Die großen Fragen unserer Zeit:
Palliativmedizin und Sterbehilfe: Frankreich steht vor der Wahl

Die großen Fragen unserer Zeit: Palliativmedizin und Sterbehilfe: Frankreich steht vor der Wahl
  • VeröffentlichtJuni 3, 2025
Copyright: Alamy
Copyright: Alamy

Frankreich verfügt über umfassende Patientenrechte und Palliativgesetze. Die Mehrheit fordert nun eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe. Ein aktueller Gesetzentwurf bringt das Thema in den Fokus. Die Debatte verbindet ethische, medizinische und gesellschaftliche Herausforderungen.

 

Frankreich verfügt über einschlägige Gesetze und eine Berufsethik, die in Europa vermutlich ihresgleichen suchen. Die zentralen Gesundheitsgesetze zu Patientenrechten und zum Lebensende existieren seit mittlerweile einem Vierteljahrhundert. Bereits 1999 wurde der allgemeine Zugang zur Palliativmedizin gesetzlich verankert – zumindest in der Theorie, denn in der Praxis bestehen nach wie vor erhebliche regionale Unterschiede. Das Gesetz vom 4. März 2002 – das sogenannte Kouchner-Gesetz – regelt die Rechte von Patienten. Es verpflichtet das medizinische Personal zu sachgerechter und ehrlicher Aufklärung sowie zur Einholung der freien und informierten Zustimmung der Betroffenen, die medizinische Behandlungen auch ablehnen dürfen. Zugleich etabliert es das Konzept der Vertrauensperson. Das Leonetti-Gesetz von 2005 über das Lebensende eröffnet die Möglichkeit, Patientenverfügungen für den Fall zu verfassen, dass der oder die Betroffene nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu äußern. Zudem verankert das Gesetz das Verbot der Übertherapie am Lebensende in der Gesetzgebung (also des Einsatzes unverhältnismäßiger lebenserhaltender Maßnahmen). Im Jahr 2016 schließlich stärkt das Claeys-Leonetti-Gesetz die Patientenverfügungen durch die Erlaubnis der palliativen Sedierung, sofern in den kommenden Stunden bzw. Tagen mit dem Eintritt des Todes zu rechnen ist.

Die Gesetze von 2005 und 2016 wurden insbesondere durch eine emotional aufgeladene Medienberichterstattung über die Fälle Vincent Humbert (2000) und Vincent Lambert (2008) angestoßen. Bei beiden Patienten hatte sich die bestehende Rechtslage als unzulänglich erwiesen.

 

Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Vincent Lambert, Straßburg, 5. Juni 2015 (Copyright: Wikimedia Commons)
Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Vincent Lambert, Straßburg, 5. Juni 2015 (Copyright: Wikimedia Commons)

 

Parallel dazu untersuchte der 1983 gegründete Nationale Ethikrat (Comité consultatif national d’éthique, CCNE) die großen Fragen der Bioethik. Er gab vier Stellungnahmen zum Lebensende heraus: In allen Fällen wurde die Möglichkeit einer aktiven Sterbehilfe zunächst sukzessive verworfen, bis die Stellungnahme Nr. 139 von 2022 zum Lebensende, zur Autonomie und Solidarität erstmals einen ethischen Weg für eine legitimierte Form der Sterbehilfe eröffnete. Dabei wird die Option der Selbstverabreichung (assistierter Suizid, nach dem Modell der Schweiz oder des US-Bundesstaats Oregon) der Euthanasie (wie sie in den Benelux-Staaten oder in Kanada praktiziert wird) vorgezogen.

Eine weitere bedeutende Entwicklung, die vor allem auf die AIDS-Jahre (1981 bis 2000) zurückgeht, ist die zunehmende Bedeutung der Partizipation und Demokratie im Gesundheitswesen. Dabei werden die Rechte, Werte und Präferenzen der Patienten sowie ihr Wissen sowohl bei individuellen als auch bei gesundheitspolitischen Entscheidungen stärker anerkannt. Die Patientenverbände entstanden ebenfalls infolge der Medienberichterstattung über den Skandal um mit HIV-kontaminiertes Blut in den 1980er-Jahren. Später schlossen sie sich im Dachverband zugelassener Patientenorganisationen, France Assos Santé, zusammen.

 

Auf dem Weg zu einem Gesetz?

