ÖPNV:
Volle Fahrt voraus

ÖPNV: Volle Fahrt voraus
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  • VeröffentlichtNovember 15, 2024
Niederflur-Tram in Orléans. Foto: Hilke Maunder

 

Frankreich hat den öffentlichen Nahverkehr als Schlüssel der transition écologique entdeckt, dem Wandel hin zu einer nachhaltigen Zukunft. Nicht nur in Städten und urbanen Räumen, sondern auch auf dem Lande und in fernen Tropengefilden ist saubere Mobilität für alle auf dem Vormarsch. Manche Pilotprojekte lassen staunen – und könnten als best practices auch Deutschland als Vorbild dienen.

 

Während in Deutschland die Kosten für den Nahverkehr jedes Jahr steigen und sich auch der Preis für das 49-Euro-Ticket um 18,4 Prozent auf 58 Euro im Jahr 2025 erhöht, subventioniert Frankreich massiv den öffentlichen Nahverkehr – und bietet sogar freie Fahrt für drei Dutzend Großstädte wie Aubagne, Calais, Douai, Gap oder Libourne. Wo überall, verrät die Übersicht des Observatoire des villes du transport gratuit.

 

Freie Fahrt für alle Bewohner gilt seit 2023 in Montpellier. Die 450 000 Einwohner-Stadt hatte zunächst freien Zugang zu den öffentlichen Verkehrsmitteln an Samstagen und Sonntagen sowie für ausgewählte Altersgruppen (unter 18 und über 65) getestet. Die Hauptstadt des südfranzösischen Départements Hérault ist derzeit die größte Metropolregion, die ein solches Modell implementiert hat, und lässt sich dies jährlich 24 Millionen Euro kosten.

 

Auf teilweise Kostenfreiheit für bestimmte Gruppen wie für Senioren, Jugendliche, oder Geringverdiener setzen auch andere Städte. Straßburg und Lille beispielsweise bieten kostenlose Fahrten für Minderjährige. Freie Fahrt nur am Wochenende gilt in Nantes – dort sind seit 2021 Busse, Straßenbahnen und Pendelbusse samstags für Besucher und Bewohner gleichermaßen kostenlos. Erforderlich ist jedoch nach wie vor ein Fahrschein, der beim Ein- und Umsteigen entwertet werden muss. Und sind die Smogwerte in Paris wieder einmal zu hoch, gibt es ein Umwelt-Tagesticket für 3,90 Euro für alle Verkehrsmittel, Linien und Zonen, um den Umstieg vom Auto auf den ÖPNV zu fördern.

 

Kostenlose City-Shuttles

 

Die kostenlose Navette von Limoges (Copyright: Hilke Maunder)

Sehr beliebt sind in Frankreich die kostenlosen City-Shuttles, die in den Innenstädten von Caen, Colmar, Limoges, Rennes oder Toulouse im engen Takt emissionsfrei durch die Innenstädte sausen. Ein einfacher Wink mit der Hand genügt, und schon hält die navette.

Zu den Vorreitern einer nachhaltigen, preiswerten Mobilität auch im ländlichen Raum gehört die Region Okzitanien. Im dortigen Département Pyrénées-Orientales ist seit 2012 der bus à 1 euro unterwegs und fährt von der Präfektur Perpignan auch winzige Orte mit weniger als 30 Einwohnern an. Seit 2022 gibt es zudem die ersten grenzüberschreitenden Ein-Euro-Busse in den Pyrénées-Orientales. Sie verkehren zwischen Formiguères und Puigcerdà, Le Boulou und Figueres sowie zwischen Camprodon und Prats-de-Mollo und verbinden so die Nord- mit den Südkatalanen.

Seit Ende 2022 rollt in ganz Okzitanien der Train à 1 Euro. Am ersten Wochenende im Monat können Einheimische und Touristen gleichermaßen zum symbolischen Preis von einem Euro die 21 TER-Regionalzuglinien der Region nutzen. Einzig im Juli und August gilt dieses Angebot nicht. Dann lockt die Occitanie Rail Tour. Der Pass war der Sommerhit 2024, kostete pro Person 10 Euro pro Tag und gestattete unbegrenztes Reisen an zwei bis sechs aufeinanderfolgenden Tagen. Für zwei Euro Aufschlag konnten auch alle liO-Busverbindungen genutzt werden. Das Angebot war so erfolgreich, dass es auch 2025 laufen soll. Laut Jean-Pierre Farandou, Vorstandsvorsitzender der SNCF, gehören die Regionalzüge in Okzitanien zu den preiswertesten in ganz Frankreich – auch, weil Okzitanien als einzige Region im Land die Tarife für Regionalzüge seit 2018 nicht erhöht hat.

