Krieg und Frieden als Motiv für die deutsch-französische Verständigung

Krieg und Frieden als Motiv für die deutsch-französische Verständigung
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  • VeröffentlichtDezember 25, 2024
Blick auf den Nationalfriedhof und das Beinhaus von Douaumont (Copyright: Depositphotos)
Blick auf den Nationalfriedhof und das Beinhaus von Douaumont (Copyright: Depositphotos)

 

Seit 2018 führt die Gustav-Stresemann-Stiftung jährlich eine „Stresemann-Lecture“ durch. Das Format soll dem Erbe Gustav Stresemanns gedenken, der als Außenminister gemeinsam mit seinem Amtskollegen Aristide Briand für die Aussöhnung mit Frankreich 1926 den Friedensnobelpreis erhielt. Die 7. Lecture hielt Hélène Miard-Delacroix am 10. Dezember 2024.

 

Die deutsch-französische Geschichte war von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt. Auch die „Zwischenkriegszeit“ und die „Nachkriegszeit“ waren von zahlreichen Konflikten begleitet. Als Außenminister Gustav Stresemann 1926 mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand den Friedensnobelpreis erhielt, wusste man nicht, dass ein neuer Weltkrieg bevorstand. Aber der Blick auf den Ersten Weltkrieg, die Grande Guerre, prägte die Denkmuster und die Werte, in deren Namen Politik zu gestalten war. Die immensen Kriegsfolgen aller Art – physischer wie psychologischer, materieller und finanzieller Natur – standen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zusammen mit der traumatischen Kriegserfahrung rechtfertigten sie auch die zarten Versuche zur Annäherung und Befriedung, und dies rhetorisch wie auch ganz konkret als politisches Motiv und politische Handlung.

 

Die langen Schatten des Krieges

 

Frieden tritt nicht einfach ein, wenn das Verstummen der Waffen den Krieg zu beenden scheint. Der Übergang aus dem Krieg in das befriedete zivile Leben – in der Forschung als „kulturelle Demobilisierung“ (John Horne) oder sortie de guerre bezeichnet – vollzog sich in Deutschland 1918-19 in einem revolutionären und gewaltvollen Kontext. Mit Theorien von Verrat und Dolchstoß tat man sich extrem schwer, sich im Frieden wieder zu erkennen. In Frankreich verlief die Rückkehr in den Frieden vergleichsweise reibungslos, zumal die Neuentfaltung der demokratischen Republik eine Kontinuitätserfahrung bedeutete. Aber die Werte und Bezüge der Kriegskulturen blieben wie die gegenseitigen Animositäten in beiden Ländern noch lange nach dem Kriegsende erhalten. Der Krieg auf dem Schlachtfeld wurde unmittelbar abgelöst von dem Krieg der Deutungen. Es ging um Schuld und Verantwortung, um Diktat oder Bestrafung des Aggressors. „L’Allemagne paiera“: die Durchsetzung hoher Reparationszahlungen diente der Vergeltung wie der dauerhaften Schwächung des gefährlichen Wiederholungstäters im Osten. Nicht zuletzt wegen der verdächtigen deutsch-russischen Verständigung in Rapallo 1922 war die französische Politik zunächst von strikter Unnachgiebigkeit gegenüber Deutschland geprägt. Sie kulminierte in der Ruhrbesetzung von 1923, wenngleich ein friedensorientierter Geist selbst bei den Veteranenverbänden aufkeimte.

 

Die Ächtung des Krieges als Weg aus der Sackgasse

 

Aristide Briand and Gustav Stresemann 1926 (Copyright: Wikimedia Commons)
Aristide Briand and Gustav Stresemann 1926 (Copyright: Wikimedia Commons)

