Nahost:
„Wahrscheinlich braucht Deutschland noch eine Generation“

Warum die Anerkennung Palästinas mehr als Symbolpolitik ist und welche Lehren Deutschland daraus ziehen könnte, erklärt Jean Asselborn im Gespräch mit dokdoc.
dokdoc: Frankreich hat zu Wochenbeginn Palästina als Staat anerkannt. Ist das ein Schritt Richtung Zwei-Staaten-Lösung oder eher „Symbolpolitik“, wie Außenminister Johann Wadephul am Mittwoch sagte?
Jean Asselborn: Es ist viel mehr als Symbolpolitik. Aber ich darf zunächst sagen, dass ich es sehr bedaure, dass dieser Schritt ohne den 7. Oktober 2023 nicht erfolgt wäre. Diese Barbarei der Hamas, die völlig unentschuldbar ist, hat die Weltgemeinschaft wohl dazu gebracht, sich wieder stärker auf den Weg der Zweistaatenlösung zu begeben. In den letzten 20 Jahren habe ich erlebt, dass Europa wie auch Amerika versagt haben, weil wir gleichgültig waren. In Europa hieß es immer: Israel und Palästina, beide müssen selbst eine Lösung finden. Wir haben uns nicht eingebracht. Diese Gleichgültigkeit hat meines Erachtens zu dem geführt, was wir heute sehen: den Krieg in Gaza, die Geiselnahmen, unter denen viele israelische Familien schwer leiden – und auf der anderen Seite rund 60.000 Tote. Dieser Krieg ist ja noch nicht vorbei. Dass die Weltgemeinschaft nun zurück auf den Weg der Zweistaatenlösung geführt wird, ist deshalb keine Symbolpolitik – das ist weit mehr.
dokdoc: In Frankreich reagierte Marine Le Pen vom Rassemblement National sofort und sprach von einer „äußerst schwerwiegenden Verfehlung, insbesondere gegenüber den Nationen, die gegen den islamistischen Terrorismus kämpfen“. Hat Präsident Macron mit seiner Ankündigung also Partei für die Hamas und gegen Israel ergriffen?
Asselborn: Nein, so darf man das nicht sehen. Ich sage es noch einmal: Hamas ist eine barbarische Terrororganisation. Nichts von dem, was sie getan hat, ist zu rechtfertigen. Aber die Weltgemeinschaft muss einen Weg finden, aus dieser Lage herauszukommen. Der einzige Weg ist, dass Israel als Staat mit unverrückbarem Existenzrecht anerkannt bleibt – und gleichzeitig ein Staat für die Palästinenser entsteht. Zwei Hauptgegner dieser Anerkennung sind die israelische Regierung und die Hamas. Ich sage bewusst nicht: „Israel ist gegen die Zweistaatenlösung“, denn viele Menschen in Israel wünschen genau diesen Weg. Die Hamas jedoch will Israel nicht anerkennen, sondern vernichten. Heute haben bereits 157 von 193 UN-Staaten Palästina als eigenständigen Staat anerkannt – das sind über 80 %. Manche osteuropäischen Länder taten dies schon 1988, damals noch unter Druck der Sowjetunion. Doch die große Mehrheit kam freiwillig zu dem Schluss: Wir brauchen zwei Staaten.
dokdoc: Auch Deutschland bekennt sich zur Zwei-Staaten-Lösung, allerdings als letzte Etappe eines Friedensprozesses und in Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern, wie es immer wieder heißt. Netanjahu lehnt die Zwei-Staaten-Lösung jedoch klar ab. Wie kann die deutsche Diplomatie aus dieser Sackgasse herausfinden?
Asselborn: Ich bin nur ein bescheidener Luxemburger und habe den Deutschen nichts vorzuschreiben. Aber aus meiner Erfahrung in der EU möchte ich Folgendes sagen: Die Erklärung von Angela Merkel 2008 zur Staatsräson Deutschlands verstehe ich absolut, und ganz Europa versteht die historische Last Deutschlands gegenüber Israel. Ich glaube jedoch, dass es noch eine Generation dauern wird, bis in Deutschland klarer gesehen wird: Die Staatsräson bezieht sich auf den Staat Israel, nicht auf die Regierung Netanjahu. Israels Existenzrecht darf niemals infrage gestellt werden. Aber die Regierung darf – ja, muss – in einer Demokratie kritisiert werden.

