Rechtsextreme:
Ein Sieg ist nicht unausweichlich!


In Paris und Berlin wächst die Sorge vor einer Machübernahme durch AfD und RN. Doch wer das Narrativ ihrer Unaufhaltsamkeit übernimmt, spielt ihnen in die Hände. Ein Blick auf Sprache, Strategie und die unterschätzte Kraft der Erzählung – und warum der Ausgang noch offen ist.
In den vergangenen Monaten hatte ich zahlreiche Gelegenheiten, mit engagierten Gesprächspartnern aus Deutschland und Frankreich über ihre politische Wahrnehmung, ihre Sorgen und Entwicklungen, die viele als dramatisch empfinden, ins Gespräch zu kommen. Dabei hörte ich häufig ähnliche Aussagen: Wenn die Bundesregierung scheitere (was auch immer damit gemeint ist), drohe bei der Bundestagswahl 2029 ein Wahlsieg der AfD. Ein ähnliches Bild zeigte sich in Frankreich: Auch dort sind viele überzeugt, dass der Rassemblement National (RN) kurz vor der Machtübernahme steht.
In seiner 1947 veröffentlichten Schrift LTI hat der jüdische Philologe Victor Klemperer eindrücklich gezeigt, welche Rolle das von den Nationalsozialisten betriebene Sprachverderbnis im Prozess der Machtergreifung und -stabilisierung spielte. Durch ständige Wiederholung, emotionale Aufladung und systematische Umformung, so Klemperer, sei eine „Sprachverführung“ erfolgt, die das Denken der Menschen formte und manipulierte. Auch wir werden heute – oft unbemerkt – manipuliert. Auch wir tappen immer wieder in die rhetorischen Fallen der Extremisten und übernehmen ihr deterministisches Denken, ohne es kritisch zu hinterfragen. Die Auffassung, der Siegeszug der Rechten sei unausweichlich, gehört dazu. Sie wird nicht nur über soziale Plattformen verstärkt, sondern zunehmend auch von Medien und Umfrageinstituten, die unter dem Einfluss rechtsaußenorientierter Milliardärs-Inkubatoren stehen. Dieses Narrativ ist falsch – und muss dekonstruiert werden. Denn so real die Gefahr auch ist: Sie ist keineswegs unausweichlich.

Gespalten in Ton und Methode, geeint im Anspruch
In ihrer Außendarstellung könnten beide Parteien kaum unterschiedlicher erscheinen. Die AfD gibt sich offen völkisch-nationalistisch und radikalisiert sich zunehmend. Der RN hingegen verfolgt weiterhin einen Kurs der Normalisierung und grenzt sich konsequent von radikaleren Kräften ab. Während sich der RN unter Marine Le Pen ideologisch normiert hat, dominiert in der AfD ein vielstimmiges Geflecht aus Strömungen und Machtzentren. Die Parteiführung gibt zwar offiziell den Ton an, doch ringen intern unterschiedliche Lager um Einfluss. Ideologische Empfindlichkeiten und Richtungsdebatten treten in der AfD dabei stärker zutage als im RN, wo frühere Tendenzen – etwa katholisch-fundamentalistische – weitgehend verschwunden sind oder sich in Richtung Reconquête verlagert haben, einer Partei, in die ein Maximilian Krah wohl besser passen würde.
Doch bei aller Unterschiedlichkeit in Auftreten, Programmatik und Verortung eint sie eine zentrale Ambition: Beide Parteien streben heute dezidiert die Machtübernahme an. Ihr Ziel: eine grundlegende „Systemänderung“. AfD und RN zeichnen das Bild eines Landes im Niedergang, das nur durch eine „starke Führungspersönlichkeit“ gerettet werden könne. In Frankreich wird hierfür gerne die Figur des „homme providentiel“ bemüht – eine Rolle, in die sich RN-Vorsitzender Jordan Bardella zunehmend selbst hineinschreibt. Den sozialen Medien kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Alice Weidels TikTok-Kanal zählt fast eine Million Follower, der 29jährige Bardella bringt es auf über zwei Millionen. Ihr Erfolg beruht auf ihrer Fähigkeit, komplexe politische Themen stark zu vereinfachen und emotional aufzuladen. Während andere Parteien auf sachliche Kommunikation setzen, bedienen sie sich gezielt der Funktionsweise der Plattform: kurz, prägnant, polarisierend. Diese Strategie erweist sich als hocheffektiv. Klassische Parteien, die in ihrer Kommunikation vor allem auf nüchterne Sachlichkeit setzen, können da kaum mithalten.
Annäherung mit Abstand
Im Europaparlament sitzen AfD und RN in unterschiedlichen Fraktionen. Seitdem Marine Le Pen kurz vor der Europawahl die Kooperation mit der AfD aufgekündigt hat, will die Partei – so die offizielle Linie – nichts mehr mit ihr zu tun haben. Dabei geht es primär darum, eine „rechtsextreme“ Etikettierung zu vermeiden. Diese Abgrenzungsstrategie verfolgt Le Pen schon lange: Früher galt sie der NPD. Heute richtet sie sich gegen die AfD.
Beide Parteien eint ein zentrales Feindbild – die EU und stellvertretend für sie „Brüssel“. AfD und RN kritisieren die EU als bürokratische, menschenferne und elitäre Institution, die nationale Souveränität und Demokratie nicht nur untergräbt, sondern gezielt angreift. Die eine Partei spricht sich offen für den DEXIT aus. Die andere hat sich zwar rhetorisch von der Idee verabschiedet, doch das Dogma der sogenannten „priorité nationale“ würde im Falle eines Wahlsiegs unvermeidlich zum Konflikt führen und letztlich einen Austritt Frankreichs aus der EU nach sich ziehen.