Mit dem sogenannten „Geist von Locarno“ war eine konstruktive Politik plötzlich möglich. Ab 1925 fanden sich die Außenminister Stresemann und Briand als kongeniale Gesprächspartner desselben Kalibers, beide strebten eine Annäherung an. Sie einte der Glaube, dass mit dem Verzicht auf den Krieg der Völkerbund die Ära eines befriedeten Miteinanders in Europa einleiten könne. Die jeweiligen Interessen und Ziele mussten nur kompatibel gemacht werden: für Frankreich die Zahlung der Reparationen durch das Deutsche Reich und die Gewährleistung der eigenen Sicherheit, für Deutschland die Revision des Versailler Vertrags und der Grenzen im Osten, sowie das Ende der Isolation. Frankreich hatte die Unterstützung der Briten und Amerikaner verloren und über die Ruhrbesetzung seine Ziele nicht erreichen können. In beiden Ländern verbreitete sich auch der Überdruss gegenüber kriegerischen Haltungen. Im Kontext der Konferenz von Locarno (Oktober 1925) wurde die Ächtung des Krieges als Ziel und Mittel der Politik in prägnante Worte gefasst. Das dreistündige Treffen von Briand und Stresemann am 17. September 1926 in Thoiry (Ain) ermöglichte den Austausch von politischen Konzessionen und finanziellen Versprechen. Die Einladung des ehemaligen Feindes zu einem gemeinsamen Essen auf dem nationalen Territorium war ein anthropologisch bedeutendes Ritual und damit eine symbolische Deeskalation. Sie verwandelte ein face à face in ein tête à tête. Briand und Stresemann wurden als Apostel des Friedens erkannt und erhielten am 10. Dezember 1926 gemeinsam den Friedensnobelpreis.

 

Die Rolle aktiver Gruppen

 

Andere Akteure engagierten sich für die Befriedung durch Kennenlernen und Interessenausgleich. 1926 initiierte der luxemburgische Industrielle Emile Mayrisch die Gründung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (IRG). Das westeuropäische Kartell verband den Pragmatismus der Stahlerzeuger mit dem Idealismus einer friedlichen Verständigung ehemaliger Feinde. Zusammen mit Pierre Viénot und Jean Schlumberger gründete Mayrisch auch das Deutsch-französischen Studienkomitee. Kleine Gruppen hatten bereits das Motiv des Friedens mobilisiert. Nie wieder Krieg war 1923 das Motto auf einer Demonstration der Liga für Menschenrechte in Berlin, so wie auf einem vom Franzosen Marc Sangnier organisierten deutsch-französischen Treffen in Freiburg/Breisgau. Bereits 1922 hatte der Romanist Ernst Robert Curtius an den literarischen Treffen in den Décades de Pontigny wieder teilgenommen. Den Frieden schaffen wollten Romanisten, Kunsthistoriker, Intellektuelle und Industrielle in der Logik eines positiv wirkenden Kreislaufes: Das Kennenlernen ermöglicht ein besseres Verstehen, das zur Verständigung und wiederum zur erneuten Annäherung führt.

 

Diese Politik stieß aber keineswegs bei allen auf Zustimmung. Kritik kam aus dem jeweiligen rechten und nationalistischen Lager. Auf beiden Seiten waren die Feindbilder langlebig. Selbst die Friedens- und Verständigungsrhetorik und die Koppelung des Friedensgedankens mit der Europa-Idee wurden dann von Nichtdemokraten vereinnahmt. Die Nazis und das Frankreich von Pétain griffen auf den gleichen Wortschatz der Versöhnung zurück. Währenddessen tobte der Krieg in Europa wieder.

 

Renaissance des Mottos Nie wieder Krieg nach dem Zivilisationsbruch

 

Nie wieder Krieg, das war 1945 zunächst das Ziel der harten französischen Sicherheitspolitik gegenüber Deutschland. Dennoch kamen aus der Zivilgesellschaft Initiativen für die Annäherung der verfeindeten Völker. Ausschlaggebend für die Verständigung war das gemeinsame Erleben der Barbarei. Viele Initiatoren von Begegnungen und von Städtepartnerschaften waren ehemalige KZ-Insassen. Der deutsche Emigrant und französischer Widerstandskämpfer Joseph Rovan engagierte sich im besetzten Deutschland für die Erziehung zu den Werten der Aufklärung und der Menschlichkeit. Es sei nun die Verantwortung der Franzosen, ob überhaupt und wie das künftige Deutschland demokratisch und friedfertig werden sollte. Für den damals 20 Jahre alten Alfred Grosser war die Kenntnis des Nachbarn der Schlüssel zur Verständigung.

