Champagne:
Mehr als prickelnde Perlen im Glas

Champagne: Mehr als prickelnde Perlen im Glas
  • VeröffentlichtSeptember 29, 2025
Statue von Papst Urban II. in Châtillon-sur-Marne (Copyright: Hilke Maunder)
Statue von Papst Urban II. in Châtillon-sur-Marne (Copyright: Hilke Maunder)

Kreideklippen leuchten in der Morgensonne, goldene Getreidefelder wiegen im Wind, Kraniche ziehen über glitzernde Seen. Die Champagne ist mehr als Dom Pérignon und perlende Gläser für festliche Stunden: Die Region im Nordosten Frankreichs überrascht mit einer Vielfalt weit über den berühmten Schaumwein hinaus.

 

25.600 Quadratkilometer groß erstreckt sich die Champagne über die heutige Region Grand Est. Ein Gebiet so groß wie Brandenburg, geprägt von drei Gesichtern: der trockenen Champagne mit ihren weiten Kornfeldern, der feuchten Champagne mit waldreichen Erhebungen und den berühmten Weinbaugebieten an den sanften Hügeln. Nur 34.000 Hektar – gerade einmal ein Achtel der Gesamtfläche – sind mit Reben bestockt. Der Rest erzählt andere Geschichten.

 

Wasser wird zum König und Gold

Der Lac du Der-Chantecoq prägt als größter Stausee Frankreichs mit knapp 48 Quadratkilometern das Herz der südlichen Champagne. Was 1974 als technisches Bauwerk entstand, ist heute ein Naturparadies. 350 Millionen Kubikmeter Wasser regulieren den Marne-Pegel und schützen Paris vor Hochwasser. Im Sommer blähen sich die Segel auf dem Binnenmeer, es wird geplantscht und gebadet. Bei Sonnenuntergang zeigt der See sein zweites Gesicht: Reiher staksen durchs Schilf, Kraniche rasten auf ihrem Weg gen Süden, und mehr als 200 Vogelarten haben hier ihr Refugium gefunden. 77 Kilometer Uferlinie bieten Wassersportlern und Naturfreunden gleichermaßen Raum. Der Bocage, die charakteristische Heckenlandschaft der feuchten Champagne, rahmt das Gewässer mit üppigem Grün.

Wer durch die trockene Champagne fährt, erlebt ein anderes Spektakel. Hier erstreckt sich eines der größten Getreideanbaugebiete Frankreichs. Weizen, Gerste, Mais – die sanften Hügel tragen goldene Fracht bis zum Horizont. Was einst „die Unfruchtbare“ hieß, entwickelte sich im 20. Jahrhundert zu einem der produktivsten Landstriche des Landes. Die Böden machen den Unterschied: Kreide, Mergel und Kalkstein – Millionen Jahre alte Meeresablagerungen, die nicht nur den Champagner prägen. Diese poröse Unterlage speichert Wasser wie ein Schwamm und gibt es dosiert an die Pflanzen ab. Ein natürliches Bewässerungssystem, das Getreide und Reben gleichermaßen gedeihen lässt.

 

Königsstädte, Fachwerk und prickelnder Genuss

Über das Weinland der Champagne erhebt sich zwischen den Klippen der Montagne de Reims die alte Krönungsstadt Frankreichs. Unter der Kathedrale von Reims, wo 33 französische Könige gekrönt wurden, erstreckt sich 250 Kilometer lang das Labyrinth der Champagnerkeller. In der Rue de Mars drängen sich die Palais der großen Häuser: Mumm, Pommery, Taittinger. Champagner-Imperien, die ihre Schätze in kilometerlangen Kreidestollen hüten.

Die alte Hauptstadt der Champagne, Troyes, hat ihr Fachwerk-Erbe und die berühmten Buntglasfenster in einer Altstadt bewahrt, die aus der Luft betrachtet einem Champagnerkorken gleicht. In Château-Thierry, dem Geburtsort von Jean de La Fontaine am 8. Juli 1621, erinnert heute ein Museum im Geburtshaus an Frankreichs berühmtesten Fabeldichter.