Die Frage der Sterbehilfe wurde in Frankreich erstmals 1978 von Senator Henri Caillavet öffentlich aufgeworfen. Seither ist der Anteil der französischen Bevölkerung, der einen Zugang zur Sterbehilfe befürwortet, kontinuierlich gestiegen – aktuellen Umfragen zufolge liegt er aktuell bei über 90 %. Angesichts dieser Umfrageergebnisse, der Zunahme aufsehenerregender Einzelfälle in den Medien, der Erfahrungen aus Nachbarländern sowie des Engagements von Organisationen wie der Association pour le droit à mourir dans la dignité (ADMD, Verein für das Recht auf einen würdevollen Tod) kündigten mehrere Präsidentschaftskandidaten an, das Thema zur politischen Priorität zu machen – unter ihnen François Hollande im Jahr 2012 und Emmanuel Macron im Jahr 2017. Als der Nationale Ethikrat (CCNE) am 13. September 2022 seine Stellungnahme Nr. 139 veröffentlichte, entschloss sich Präsident Macron zu handeln und rief einen Bürgerkonvent ein (Dezember 2022 bis April 2023). An neun dreitägigen Wochenenden diskutierten 184 zufällig ausgewählte Bürger im Rahmen deliberativer Demokratie – einer von Jürgen Habermas beschriebenen Debattenkultur, die auf gegenseitigem Zuhören und Respekt basiert. Sie stellten sich die zentrale Frage: „Reicht die derzeitige Rechtslage für das Lebensende aus?“ Nach insgesamt 27 Tagen intensiver Debatte lautete ihre Antwort: Nein. Sie kamen zu zwei zentralen Forderungen:

  • Das Palliativsystem und die Palliativkultur in Frankreich müssen gestärkt werden – zu diesem Zeitpunkt verfügten 21 Départements über keine eigene Palliativstation.
  • Die Sterbehilfe muss gesetzlich geregelt werden – 75,6 % der Teilnehmenden sprachen sich dafür aus.

Daraufhin leitete der Staatspräsident Überlegungen auf Ministerebene ein, mit dem Ziel, einen Gesetzesentwurf zu erarbeiten. Dieser sollte vier zentrale Eckpunkte enthalten:

  • Er gilt ausschließlich für volljährige Patienten (über 18 Jahre).
  • Psychische Erkrankungen sind als alleinige Indikation ausgeschlossen.
  • Es muss eine unheilbare Krankheit mit mittelfristig tödlichem Verlauf vorliegen.
  • Die Urteilsfähigkeit der Betroffenen muss bis zum Tag der Verabreichung lebensbeendender Medikamente gewährleistet sein.

Ein einheitlicher Gesetzesentwurf, der sowohl die Palliativversorgung als auch die Sterbehilfe regeln sollte, wurde Anfang 2024 in die Nationalversammlung eingebracht. Doch bereits vierzehn Tage später kam es zur Parlamentsauflösung – der Entwurf konnte daher nicht mehr verabschiedet werden. Der Rechtsruck der nachfolgenden Regierungen, der Druck der monotheistischen Religionsgemeinschaften sowie die entschiedene Opposition der französischen Gesellschaft für Palliativbegleitung und -pflege (SFAP) verzögerten die Wiederaufnahme der parlamentarischen Arbeit erheblich. Anfang 2025 wurden schließlich zwei Gesetzesvorschläge eingebracht: einer zur Stärkung der Palliativmedizin durch die Abgeordnete Annie Vidal, ein zweiter zur Regelung der Sterbehilfe durch Olivier Falorni, der sich seit Jahren intensiv für dieses Thema engagiert. Die Beratung beider Vorlagen fand zwischen dem 12. und 27. Mai 2025 statt und führte zu folgenden Ergebnissen:

  • Der Gesetzentwurf zur Palliativmedizin wurde einstimmig angenommen.
  • Der Vorschlag zur Sterbehilfe – den ausschließlich assistierten Suizid vorsieht und Euthanasie nur in extremen Ausnahmefällen erlaubt – wurde mit 300 zu 200 Stimmen verabschiedet. Dabei wurde der ursprünglich verwendete Begriff „mittelfristige Todesprognose“ ersetzt durch die Formulierung: „fortgeschrittenes Stadium mit irreversiblem Krankheitsverlauf, der zum Tode führt“.

Wie in Frankreich üblich, geht ein in erster Lesung angenommenes Gesetz zunächst in den Senat, der in der Regel konservativer besetzt ist als die Nationalversammlung. Der Senat kann den Entwurf zurückverweisen – dieses sogenannte „Hin und Her“ zwischen beiden Kammern kann sich mehrfach wiederholen, sodass mit einer endgültigen Verabschiedung frühestens in ein bis zwei Jahren zu rechnen ist.