Zur Erinnerung: Israel entstand durch ein UN-Votum 1947. Der Plan war, das britische Mandatsgebiet in zwei Teile zu teilen. Israel entstand, der palästinensische Staat jedoch nicht. Daraus folgten Krieg, Flucht, Vertreibung und die Nakba. 2005/2007 waren wir sehr nah dran: Abu Mazen (Mahmud Abbas) wurde nach Arafats Tod gewählt, in Annapolis gab es eine Konferenz, und Ehud Olmert war damals Premierminister in Israel – da bestand eine echte Chance. Doch diese wurde verpasst. Später versuchte es US-Außenminister John Kerry erneut, aber die aggressive Siedlungspolitik von Benjamin Netanjahu verhinderte Fortschritte. Heute leben 750.000 Siedler in Ostjerusalem und im Westjordanland – 2004 waren es 250.000. Auch kriminelles Vorgehen einzelner Siedler verschärft die Lage. Das Existenzrecht Israels bleibt unantastbar. Dauerhaften Frieden wird es jedoch nur geben, wenn auch die Palästinenser in einem eigenen Staat in Würde und Sicherheit leben können. In Deutschland wächst das Bewusstsein dafür, wenn auch langsam.
dokdoc: Die EU gilt als besonders handlungsfähig, wenn Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen. Bedeutet das, dass die EU zur Ohnmacht verurteilt ist?
Asselborn: Nein. Zwar muss es für innereuropäische Fragen ein Zusammenspiel zwischen Deutschland und Frankreich geben, aber in der Außenpolitik bleibt jedes Land souverän. Deutschland trägt dabei eine besondere Verantwortung. Klar ist: Auf Dauer kann aber ein Land wie Deutschland nicht überall auf der Welt für Gerechtigkeit eintreten und gleichzeitig hinnehmen, dass Palästinenser im besetzten Gebiet von Siedlern bedrängt, vertrieben oder sogar getötet werden. Die wahren Freunde Israels sind diejenigen, die verhindern wollen, dass Israel langfristig zerstört wird. Dazu gehört zwingend, dass die Palästinenser einen eigenen Staat haben – im Westjordanland, in Gaza und in Ostjerusalem.
dokdoc: Frankreich arbeitet eng mit Saudi-Arabien, Katar und Ägypten zusammen. Welche Chancen bietet eine solche Kooperation für den Friedensprozess?
Asselborn: Die Initiative von Frankreich und Saudi-Arabien finde ich nicht falsch. Die Idee ist, dass mit einem palästinensischen Staat auch die Beziehungen zwischen arabischen Ländern und Israel auf eine neue Ebene gehoben werden könnten. Aber schon bei den Abraham-Abkommen war mein erster Gedanke: Wie soll Frieden einkehren, wenn Palästina darin überhaupt nicht erwähnt wird? Solange das nicht berücksichtigt wird, werden diese Abkommen wenig bewirken. Wirtschaftliche Kooperation allein reicht nicht – das palästinensische Problem muss Teil der Lösung sein.

dokdoc: Paris schlägt eine internationale Mission unter UN-Mandat vor, die die Hamas entwaffnet. Halten Sie das für realistisch – und welche Rolle könnte Deutschland dabei spielen?
Asselborn: Wenn es zu einem solchen Schritt kommt, wären natürlich alle europäischen Länder, auch Deutschland, gefragt. Ich erinnere mich, dass Abu Mazen schon früher UNO-Truppen in Gaza vorgeschlagen hatte, um Raketenangriffe und Gewalt zu verhindern. Es kam nie zustande. Emmanuel Macron denkt nun wohl ähnlich: Ein freier palästinensischer Staat ist nicht möglich, solange die Hamas dort die Macht hat. Aber man muss realistisch bleiben: Vor dem 7. Oktober gab es 10.000 Hamas-Kämpfer, heute sind es immer noch 10.000. Die Hamas allein mit Waffen zu besiegen, halte ich für unmöglich. Sie ist nicht nur eine Organisation, sondern eine Ideologie – tief verwurzelt, unterstützt auch aus anderen Ländern. Deshalb könnte eine internationale Mission sinnvoll sein, aber wir wissen auch, wie schwierig solche Einsätze weltweit sind.
dokdoc: Sehen Sie angesichts der derzeitigen Divergenzen zwischen Deutschland und Frankreich eine realistische Chance, dass beide Länder eine gemeinsame „Arabische Politik“ entwickeln, die als Grundlage für eine integrierte europäische Außenpolitik im Nahen Osten dienen könnte?
Asselborn: Die Franzosen haben seit de Gaulle, Chirac und Macron ein gelösteres und offeneres Verhältnis zu Israel – das schließt auch Kritik ein. Für Deutschland ist das anders, und es wäre realitätsfremd, dies bei der Diskussion über mögliche gemeinsame europäische Maßnahmen zu übersehen. Um der Regierung Netanjahus zu zeigen, dass uns Europäern internationales Recht nicht gleichgültig ist, müsste auch Deutschland Sanktionen in Erwägung ziehen – etwa gegen Siedler im Westjordanland, wo weiterhin Palästinenser getötet werden. Damit würde ein deutliches Signal gesetzt. Zudem sollte Deutschland wirtschaftliche Sanktionen prüfen, falls die israelische Regierung in Gaza weiter auf Zerstörung setzt.
dokdoc: Herr Asselborn, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Die Fragen stellte Landry Charrier.
Der Autor

Jean Asselborn, geboren am 27. April 1949 in Steinfort, Luxemburg, war von 2004 bis 2023 Außenminister und stellvertretender Premierminister Luxemburgs und gilt als dienstältester Außenminister der EU. Er bleibt weiterhin als Redner und Kommentator zu internationalen und geopolitischen Themen aktiv. Von Michael Merten erschien im Melchers Verlag die Biographie „Jean Asselborn – Die Tour meines Lebens. Biographie“.