 

Troyes, Blick auf die Kathedrale (Copyright: Hilke Maunder)
Troyes, Blick auf die Kathedrale (Copyright: Hilke Maunder)

 

Châlons-en-Champagne mit seinen Kanälen, die der Stadt den Beinamen „Venedig der Champagne“ einbrachten, und Épernay, wo die Avenue de Champagne in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag feiert. Unter der Flaniermeile vorbei an berühmten Häusern wie Mercier, wo eine Kleinbahn durch die Keller führt, lagern Millionen von Flaschen – und machen die Avenue de Champagne zur wertvollsten Straße der Welt, wie Einheimische gern behaupten.

 

Vier Terroirs, viele Nuancen

Montagne de Reims, Vallée de la Marne, Côte des Blancs, Côte des Bar – vier Namen, die Champagner-Kenner ehrfürchtig flüstern. Jedes Gebiet prägt seinen eigenen Stil. Die Montagne de Reims kultiviert hauptsächlich Pinot Noir auf kreideweißen Hängen. Die Vallée de la Marne setzt auf Pinot Meunier, die robuste Rebsorte, die auch in kühleren Jahren reift.

An der Côte des Blancs gedeiht ausschließlich Chardonnay – die Basis für die elegantesten Blancs de Blancs. Die Côte des Bar im Süden, geologisch bereits zu Burgund gehörend, bringt kraftvolle Pinot Noir hervor, die sich in Les Riceys oder Celles-sur-Ource probieren lassen. Das 500-Einwohner-Dorf zählt 42 Champagnerproduzenten – eine Quote, die in der Côte des Bar einmalig ist.

 

Marcel Vézien, ein Haus mit Tradition (Copyright: Hilke Maunder)
Marcel Vézien, ein Haus mit Tradition (Copyright: Hilke Maunder)

 

Einer von ihnen ist Marcel Vézien. 1956 gegründet, leitet heute die vierte Generation den Familienbetrieb. Das Champagnerhaus füllt seine Flaschen nach dem Dégorgieren mit dem Liqueur de dosage auf. Sechs Gramm Zucker hat der Champagner von Marcel Vézien. Ein Herr aus China wollte 35 Gramm Zucker pro Flasche. „Monsieur, wir machen echten Champagner“, antwortete Firmenchefin Marie-José Vézien Nura damals entsetzt – und ließ den Großauftrag sausen. Champagner verraten? Mais non!

 

Naturnischen im Rebenland

Anders als die riesigen wie weitläufigen Monokulturen der Winzer in vielen Teilen Rheinhessens gleicht die Champagne einem Puzzle verschiedener Landschaften. Die Weinberge sitzen meist auf sanft geneigten Hängen mit steilen Abschnitten zwischen 90 und 300 Metern Höhe. Getreidefelder und Siedlungen sind meist nur in den Tälern zu finden. Immer wieder sind dort auch Naturnischen zu finden: Wälder, Sümpfe und Schutzgebiete wie der Marais de Saint-Gond. Das Feuchtgebiet östlich von Épernay beherbergt seltene Orchideen und Amphibien. Was wie unberührte Natur wirkt, ist menschengemacht: Torfstecher legten im 19. Jahrhundert dieses Areal an. Heute steh es unter Naturschutz.

Im Parc Naturel Régional de la Montagne de Reims zwischen Reims und Épernay wechseln Weinberge mit Laubwäldern, und Wander-, Reit-und Radrouten durchziehen den 50.000 Hektar großen Naturpark. Und genau hier versteckt sich auch die Wiege des Champagners: Hautviller. In diesem malerischen Fachwerkdorf am Hang soll der Abt Dom Pérignon einst das Geheimnis des Champagners entdeckt haben. Sein Grab in der Abteikirche ist das ganze Jahr hindurch ein Pilgerziel, und nicht wenige lassen vor seiner Statue im Parc Pierre Cheval die Korken knallen für ein Selfie mit dem Champagner-Mönch.

 

Dom Perignon – ein Name, ein Kult unter Champagnerfans, Épernay (Copyright: Hilke Maunder)
Dom Perignon – ein Name, ein Kult unter Champagnerfans, Épernay (Copyright: Hilke Maunder)

 

Zwischen Argonnen und Ardennen

Die feuchte Champagne zeigt ihr wildes Gesicht in den Argonnen. Diese waldreichen Erhebungen im Osten bilden die Wasserscheide zwischen Rhein und Seine. Buchen und Eichen überziehen die Hügel, durchbrochen von Lichtungen, wo Hirsche äsen. Die Geschichte hat tiefe Narben hinterlassen: Schützengräben aus dem Ersten Weltkrieg, überwuchert von Moos und Farnen.