 

 Partnerschaftsurkunde Ludwigsburg-Montbéliard (Copyright: Wikimedia Commons)
Partnerschaftsurkunde Ludwigsburg-Montbéliard (Copyright: Wikimedia Commons)

Der Frieden, auch als Bedingung für einen allseits ersehnten Wohlstand, war diskursiv ein zentrales Motiv des Schuman-Plans vom 9. Mai 1950 und er rechtfertigte die Schaffung von Strukturen der wirtschaftlichen Verflechtung. An die Idee der Vertrauensbildung schlossen General de Gaulle und Konrad Adenauer 1962-1963 an. In dem Freundschaftsvertrag vom 22. Januar 1963, der der bilateralen Zusammenarbeit bis in die Gegenwart einen Rahmen gab, war die Verpflichtung zur regelmäßigen Zusammenkunft zwecks gegenseitiger Information und Abgleichung der Positionen zentral. Die prägnanten Bilder Adenauers und de Gaulles in der Kathedrale von Reims und bei der Unterzeichnung des Vertrags re-aktualisierten die performative Komponente der Verständigung, wie sie im gemeinsamen Essen von Stresemann und Briand in Thoiry eingeleitet worden war, wenn auch bescheiden.

 

Krieg und Frieden als Motiv im normalisierten Verhältnis

 

Im Vertrauensklima der 1970er Jahre verschwand der Krieg als Motiv nie ganz. Als Valéry Giscard d’Estaing 1975 den 8. Mai, den französischen Feiertag zum Kriegsende abschaffen wollte, war der Protest unerwartet groß. Die Erinnerung an den Krieg blieb präsent, obwohl sich die bilateralen Kontakte stark vervielfältigt hatten. Man schaute viel entspannter aufeinander, die negativen Einstellungen wichen sehr stark zurück. Dennoch wurden alte Stereotypen nicht überschrieben, sie kamen immer wieder in Karikaturen und Humor zum Ausdruck. Die Ächtung des Kriegs prägte weiterhin die Praxis des Gedenkens.

 

Helmut Kohl und François Mitterrand in Verdun (Copyright: MEAE)
Helmut Kohl und François Mitterrand in Verdun (Copyright: MEAE)

 

Der zur Ikone gewordene Händedruck von François Mitterrand und Helmut Kohl am 22. September 1984 in Verdun bildete einen Höhepunkt der Symbolik. Die Geste wurde anlässlich des Gedenkens in Oradour-sur- Glane am 4. September 2013 in einer viel dramatischeren, weil „intimeren“ Stimmung in der Kirche des Massakers reaktiviert. Die Haltung der drei Personen – Bundespräsident Gauck, Staatspräsident Hollande und der letzte Überlebende Hébras – suggerierte die menschliche Zusammengehörigkeit und damit den besonders abscheulichen Charakter des Massakers. Mit der Zeit fungierte das Phantom des Kriegs als entferntes Menetekel, so unvorstellbar war ein neuer militärischer Konflikt untereinander geworden. Die Normalisierung der Beziehung im Komfort des Friedens trug sogar für einige zu ihrer Banalisierung und zu einem relativen Desinteresse füreinander bei.

Die neue Situation, die durch den russischen Angriff auf die Ukraine 2022 entstanden ist, bedarf einer neuen Besinnung über Krieg und Frieden. Deutschland und Frankreich sind mehr denn je gefordert, aus ihrer eigenen Geschichte die nötigen Schlüsse zu ziehen und der Bedrohung der Freiheit durch die Aggression des Diktators Widerstand entgegenzusetzen.

 

Vorliegender Beitrag ist eine gekürzte Version des Vortrags, den Hélène Miard-Delacroix am 10. Dezember 2024 an der Universität Bonn hielt. 

 

 

Die Autorin

 

 

(Copyright: Wikimedia Commons)

Prof. Dr. Hélène Miard-Delacroix ist seit 2008 ordentliche Professorin für Deutschlandstudien mit Schwerpunkt Neuere und Neueste Geschichte an der Pariser Universität Sorbonne Université. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Bundesrepublik, die Geschichte der internationalen Beziehungen im 20. und 21. Jahrhundert und die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen in Europa. Von ihr erschien u. a. ein Gesprächsbuch mit dem deutschen Historiker Andreas Wirsching mit dem Titel Von Erbfeinden zu guten Nachbarn. Ein deutsch-französischer Dialog, Stuttgart 2019. Aktuelles Forschungsthema: Emotionen in den Internationalen Beziehungen am Beispiel des Jahres 1989/1990.

 

 

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