Den Umstieg auf die Schiene erleichtern in Okzitanien auch andere Angebote. Für 18- bis 26-Jährige ist die Fahrt kostenlos mit dem Angebot + = 0. Der Sozialtarif SolidariO‘ umfasst 20 kostenlose Fahrten, die sechs Monate lang gültig sind. Für Senioren über 60 Jahre gibt es zudem ermäßigte Tarife. 

Zur smart mobility gehört auch der Verzicht auf Papiertickets. Adieu, les carnets, heißt es in Paris zum 1.1.2025. Online-Tickets und Mobilitäts-Apps wie Bonjour RATP ersetzen schon heute immer häufiger die Ticketheftchen. Tschüss heißt es auch für die bisherigen fünf Tarifzonen. Ab dem 2. Januar 2025 wird es ein einheitliches Ticket für 2,50 Euro geben, das für Métro, RER und Regionalzüge in der gesamten Region Île-de-France gilt.

 

10 neue S-Bahn-Netze

In Ergänzung zum TER-Lokalzugnetz soll das RER-Netz massiv ausgebaut werden.  Das Réseau Express Régional (RER) ähnelt dem S-Bahn-Netz und gibt es seit den 1960er-Jahren bislang nur in der Île-de-France, wo Züge in hoher Taktung die Vororte an das Zentrum von Paris anschließen. Ende November 2022 verkündete Staatschef Emmanuel Macron, der Staat werde zehn neue S-Bahn-Netze außerhalb von Paris einrichten. Als zweite französische Stadt weihte Straßburg am 12. Dezember 2022 sein S-Bahnnetz mit sechs Linien ein, die im Halbstundentakt verkehren. Im Berufsverkehr ist die Taktzeit auf 15 Minuten reduziert. Neun weitere S-Bahn-Netze sind in den Metropolen Lyon, Marseille-Aix, Lille, Toulouse, Bordeaux, Nizza, Nantes, Toulon und Douai-Lens geplant. Doch kein Vorhaben im öffentlichen Nahverkehr ist so gigantisch wie der Grand Paris Express (GPE). Nach Lille (1983), Toulouse (1993), Rennes (2002) und Lyon (1991, 2021) ist Paris die nächste französische Großstadt, die mit dem VAL (Véhicule Automatique Léger) eine führerlose U-Bahn erhält. Das größte Infrastrukturprojekt Europas ist eng mit der Stadtentwicklung verknüpft. Entlang der neuen Linien sind zahlreiche Wohn- und Geschäftsprojekte geplant. 35,6 Milliarden Euro investiert Frankreich in die neue Pariser Supermetro, deren Netz sich als Ring um die Kapitale legt und damit unnötige Fahrten durch das Zentrum vermeidet. Baustart war 2015, 2030 soll alles vollendet sein – und das Netz der Supermétro automatique régional rund 200 Kilometer Gleisstrecke, 68 Bahnhöfe und sieben technische Zentralen umfassen. Sein Rückgrat bildet sechs Linien. Die führerlose Linie 14, die als Teil des Grand Paris Express erweitert wird, war bereits 1998 die erste vollautomatische Métro-Linie in Paris. Hinzu kommen die Linie 11 sowie die vier neuen Linien 15 bis 18.  Der GPE bindet auch die Flughäfen Orly und Roissy-Charles de Gaulle noch enger an Paris an.

Der Bus-Tram-Zwitter in Nancy (Copyright: Hilke Maunder)

Eine ungeahnte Renaissance erlebt seit Mitte der 1980er-Jahre die Straßenbahn, die in der Nachkriegszeit aus dem Stadtbild verschwunden war. Rund drei Dutzend Städte, darunter auch Toulouse, Nizza und Tours, haben sie wieder neu belebt. Über die Gleise saust der Bestseller des Herstellers Alstom: das Modell Citadis. Eine ungewöhnliche Tram besitzt Nancy. Dort ist der Bus ein Zwitter (Guided Light Transit System) und steigt auf steilen Strecken der Stadt auf die Schiene um.