Weiter nördlich erheben sich die Ardennen, die die Champagne mit Belgien verbinden. Hier entspringen die Flüsse Aisne und Meuse, die das Land durchziehen wie silberne Adern. Kleine Dörfer schmiegen sich in die Täler, wo Forellenzucht und Holzwirtschaft bis heute den Rhythmus bestimmen.

Die Champagne kocht deftig. Potée champenoise, ein Eintopf mit Kohl und Wurst, wärmt an kühlen Herbsttagen. Boudin blanc de Rethel, eine weiße Blutwurst aus dem gleichnamigen Städtchen, ist eine regionale Spezialität aus dem Norden der Champagne. In der östlichen Champagne ist der Chaource daheim, ein Weichkäse mit cremigem Kern und weißem Schimmel – der kleinere, aber höhere Bruder des Camemberts. In den Wäldern wachsen Champignons und Trüffel. Die Flüsse liefern Forellen und Hechte. Lokale Märkte bieten Ratafia, einen süßen Aperitif aus Traubenmost und Cognac, sowie Marc de Champagne, einen kräftigen Trester-Brand.

 

Moderne Pilger auf alten Pfaden

Die Champagne lässt sich auf prickelnde, abenteuerliche oder romantische Weise erleben. 600 Kilometer markierte Wanderwege durchziehen die Region. Der Sentier du Champagne führt von Reims nach Épernay durch die berühmtesten Weinlagen. Radfahrer entdecken die jahrhundertealte Kulturlandschaft auf einem Netz grüner Korridore auf umgewandelten Gleisstrecken oder neu angelegter Radwege. Die Voie Verte des Grands Lacs Seine et Aube folgt 42 Kilometer lang den Ufern der Seen der Forêt d’Orient bei Troyes. Die Voie Verte de la Vallée de la Marne führt autofrei 45 Kilometer von Damery über Épernay bis Condé-sur-Marne. Zwischen Reims und Épernay lockt die Véloroute de la Marne entlang des Marne-Kanals.

Wassersportler freuen sich über Stand-Up-Paddeln, Segeln, Schnorcheln und Schwimmen in den vielen Stauseen. Im Winter verwandeln sich die Höhen der Ardennen in bescheidene Skigebiete, allen voran das kleine Signy-l’Abbaye.

 

Doppeltes Welterbe

2015 erklärte die UNESCO die Champagner-Landschaft zum Welterbe. Nicht nur die berühmten Kellereien, auch die traditionelle Kulturlandschaft mit ihren Weinberghäuschen, den Loges, und den historischen Pressbauten steht unter Schutz. Die Kathedrale von Reims, der Palais du Tau und die Basilika Saint-Remi bilden bereits seit 1991 ein UNESCO-Ensemble. Sie erzählen von der Zeit, als hier französische Könige gesalbt wurden – mit Öl aus der Heiligen Ampulle, die ein Engel gebracht haben soll.

 

Reims, die Kathedrale (Copyright: Hilke Maunder)
Reims, die Kathedrale (Copyright: Hilke Maunder)

 

Die Champagne verrät ihre Schätze nicht auf den ersten Blick. Wer nur die Autobahn durchfährt, sieht endlose Felder und denkt an Langeweile. Doch wer anhält, entdeckt eine Region voller Überraschungen: Dörfer, wo die Zeit stehen geblieben scheint. Wälder, die zum Verweilen einladen. Seen, die Großstadtflucht zum Erlebnis machen. Die Champagne: ein Landstrich, der auf den zweiten Blick überrascht. Mit und ohne Champagner im Glas.

 

Die Autorin

Hilke Maunder
Hilke Maunder (Copyright: Lara Maunder)

Hilke Maunder, 1961 in Hamburg geboren, kam nach ihrem Anglistikstudium und Volontariat 1989 als Redakteurin zu den Lübecker Nachrichten in Mecklenburg, ging als Korrespondentin nach China, Vietnam, in Baltikum und Australien und berichtet seit 2010 aus Frankreich. 2014 wurde sie für ihre Arbeit und ihren Blog „Mein Frankreich“ mit der Médaille de Tourisme ausgezeichnet, 2023 mit dem Gutedelpreis.

 

This site is registered on wpml.org as a development site. Switch to a production site key to remove this banner.