AfD und RN haben viele Freunde in Europa – oft dieselben. Beide träumen zudem von einer geschlossenen Front europäischer Rechtskonservativer, doch sie marschieren nicht gemeinsam: Der RN blieb der jüngsten CPAC-Konferenz in Budapest (29.-30. Mai) fern, während sich Alice Weidel dort von Viktor Orbán feiern ließ. Beim Treffen der Fraktion „Patrioten für Europa“ in Mormant-sur-Vernisson (9. Juni) trat eine energiegeladene Marine Le Pen gemeinsam mit dem ungarischen Premierminister auf. Seine Brandrede gegen die europäische Migrationspolitik und den angeblich von „Brüssel orchestrierten großen Austausch“ hätte Alice Weidel sicherlich gefallen – doch sie war nicht dabei.
Orbán gilt vielen als verlängerter Arm Donald Trumps in Europa – und als trojanisches Pferd Moskaus. Le Pen, die sich gerne von ihm als „zukünftige Präsidentin“ ansprechen lässt, hält sich von beiden auf Distanz – zumindest rhetorisch. Das war nicht immer so. Die AfD hingegen zeigt offen ihre Bewunderung für Trump und Putin – und zögert nicht, Unterstützung aus den USA in Anspruch zu nehmen, um ihre mediale Reichweite zu vergrößern.
Was jetzt?
Die Gefahr für Europa geht von einem kumulativen Effekt aus: Den Anfang machte Ungarn bereits 2010. Inzwischen sind weitere EU-Länder in die Hände rechtsextremer Politiker gefallen – Tschechien könnte im Herbst folgen, sollten die aktuellen Umfragen recht behalten. Wenn auch Frankreich oder Deutschland kippen, steht die Zukunft der Demokratie auf dem Spiel – und das europäische Projekt vor dem Kollaps. Doch so weit ist es noch nicht. Ein Sieg des RN und der AfD ist heute zwar nicht mehr undenkbar, er ist aber keinesfalls unausweichlich.
Das Urteil gegen Marine Le Pen im Prozess wegen Veruntreuung von EU-Geldern hat eine neue Realität geschaffen, der sich die Partei nicht entziehen kann. Le Pen ist zwar medial weiterhin omnipräsent – doch ihre Zeit läuft ab. Das weiß sie – und ihr designierter Nachfolger Jordan Bardella weiß es genauso. Bardella, den sie im November 2022 an die Parteispitze gehievt hat, gehört zwar zu den populärsten Politikern Frankreichs. Er hat aber viele Feinde in den eigenen Reihen, nicht zuletzt unter jenen, die sich in der Tradition von Parteigründer Jean-Marie Le Pen sehen. Noch halten sie die Füße still, aber es ist nicht auszuschließen, dass die P-Frage die Partei vor eine Zerreißprobe stellt und sie in eine Führungskrise stürzt.
In der AfD herrscht unter der Oberfläche Unruhe. Das Gutachten des Verfassungsschutzes, das sie als „gesichert rechtsextrem“ einstuft, hat die Partei verunsichert. Ein Parteienverbot ist zwar nicht unmittelbar absehbar – doch die Diskussion darüber ist (wieder) in der Welt. Höchste Zeit also, den eigenen Kurs zu überdenken. In den Reihen der AfD weiß man zudem: Die Machtfrage wird sich erst dann stellen, wenn man sich regierungsbereit verhält und der CDU keine Alternative lässt, „als mit uns zu koalieren“ (Benedikt Kaiser). In Sachsen-Anhalt, wo CDU und AfD auf kommunaler Ebene immer häufiger zusammenarbeiten, könnte sie sich bereits bei den Landtagswahlen 2026 akut stellen – in Sachsen vielleicht noch früher.
Auch der RN strebt eine Allianz mit den Konservativen bzw. eine Neuformierung des rechten Lagers an. Teile davon sind bereits bei der letzten Parlamentswahl einen Pakt mit dem RN eingegangen. Ob weitere folgen werden, ist allerdings fraglich. Auch das erschwert eine verlässliche Prognose. Die politische Lage ist und bleibt dynamisch.
Dieser Artikel wurde erstmals auf Focus Online am 18. Juni 2025 veröffentlicht.
Der Autor

Landry Charrier ist Absolvent des Collège des Hautes Études de l’Institut diplomatique in Paris, Mitglied der CNRS-Forschungseinheit SIRICE (Sorbonne Université, Paris), Associate Fellow am Global Governance Institute (Brüssel) sowie am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er ist Ko-Produzent des Frankreich-Podcasts „Franko-viel“ sowie Redaktionsleiter von dokdoc.