 

Pro und Contra

Copyright: Éditions Hermann
Copyright: Éditions Hermann

Im Jahr 2023 listet das Buch „Soll die medizinische Sterbehilfe legalisiert werden?“ die 15 wichtigsten Argumente für und gegen eine Legalisierung auf. Die Gegner der Sterbehilfe führen dabei im Wesentlichen drei Argumentationsebenen an:

  • Philosophisch-politisch: Sie kritisieren einen grundlegenden anthropologischen Bruch mit dem universellen Tötungsverbot. Die Entwicklung hin zu einer neoliberalen, stark individualistischen und validistischen Gesellschaft – die wenig Rücksicht auf Menschen mit Behinderungen nimmt – gefährde das Solidaritätsprinzip. Besonders ältere und vulnerable Menschen könnten dadurch unter Druck geraten. Kritisiert wird auch ein wachsender Jugendlichkeitskult, der zulasten der Alten gehe. Im Gesundheitswesen werde zunehmend angestrebt, bei hochaltrigen Patientinnen und Patienten in ihren letzten Lebensmonaten Kosten einzusparen.
  • Medizinisch: Kritisiert wird der Bruch mit dem hippokratischen Eid, der traditionell das Heil und Nicht-Schaden in den Mittelpunkt stellt. Es bestehe die Gefahr eines Vertrauensverlusts zwischen Patienten und Ärzten. Zudem werde nicht immer alles unternommen, um den Zugang zur palliativen Versorgung zu gewährleisten. Stattdessen könne Sterbehilfe manchmal vorschnell als „einfachere“ Lösung gewählt werden. Besonders am Lebensende werde die Vulnerabilität der Patientinnen und Patienten oft nicht ausreichend berücksichtigt – ihre Urteilskraft sei eingeschränkt. Auch für das Pflegepersonal sei die Bitte um Sterbehilfe eine hohe Belastung. Darüber hinaus werden negative Entwicklungen in anderen Ländern angeführt, etwa Belgien, die Niederlande oder Kanada, wo Sterbehilfe-Regelungen auf Minderjährige, bestimmte psychische Erkrankungen oder die Multimorbidität älterer Menschen ausgeweitet wurden.
  • Emotional: Pflegekräfte, insbesondere in der Palliativmedizin, empfinden den Gedanken, eine Sterbehilfe-Maßnahme durchführen oder verschreiben zu müssen, als enormen Druck. Dies stehe im starken Gegensatz zu ihrer Berufsethik, die eine würdevolle Begleitung im Alter fordert. Zudem widerspricht es den von ihnen in den letzten dreißig Jahren sorgfältig aufgebauten Strukturen, die nicht nur die Organe, sondern auch die Symptome umfassend behandeln – im Gegensatz zur oft fragmentierten Medizin.

Die Befürworter des Zugangs zur Sterbehilfe – dazu zählt eine Mehrheit der Bevölkerung sowie eine wachsende Zahl von Betreuern, die sich zunehmend öffentlich zu diesem Thema äußern – halten es für notwendig, der derzeitigen Ungerechtigkeit, Heimlichkeit und Willkür ein Ende zu setzen. Sie beziehen auch die Minderheit von Menschen mit refraktären physischen, psychischen oder existenziellen Leiden mit ein, die für die gewünschte Sterbebegleitung heute noch oft in die Schweiz oder nach Belgien reisen müssen. Für diese Befürworter ist Sterbehilfe keine Tötung, sondern die letzte Form der Pflege, da der Tod früher oder später ohnehin eintreten wird. Die Autonomie der Patienten, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen, steht dabei im Vordergrund.

 

Die Balance finden

Es wäre zu einfach, diese sehr persönliche, aber zugleich politische und philosophische Debatte auf einen Gegensatz zwischen progressiven Humanisten und mehr oder weniger religiösen Reaktionären zu reduzieren. Gegenseitiger Respekt ist notwendig, denn auf der einen Seite bitten Patienten – wenn auch nicht mehrheitlich – um Sterbehilfe, während auf der anderen Seite Pflegekräfte aus Gewissensgründen diesen Wunsch ablehnen. Es liegt daher in der Verantwortung des Pflegepersonals, sich menschlich und mit seinen vielfältigen Meinungen zum Thema Sterbehilfe einvernehmlich so zu organisieren, dass sich niemand als Opfer einer gesellschaftlichen Entwicklung fühlt, die vor allem darauf abzielt, die Stimme der Kranken zu hören, aller Kranken.

 

In unserer Reihe „Die großen Fragen unserer Zeit“ widmen sich Experten aus beiden Ländern den zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit.

 

Der Autor

François Blot (Copyright: privat)
François Blot (Copyright: privat)

François Blot ist Facharzt für Intensivmedizin. Er ist Vorsitzender des Ethikkomitees des Gustave-Roussy-Zentrums zur Krebsbekämpfung in Villejuif bei Paris und Mitglied des Ethikkomitees der Ligue contre le Cancer. Im Jahr 2023 veröffentlichte er das Buch Soll die medizinische Sterbehilfe legalisiert werden? im Verlag Hermann, das mit einem Vorwort des ehemaligen Ministers Bernard Kouchner versehen ist. Zudem ist er Autor mehrerer Beiträge in den Medien. Sehr engagiert in Fragen rund um das Lebensende, wirkte er an der Bürgerkonvention zu diesem Thema mit, nahm 2023 an ministeriellen Arbeitsgruppen teil und wurde 2024 vor der Nationalversammlung angehört.

 

This site is registered on wpml.org as a development site. Switch to a production site key to remove this banner.