Cocoriki:
Kampf den Mikroben

Cocoriki: Kampf den Mikroben
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  • VeröffentlichtNovember 13, 2024
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Was haben Marie-Antoinette, Portugiesen und Chlorgeruch gemeinsam? Cokoriki lüftet das Geheimnis.

Paris, September 1994. Ich war auf Wohnungssuche und meine Staatsangehörigkeit sollte mir dabei helfen, denn unter allen Bewerbern hatte ich in den Augen des Vermieters einen wesentlichen Vorteil: Sie sind Deutscher, ihr seid anständige Leute! Ich bekam die Wohnung. Merci l’Allemagne! Wie das anständige Leute so tun, klopfte ich am ersten Tag an der Tür von Madame Teixeira, meiner Concierge, um mich vorzustellen. Und schon tappte ich ins Fettnäpfchen:

 

– „Bonjour Madame la concierge, je suis le nouveau locataire du quatrième“,

– „Je suis la gardienne, mon cher Monsieur“, korrigierte sie mich.

 

Erst später erfuhr ich von Freunden, dass der Begriff Concierge nicht mehr verwendet wird, da er für eine Person steht, die Klatsch verbreitet und nichts für sich behalten kann. Der politisch korrekte Begriff sei Gardienne, also Wächterin, bzw. Hausmeisterin.

 

Ein Hauch von Freibad

 

Madame Teixeira reinigte dreimal pro Woche den Eingang des Gebäudes mit einem ganz besonderen Reinigungsmittel, dessen Geruch mich sofort in meine Kindheit zurückversetzte: Es roch nach Sommer und Freibad. Frau Teixeira schien diesen Geruch zu lieben, ich hatte sogar den Eindruck, dass ein Hauch von Chlor ihrem Häuschen entwich, sobald sie die Tür öffnete. Ich ertappte mich auch dabei, wie ich an meinen Briefen schnüffelte, um herauszufinden, ob sie ebenfalls von diesem Geruch durchdrungen waren. Was war das mysteriöse Produkt von Madame Teixeira wohl? Ich sollte schnell eine Antwort auf meine Frage bekommen: Als ich nämlich bei einem meiner Studienfreunde das Bad betrat, war er wieder da, dieser Schwimmbadgeruch:

 

– „Hey, bei dir riecht es wie in einem Schwimmbad“,

– „Ja logisch, das ist eau de Javel“,

– „Was für ein eau?“,

– „Eau de Javel, Bleichmittel. Kennst du das nicht? Wie reinigt man denn bei euch in Deutschland?“,

– „Meine Mutter benutzt Essigreiniger, das ist viel umweltfreundlicher“,

– „Essig? Und die Mikroben? Gegen Mikroben gibt es nichts Besseres als eau de Javel!“.

 

Mein Kommilitone schien sich genau auszukennen und klärte mich auf: Die Geschichte beginnt mit Claude-Louis Berthollet, der mit einer Lösung aus Natriumhypochlorit ein Verfahren zum Stoffbleichen entwickelt. Er nennt es zunächst „Berthollets Waschmittel“, aber sehr bald wird das Produkt als eau de Javel bekannt, da 1777 die erste Fabrik im Dorf Javel, südwestlich von Paris, gebaut wird. Als Louis Pasteur, der Pionier der Mikrobiologie dann dessen antiseptische Eigenschaften entdeckt, wurde das eau de Javel zu einem unverzichtbaren Hygieneprodukt. Bis heute ist noch kein mikrobieller Stamm resistent gegen eau de Javel – auch nicht Covid. Das scheinen alle Franzosen zu wissen, denn als ich während der Pandemie in meinen Supermarkt ging, waren nicht nur die Regale mit Toilettenpapier und Mehl leergefegt, sondern auch die mit eau de Javel.

 

Der Kerker von Marie-Antoinette

Frank Gröninger (Copyright: Frank Gröninger)

Der Geruch wäre damit also geklärt, mein Wissensdurst war allerdings noch nicht gestillt: Warum spricht man eigentlich von Concierge und Conciergerie? War das nicht das Gefängnis, in dem Marie-Antoinette auf ihre Hinrichtung gewartet hat? Der Begriff Concierge (aus dem Lateinischen conservus, also bewahren, bewachen) geht wohl auf die Regierungszeit Philipps II. Augustus (1180-1223) zurück, der während seiner Kreuzzüge seinen königlichen Palast (die heutige Conciergerie) einem von ihm ernannten Verwalter, einem Concierge überließ. Während der Herrschaft Karls V. des Weisen (1364-1380) wurde der Ort endgültig dem Concierge anvertraut, da der König seine Residenz in den Louvre verlegt hatte. Der Concierge hatte juristische Aufgaben, war eine Art Gericht erster Instanz. Aus diesem Grund wurde dann in den unteren Teilen des Gebäudes ein Gefängnis eingerichtet, das bald den Namen Conciergerie erhielt.

 

Le code secret portugais

 

Der Berufsstand war geboren und verbreitete sich sehr schnell: Heute gibt es in fast allen Wohnhäusern in Paris einen Gardien oder eine Gardienne, die noch bis in die 1970er Jahre sehr viel Verantwortung hatte. Seit dem Jahre 1780 galt nämlich eine Verordnung, die vorschrieb, in Paris ab 22 Uhr die Türen der Häuser geschlossen zu halten. So musste man die (oder den) Concierge wecken, wollte man nächtlichen Tätigkeiten nachgehen. Sie hatte den Schlüssel und wusste somit über alles Bescheid. 1974 hatte dann Sam Karoutchi eine geniale Idee: Inspiriert von den amerikanischen Modellen der Alarmanlagen, entwarf er den sogenannten Digicode, der sich rasend schnell in Paris ausbreitete und den schlaflosen Nächten der Concierge, pardon der Gardienne, ein Ende setzte, denn der Code ersetzte den Schlüssel.

 

Kurz davor, in den 1960er Jahren, hatte eine andere Entwicklung begonnen: Zwischen 1957 und 1974 emigrierten etwa 900.000 Portugiesen nach Frankreich, um der Armut, der Salazar-Diktatur und der Einberufung in die Armee zu entkommen. Mehr als die Hälfte von ihnen ließ sich in der Pariser Region nieder und sehr viele von ihnen arbeiteten als Concierge. Man schätzt, dass heute mindestens drei Viertel der Concierges in Paris eine Verbindung zur portugiesischen Einwanderung haben

 

Neulich bemerkte ich zu meinem Erstaunen, dass meine heutige Gardienne, ebenfalls Portugiesin, kein eau de Javel zum Reinigen benutzte, sondern savon de Marseille: „C’est mieux pour l’environnement!“ Meine spontane Reaktion war der Beweis, dass ich mittlerweile total integriert hatte: „Et les microbes dans tout ça?“

 

Der Autor

 

Der in Hessen geborene Frank Gröninger wohnt seit 1993 in Paris, wo er als Lehrer für Deutsch und interkulturelle Beziehungen unter anderem für das französische Außenministerium und Sciences Po, dem Institut für politische Wissenschaften arbeitet. 2021 erschien sein Buch „Douce Frankreich: die Abenteuer eines Deutschen in Paris“, sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, 2022 sein zweites Buch, „Dessine-moi un(e) Allemand(e)“.

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