Cocoriki:
Alle Jahre wieder…
Wie heißt der aktuelle Innenminister? In welchem Jahr konnten Frauen in Frankreich zum ersten Mal vom Wahlrecht Gebrauch machen? Was haben diese Fragen wohl mit einer Fernsehsendung zu tun, die jedes Jahr im Dezember Millionen Zuschauer vor den Bildschirm lockt? Cocoriki nimmt Sie mit, in eine Welt von beauté, élégance et scandales.
Im Dezember 1994 – ich war gerade mal ein Jahr in Frankreich – bekam ich von Freunden eine Einladung zu einem Fernsehabend der besonderen Art: „C’est notre tour d’organiser la soirée Miss France, on t’attend samedi à 20h.“ Hatte ich richtig verstanden? Ein Miss-France-Abend? Natürlich sagte ich zu.
Am besagten Abend um 21 Uhr war es dann so weit: Die Gastgeber und zehn weitere Gäste saßen um den Fernsehbildschirm als die Sendung begann, eine Mischung aus Revue-show à la Kessel voll Buntes und Germanys Next Topmodel. Nur wurde diese Sendung weder von Heidi Klum noch Gunther Emmerlich moderiert, sondern vom bekannten Fernsehmoderatoren Julien Lepers. Nach einer kurzen Begrüßung zoomte die Kamera auf die Showtreppe. Dort erschien eine Frau in einem hochgeschlossenen, eng taillierten dunkelblauen Kleid und einem weißen Hut. „Ah voilà Geneviève“…rief mein Gastgeber und erklärte: „Geneviève, pardon, Madame Geneviève de Fontenay (auch „la dame au chapeau“ genannt) ist DIE Ikone des Miss France Schönheitswettbewerbs.“
Eine bessere Welt? Frauen an die Macht!
Die Sendung ist streng durchchoreographiert: Die Bewerberinnen, alle Miss ihrer Region, werden vorgestellt und treten in Trachten, im Badeanzug und dann im Abendkleid auf. Das genügt aber nicht, um zu gewinnen, denn eine Miss France repräsentiert ja schließlich Frankreich, sie darf also nicht nur schön sein, sie muss sich auch gut ausdrücken können! Und so erwartet man mit Spannung die Antworten der Miss auf Fragen wie diese: Wie könnte man die Welt verbessern? Was würden Sie in dieser Welt ändern? Was wünschen Sie sich für die Menschheit?
Das läuft nicht immer so, wie es sollte. Einige vergessen ihren Text, andere stottern. Die Welt der Miss ist gnadenlos, denn das Publikum zittert zwar mit den Kandidatinnen, verspottet sie aber auch. Dann stimmen die Jury und die Zuschauer zu je 50% ab, um unter den 15 vorausgewählten Kandidatinnen die 5 Finalistinnen zu wählen. Um unter die letzten 15 zu kommen, hatten sie vor der Sendung die letzte Hürde genommen und Fragen zur Allgemeinbildung beantwortet, sie wussten also, wer der aktuelle Innenminister ist und wann die Frauen in Frankreich das Wahlrecht erhielten. Am Ende liegt die Macht in den Händen des Publikums, denn das Votum der Zuschauer entscheidet, wer die Krone bekommt.
An meinem ersten Miss Abend gewann Mélody Vilbert, Miss Aquitaine. Für die Miss beginnt dann ein Jahr voller Galas, Empfänge und TV-Shows und oft ist dieser Titel ein Sprungbrett für die weitere Karriere: Viele unter ihnen sind heute Fernsehmoderatorinnen oder Radiosprecherinnen.
Et la „dame au chapeau“?
Alles begann im Jahre 1952: Geneviève Suzanne Marie-Thérèse Mulmann verliebte sich in den Erfinder des Miss France Schönheitswettbewerbs Louis Poirot, der sich Louis de Fontenay nannte (sein Pseudonym in der Résistance). Nach seinem Tod im Jahre 1981 übernahm sie die Leitung des Miss France-Komitees und machte mit Hilfe ihres Sohnes daraus ein erfolgreiches Unternehmen: Am 31. Dezember 1986 wurde Miss France zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt. Doch auch Madame de Fontenay ist nicht allmächtig. Kaum war Miss France an die Produktionsfirma Endemol verkauft, da kam es auch schon zu Streitigkeiten zwischen „la dame au chapeau“ und den neuen Produzenten. 2010 entschloss sie sich schließlich, zu kündigen und gründete dann 2011 eine neue Misswahl-Firma unter dem Namen „Miss Nationale“. Es war der Anfang einer Schlammschlacht in der Klatschpresse.
Zudem war „Miss Nationale” eine bereits eingetragene Marke und Geneviève war gezwungen, auf einen anderen Titel auszuweichen: Miss Prestige National. Rien ne va plus und so gab die mittlerweile 83-jährige im Januar 2016 ihren offiziellen Rückzug bekannt. Sie stirbt im Jahre 2023, es ist das Ende einer Ära.
Miss France im Wandel der Zeit
Einige betrachten diesen Schönheitswettbewerb als ein Relikt aus der Vergangenheit, für andere spiegelt die Sendung die Veränderungen in der französischen Gesellschaft wider. Zur Jahrtausendwende wählte Frankreich beispielsweise die erste Farbige zur Miss France 2000.
Heftig diskutiert wurde letztes Jahr nicht nur die Tatsache, dass die Jury ausschließlich aus Frauen bestand, sondern auch die Frisur von Miss France 2024, der ersten Gewinnerin mit kurzen Haaren.Auch dieses Jahr bahnt sich wieder eine Polemik an, denn Sabah Aib, die Kandidatin aus der Region Nord-Pas-de-Calais, deren Eltern aus dem Maghreb kommen ist Opfer heftigster rassistischer Angriffe in den sozialen Netzwerken.
François Hollande und Miss France
Veränderung und Anpassung an den Zeitgeist? Ja, aber alles hat seine Grenzen: Am 1. Juni 2015, kündigte François Hollande sein territoriales Reformprojekt an, mit dem die 22 französischen Regionen auf 13 reduziert wurden – die Regionen Alsace, Champagne-Ardenne und Lorraine verschmolzen zu der Region Grand Est. Elsass- Lothringen hatte ja schon viel mitgemacht, aber eine Miss Grand Est? Das ging dann doch zu weit. Le concours de beauté sera-t-il impacté ? Les internautes s’inquiètent, war in der Presse zu lesen. Sie wurden schnell beruhigt und so gibt es weiterhin eine Miss Alsace, eine Miss Lorraine und eine Miss Champagne-Ardenne… Man kann schließlich nicht alle Traditionen aufgeben. Ob es dieses Jahr wohl eine Miss aus dem Grand Est schafft, Miss France zu werden? …Am 14. Dezember wissen wir mehr.
Ach, noch etwas: 2020 wurde eine 35-jährige Mutter Miss Germany (und nicht: Miss Deutschland) und viele meiner französischen Freunde fanden das toll. Als ich dann aber fragte, ob das in Frankreich auch möglich wäre, bekam ich folgende Antwort:
Ah non, c’est Miss France quand-même…
Der Autor
Der in Hessen geborene Frank Gröninger wohnt seit 1993 in Paris, wo er als Lehrer für Deutsch und interkulturelle Beziehungen unter anderem für das französische Außenministerium und Sciences Po, dem Institut für politische Wissenschaften arbeitet. 2021 erschien sein Buch „Douce Frankreich: die Abenteuer eines Deutschen in Paris“, sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, 2022 sein zweites Buch, „Dessine-moi un(e) Allemand(e)“.