalte man sich konform. So wie Éric, der aus einem von einem seiner Freunde geleiteten Unternehmen ausschied. Daraufhin wurde er von vielen als arbeitsscheuer Faulenzer bezeichnet. Später sagte er mir: „Na klar bin ich rechts“, und nickte zustimmend, als der Name Marine Le Pen fiel. Seine „miserable Reputation“ ließ ihn nicht etwa politisch gegen die Arbeitgeber protestieren. Vielmehr stellte er sich aus Gründen der Respektabilität auf die „richtige Seite der Arbeiter“ und gegen die sogenannten „Von-der-Stütze-Lebenden“, die „Sozialfälle“ oder auch schon mal die „Mélenchons“. So nennt man in seiner Familie und in seinem Freundeskreis abwertend all diejenigen, die Ungleichheiten in Frage stellen und sich dem Konformismus in der eigenen Gemeinde, aber vielleicht bald auch schon in der ganzen Nation, widersetzen.
Übersetzung: Norbert Heikamp
Der Autor
Benoit Coquard ist Soziologe am Institut national de recherche pour l’agriculture, l’alimentation et l’environnement (INRAE). Seine Forschungsaktivitäten konzentrieren sich auf die ländliche Unterschicht. Für sein Buch „Ceux qui restent – Faire sa vie dans les campagnes en déclin“ (La Découverte, Paris 2019) hat Benoit Coquard fast zehn Jahre lang den Alltag von jungen Menschen auf dem Land verfolgt.