 

Seefahrt in der City

Eine Renaissance erleben auch Flussfähren Seit 2016 schippern in Bordeaux Hybrid-Flusspendelboote als Katamarane die Garonne auf und ab. 45 Passagiere und sechs Fahrräder können auf jedem Törn mitreisen. Wann das nächste Schiff den Anleger erreicht, verraten digitale Anzeigetafeln. Die Fährverbindungen (navettes fluviales) auf der Garonne sind integriert in das Netz von Transports de Bordeaux Métropole (TBM) und himmlisch günstig – besonders mit einem Tagesticket oder dem Bordeaux City Pass. Der Minicruise mit dem BAT3 führt vorbei an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt, garniert mit frischer Brise und Ausblicken auf Stätten, die man sonst nicht entdecken würde.

In Nantes lässt sich ähnliches auf der Loire und der Erdre erleben – der Navibus Loire N1 verbindet alle 20 Minuten Trentemoult am Südufer mit der Gare Maritime am Nordufer, der Navibus Loire N2 die Trendviertel Bas-Chantenay und Île de Nantes, der  Navibus Passeur de l’Erdre Port-Boyer mit Petit-Port Facultés. Weitere Linien sind geplant.

 

Ab in die Luft

Besonders nachhaltige Verkehrsträger sind Seilbahnen. Sie funktionieren zu 100% elektrisch, setzen daher kein CO2 frei, sind im Betrieb sehr leise und versiegeln mit ihren Pylonen und Bauten nur sehr wenig Bodenfläche. Zudem sind die Betriebskosten drei- bis viermal niedriger als bei der Straßenbahn. Bereits 1934 weihte Grenoble die erste innerstädtische Seilbahn Frankreichs ein. Doch erst 1976 erhielt sie ihre berühmten Gondeln. In nur fünf Minuten schweben die runden bulles aus dem Zentrum hinauf zu den Befestigungsanlagen der Bastille in 500 Metern Höhe.

2016 lockerte Frankreich für die Verkehrswende ein Gesetz aus dem Jahr 1941, das die Überquerung von Wohngebäuden mit Gondelbahnen untersagte. Noch im selben Jahr installierte die bretonische Hafenstadt Brest eine Seilbahn über den Penfeld-Fluss. Sie bindet seitdem die Stadtviertel Siam und Les Capucins ans Zentrum an, die zuvor vom Rest der Stadt abgeschnitten waren. 2021 wollte Toulouse seine städtische Seilbahn als Nummer drei einweihen.

Die Gare routière von Le Chaudron ist zugleich Startpunkt der Seilbahn von Saint-Denis, Île de la Réunion (Copyright: Hilke Maunder)
Doch Saint-Denis, die Hauptstadt des französischen Übersee-Départements Île de la Réunion, war schneller. Im Dezember 2021 weihte die Tropen-Kapitale Frankreichs erste urbane Insel-Seilbahn ein. 26 Masten bis zu 40 Meter hoch halten das Tragseil für die 2,7 Kilometer lange Strecke. Zwischen den fünf Stationen verkehren 46 Kabinen – alle 34 Sekunden eine Kabine! Den 45 Millionen Euro-Bau bezuschussten die Europäische Union und der Regionalrat mit insgesamt 15 Millionen Euro.Toulouse, Ajaccio, Nizza und Créteil: Immer mehr französische Städte setzen auf Seilbahnen. Nur in Lyon gab es keinen Rückhalt für luftige Projekte. Dort gab Sytral Mobilités am 10. Mai 2022 bekannt, dass die geplante Seilbahn von Lyon nach Francheville nicht gebaut werden wird. Schuld daran war der massive Widerstand der Bürger. Ähnliches hatte Hamburg bereits 2014 erlebt: Dort hatten die Wahlberechtigten des Bezirks Mitte eine Seilbahn über die Elbe in einem Bürgerentscheid abgelehnt.

 

 

 

 

 

 

Die Autorin

Hilke Maunder, 1961 in Hamburg geboren, kam nach ihrem Anglistikstudium und Volontariat 1989 als Redakteurin zu den Lübecker Nachrichten in Mecklenburg, ging als Korrespondentin nach China, Vietnam, ins Baltikum und Australien und berichtet seit 2010 aus Frankreich. 2014 wurde sie für ihre Arbeit und ihren Blog „Mein Frankreich“ mit der Médaille de Tourisme ausgezeichnet, 2023 mit dem Gutedelpreis.

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